– 6 –
Die hoch stehende Mittagssonne stach mir schmerzhaft in die Augen.
Mit einer raschen Handbewegung zog ich meine Sonnenbrille aus der Seitentasche meiner Hose und schob sie mir auf die Nase. Ich blinzelte ein paarmal, bis sich meine Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten.
Ich warf einen kurzen Blick auf meine Armbanduhr. Wir hatten geraume Zeit im Bett verbracht – und ich hatte jede Sekunde davon genossen. Nur widerwillig hatte ich mich von Anna gelöst und war aus den völlig zerwühlten Bettdecken wieder aufgetaucht. Wir duschten zusammen, und erst als Anna das Wasser auf eiskalt stellte, ließ ich laut prustend von ihr ab. Auch wenn ich von der kalten Duscheinlage alles andere als begeistert war, begann ich folgsam, mich abzutrocknen. Schließlich hatten wir heute ja wirklich noch etwas vor.
Außerdem hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich Motte vernachlässigt hatte. Aber als ich mir das Duschhandtuch um die Hüften schlug und das Fenster öffnete, um auf die Terrasse hinauszuschauen, war ich beruhigt. Der Dicke lag friedlich an seinem neuen Lieblingsplatz unter den ausladenden Zweigen eines großen Sanddornstrauchs und ruhte sich immer noch von unserem frühmorgendlichen Strandspaziergang aus. Sein Schnarchen war bis zu unserem Fenster zu hören.
Als Anna und ich das Haus verließen, öffnete der Dicke ein Auge und musterte uns träge. Da es aber noch keine Abendbrotzeit für ihn war, klappte er das Auge wieder zu und setzte sein Schnarchkonzert fort. Ich kraulte ihm zum Abschied die Seite, was ihn zu einem tiefen, wohligen Brummen veranlasste.
»Glaubst du, dass dein Kumpel Bendix da ist?«, unterbrach Anna, die neben mir radelte, meine Gedanken.
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, aber ich denke doch. Er hat mir gesagt, dass ich ihn am Nachmittag auf dem Flugplatz erreichen kann.«
Falls ich Bendix nicht antreffen würde, wäre das aber kein Beinbruch. Morgen war auch noch ein Tag und in der Sache mit der Notlandung brannte nichts an. Falls er nicht da war, konnten wir uns in aller Ruhe den Flugplatz anschauen.
Mit einem Schlenker wichen wir einer entgegenkommenden Kutsche aus.
Der junge Kutscher, mit Bartflaum und blonden Locken, die unter seiner Schirmmütze hervorquollen, grüßte uns lässig im Vorbeifahren. Sein Gefährt war voll besetzt mit Urlaubern, die mit dem Inselflieger von Norddeich herüber nach Juist gekommen waren.
Die Gesichter der Urlauber wirkten entspannt und entschleunigt, als hätten sie mit Betreten der Insel ihre Uhren abgelegt. Mir ging es auch jedes Mal so, wenn die Fähre im Hafen anlegte und ich an Land ging. Der Inselzauber nahm mich sofort gefangen. Hier auf Töwerland verlief alles ruhig und entspannt. Der Lebensrhythmus schien sich in erster Linie nach der Natur, nach Wind und Wetter zu richten statt nach Zeitplänen und dem Sekundenzeiger der Uhr. Eine Rushhour suchte man hier auf Juist ebenso vergeblich wie grelle Neonreklamen oder bunte Plakatwände. Wahrscheinlich war dieses entschleunigte Zeitgefühl der Grund, weshalb die Insulaner ruhiger und gelassener als die Menschen auf dem Festland waren.
Ein kleines Mädchen, das auf der Seitenbank der Kutsche saß und über den Rand der Hecktür hinausspähte, winkte uns freundlich zu. Anna und ich winkten zurück.
»Wo geht’s da hin?«, rief Anna, kurz nachdem wir das Gebäude der Jugendbildungsstätte passiert hatten, und zeigte mit dem Arm nach links Richtung Dünen.
»Dort …«, entgegnete ich und bog in den schmalen Weg ein, der nach wenigen Metern so stark anstieg, dass ich absteigen musste, »… geht es zum schönsten Strand der Welt!«
»Kann es sein, dass du etwas übertreibst?«, spottete sie und stieg ebenfalls vom Rad.
»Wart’s ab«, erwiderte ich.
Voller Vorfreude, Anna den herrlichen Oststrand zeigen zu können, schob ich das Rad den steilen Weg hinauf. Links und rechts von uns erhoben sich erstaunlich hohe, mit Strandhafer bewachsene Dünen. Kurz bevor der Weg seinen höchsten Punkt erreichte, lehnte ich das Rad gegen einen ausgeblichenen waagerechten Holzbalken, der auf zwei in den Boden gerammten Pfählen befestigt war und sowohl als Parkplatz für Fahrräder als auch zum Anleinen von Pferden diente. Leicht außer Puste wandte ich mich Anna zu, die wenige Meter hinter mir ihr Rad den Weg hochschob.
»Ich wusste ja gar nicht, dass es hier Berge gibt«, schnaufte sie, ebenfalls leicht außer Atem, und ließ ihr Rad ins hüfthohe Strandgras fallen.
»Komm mit«, sagte ich und reichte ihr meine Hand. »Du wirst Augen machen.«
Hand in Hand gingen wir den schmalen Weg entlang, bis wir die Kuppe des Hügels erreicht hatten.
Unter uns breitete sich der atemberaubende Strand aus.
Völlig überwältigt blieb Anna stehen und starrte sprachlos auf den schneeweißen Sandstrand, der sich uns in seiner schier unendlichen Weite präsentierte.
»Oh, mein Gott …«, hauchte sie ehrfurchtsvoll. »Das nenne ich mal einen Strand.«
»Ja«, sagte ich ebenso andächtig. »Als Gott ihn erschuf, hatte er einen sehr guten Tag.«
Der Oststrand bestand aus feinem weißem Sand, der sich über hundert Meter Richtung Meer erstreckte. Links und rechts von uns schien er grenzenlos und unermesslich weit zu sein. Nichts, kein Gebäude, keine Mauer, kein Zaun – nichts, noch nicht einmal ein anderes menschliches Wesen, lenkte den Blick ab. Lediglich vom stetigen Wind zusammengewehte Sandverwerfungen, vereinzelte Gruppen von Strandhafer und die unvermeidlichen am Himmel über uns kreisenden Möwen waren zu sehen. Keine Menschenseele weit und breit.
Wie gesagt, ich liebte diese kleine Insel. Hier spürte ich die ursprüngliche Natur, nach der wir alle Sehnsucht haben: Wind, Wellen, Sonne und Strand. Was will man mehr?
»Was ist das denn?« Anna drückte plötzlich meine Hand.
Ich drehte den Kopf und sah sofort, was sie meinte.
»Was macht der denn hier?«, fragte ich verblüfft. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und schirmte, um besser in den Himmel schauen zu können, meine Augen mit der freien Hand gegen das grelle Sonnenlicht ab.
Erst in dem Moment, als ich zum strahlend blauen Himmel hochsah, hörte ich das Brummen des zweimotorigen Propellerflugzeugs, oder was immer das Ungetüm war. Der fliegende Kasten wirkte ungewöhnlich kompakt, soweit ich das beurteilen konnte; schließlich bin ich ja Laie, was Flugzeuge anbelangt. Die gedrungene Maschine, die mich an einen auf dem Rücken liegenden Kleiderschrank mit Flügeln erinnerte, hatte unter der auf ihrem Dach befindlichen Tragfläche zwei Propeller. Der ominöse Flieger war von vorne bis hinten mit wilden pinkfarbenen Graffiti versehen. Auf die Schnauze des ungewöhnlichen Flugzeugs hatte man einen knallroten Mund gemalt, zwischen dessen Lippen eine ebenso rote große Zunge hervorleckte und dabei eine Reihe schneeweißer Zähne entblößte.
»Was ist das denn für ein Ding?«, fragte Anna ungläubig. »Sicherlich keiner der Inselflieger.«
»Nee«, entgegnete ich gedehnt. »Das muss ein Spezialflugzeug für Fallschirmspringer sein.«
Das zu erkennen, war nicht allzu schwierig, denn aus dem Heck der Maschine, deren Klappe sich soeben geöffnet und eine dunkle Öffnung freigegeben hatte, sprangen einige Fallschirmspringer in kurzen Abständen nacheinander in die Tiefe. Wie auf einer imaginären Schnur aneinandergereiht schienen die Springer hinter der Maschine eine himmlische Kette zu bilden.
»Eins, zwei, drei, vier, fünf …«, zählte Anna halblaut die Fallschirmspringer, die nacheinander aus dem kunterbunten Ungetüm gesprungen waren. »Meine Güte, wie viele sind das denn?«
Ich hatte leise mitgezählt, aber meine Augen konnten die vielen Punkte nicht mehr auseinanderhalten, sodass ich es aufgab.
»Ist das schön!« Anna zog ihre Hand aus meiner und klatschte begeistert in die Hände.
Lautlos öffneten sich nacheinander die Fallschirme der Springer.
»Das ist ja unglaublich«, staunte Anna mit offenem Mund und klatschte noch immer in die Hände. »Was machen die denn hier?«
»Wahrscheinlich eine Sportveranstaltung oder ein Event«, vermutete ich. »Hat auf jeden Fall irgendwie mit dem Flugplatz zu tun.«
Mit dem ausgestreckten Arm wies ich in die Richtung der Fallschirme, bei denen es sich offensichtlich um Lenkschirme handelte, denn wiederum nacheinander steuerten die Springer ihre Fallschirme wie in Zeitlupe Richtung Flugplatz, wo sie hinter der großen Düne aus unserem Blickfeld verschwanden.
»Das ist schon toll«, sagte Anna versonnen. Sie beschattete ihre Augen mit der Hand und sah noch immer in den Himmel in der Hoffnung, noch einen letzten Blick auf die Fallschirmspringer zu erhaschen.
»Was ist toll?«, erwiderte ich ironisch. »Mit einem Stück Nylonstoff auf dem Rücken aus einem Flugzeug zu springen?«
Anna nickte schweigend. Obwohl die bunten Schirme längst verschwunden waren, starrte sie noch fasziniert in den Himmel.
Auch ich musste zugeben, dass die Fallschirmspringer ein prächtiges Spektakel geboten hatten. Jeder Fallschirm hatte eine andere Farbe gehabt: Rot, grün, gelb, blau und natürlich auch pink leuchteten sie am Himmel, der sich wolkenlos und azurblau als geradezu majestätischer Hintergrund für das farbenfrohe Event erwiesen hatte.
»Denk nicht mal dran«, sagte ich eindringlich.
»Woran?« Anna löste ihren Blick vom Himmel und warf mir einen amüsierten Blick zu. »Dass ich uns zu einem Fallschirmspringerkurs anmelden könnte?«
»Biest!«, knurrte ich und zog sie an mich.
»Das beste Mittel gegen Flugangst …«, kicherte Anna übermütig. »Einfach aussteigen und unten zu Fuß weitergehen.«
Seit dem abrupten Ende unseres gemütlichen Frühstücks auf der Baumann’schen Dachterrasse drehte sich offenbar alles nur noch ums Fliegen oder um die Angst, mit einem Flugzeug abzustürzen. Ich mochte im Moment nichts mehr davon hören und beendete das Thema mit einem Kuss, worauf sie es sofort vergaß und hingebungsvoll seufzend ihre Lippen spitzte, um meinen Kuss zu erwidern.
Erst nach einer ganzen Weile löste ich meine Lippen von ihrem Mund, um Luft zu holen. Annas Küsse raubten mir jedes Mal den Atem.
»Nicht aufhören«, raunte sie mit geschlossenen Augen und presste sich noch enger an mich.
»Nur für den Moment«, lachte ich leise. »Zum Luftholen und später vielleicht noch beim Essen. Auf unserem Zimmer kommst du nicht mehr dazu.«
»Versprochen?«, flüsterte sie.
»Versprochen!«, flüsterte ich und legte meinen Arm um ihre Taille.
Gemächlich schlenderten wir den Strand entlang Richtung Meer. Eine leichte Brise strich vom Meer über den Sand und die Sonne brannte auf meinem Gesicht.
Ich fühlte mich fantastisch … glücklich.
Am liebsten hätte ich den Moment für immer festgehalten. Nie mehr sollte sich etwas ändern, nie mehr wollte ich Anna hergeben. Und wenn ich richtig in ihren Augen las, ging es ihr genauso.
Verstohlen sah ich sie von der Seite an.
Erneut kam mir der Gedanke, der tief in mir ein wundervolles warmes Gefühl auslöste, mir aber gleichzeitig auch Angst machte. Aber je öfter ich den Wunsch, Anna nicht mehr herzugeben, von allen Seiten beäugte und überdachte, umso weniger Angst machte er mir.
Wieso hast du solchen Schiss, de Fries? , fragte ich mich aufs Neue.
Worauf wartete ich denn eigentlich? Und wonach suchte ich noch immer? War es Traute, die ich vielleicht nicht völlig vergessen hatte? Quatsch, das Thema war durch! Oder war es einfach die irrationale Angst eines Mannes, der sich vor ein paar Jahren hatte scheiden lassen, weil seine Ehe unspektakulär gestorben war, ohne dass einer von beiden dies bemerkte?
Ich wusste es nicht. Vielleicht war es eine Mischung aus allem, die mir diese unterschwellige Angst vor einer neuerlichen festen Bindung bereitete. Mir war schon klar, dass ich mich nicht unendlich lange drücken konnte vor der Antwort auf die Frage, wie es mit Anna und mir weitergehen würde.
Du willst es doch selber , flüsterte eine leise Stimme in mir. Du willst nicht länger alleine sein. Du willst abends mit der Frau einschlafen, die dir viel bedeutet, um morgens mit ihr aufzuwachen – vielleicht schaffst du es auch irgendwann, dir einzugestehen, dass du sie liebst. Was überlegst du denn noch?
Wieder warf ich Anna verstohlen einen Blick zu.
Sie bemerkte, dass ich sie ansah, und erwiderte meinen Blick mit einem glücklichen Lächeln.
Ich konnte nicht anders, als sie erneut zu küssen.
»Was ist denn nur mit dir los?« Mit halb geschlossenen Augenlidern blinzelte Anna mich an, als sich unsere Lippen voneinander lösten. »Du bist heute so anhänglich.«
»Ich …«, begann ich zögernd, brach aber gleich wieder ab, weil ich vor dem, was ich sagen wollte, Angst hatte.
Es war für mich eine große Hürde gewesen. Aber in den letzten Wochen und Monaten war ich mir über meine Gefühle klar geworden. Ich wollte Anna fragen, ob sie mich heiraten wollte. Nur fehlte mir zu dieser entscheidenden Frage noch der Mut.
»Also, was ich …«, suchte ich umständlich nach den richtigen Worten. »Ich meine … du …«
Anna schien die Worte, nach denen ich suchte, in meinen Augen lesen zu können. Sanft strich sie mir mit dem Zeigefinger über meine Lippen.
»Lass dir Zeit«, lächelte sie liebevoll. »Ich kann warten, bis du so weit bist und mir sagen kannst, was du mir sagen möchtest.«
Dankbar sah ich sie an.
Wir verstanden uns ohne Worte. Annas Einfühlungsvermögen, meine unausgesprochenen Gefühle zu verstehen, bestätigten mich einmal mehr in meinem Gefühl, dass sie die richtige Frau für mich war. Die Frau, nach der ich mich sehnte.
Ich hatte das Gefühl, endlich angekommen zu sein.
»Komm!« Anna griff nach meiner Hand, ausgelassen lief sie rückwärts und zog mich mit sich. »Ab ins Wasser!«
Wir machten einen Bogen um ein paar große Seewasserpfützen, die das ablaufende Meer hinterlassen hatte, und hielten unsere Nasen in den kräftigen Wind. Am Wasser angekommen, schlüpften wir aus unseren Schuhen und hängten sie uns um den Hals, nachdem wir die Schnürsenkel miteinander verknüpft hatten. Leichtfüßig lief Anna, die ebenso wie ich Shorts trug, ins Wasser.
»Brrr!« Erschrocken schnappte sie nach Luft, als eine große Welle ihre Waden umspülte. »Ganz schön kalt.«
Die erste Welle, die mich so begeistert begrüßte, dass sie mich fast von den Beinen riss, ließ mich ebenfalls tief Luft holen. Das Wasser war ziemlich kalt. Erst nach ein paar Minuten, in denen ich wie ein Storch vorsichtig durch die Wellen stakste, hatte ich mich an die Temperatur gewöhnt.
»Ist das nicht herrlich?« Anna umschlang mich von hinten mit ihren Armen und legte ihren Kopf auf meine Schulter.
»Wunderschön«, bestätigte ich und ließ meinen Blick über die Wellen schweifen, auf denen weiße Schaumkronen tanzten und die sich wenige Meter vor uns auftürmten, um dann voller Kraft auf den Strand aufzulaufen.
Am Horizont sah ich ein großes Containerschiff seine Bahn ziehen. Das ablaufende Wasser ließ unzählige Miesmuscheln, Herzmuscheln und stäbchenförmige amerikanische Scheidenmuscheln ebenso wie Seesterne, Strandkrabben und Taschenkrebse stranden: eine fette Beute für die arrogant herumstolzierenden Silbermöwen und die aufgeregt umherflatternden Lachmöwen.
»Mein Gott, kann es uns gut gehen«, sagte Anna glücklich. »So kann es bleiben«, fügte sie lachend hinzu.
»Schau mal!«, rief ich nach einer ganzen Weile mit nach oben gerecktem Arm, als ich das Motorengeräusch über uns hörte. »Da kommt das Ding wieder.«
Mit immer lauterem Brummen näherte sich erneut das kleiderschrankförmige Propellerflugzeug mit den grell im Sonnenlicht leuchtenden pinkfarbenen Graffiti. Vorher schon hatten wir in der Ferne das Flugzeug starten sehen und vermutet, dass es einen zweiten Gruppenabsprung der Fallschirmspringer geben würde. Und richtig. Als die Maschine über unsere Köpfe hinwegflog, sah ich die ersten in bunte Monturen gehüllten Fallschirmspringer aus dem Flugzeug springen. Trotz der Entfernung konnte man von hier unten beobachten, dass einige sich rückwärts in die Tiefe fallen ließen.
Mir wurde alleine schon von der Vorstellung, in dieser Höhe an der offenen Tür eines Flugzeugs zu stehen, flau im Magen. Dennoch konnte ich eine gewisse Faszination nicht leugnen.
Zwischen den einzelnen Springern blieben ausreichend große Sicherheitsabstände, sodass niemand seinen Nachbarn ins Gehege kam. Hatten die Fallschirmspringer das pinkfarbene Etwas verlassen und befanden sich in der Luft, breiteten sie Arme und Beine aus, um sich zu stabilisieren. Wenig später öffneten sie dann nacheinander die Fallschirme und zauberten eine faszinierende Farbenvielfalt an den Himmel, um wie vorher nach einer Phase des langsamen Herabschwebens ab einer gewissen Höhe Kurs auf die große Düne zu nehmen, hinter der sich der Flugplatz befand.
Als mein Blick den entschwindenden Fallschirmen folgte, sah ich aus dem Augenwinkel eine wohlvertraute Gestalt am Strand sitzen. Motte. Mein dicker Hund, der es sich vorher unter einem der Terrassentische der Pension Bismarck-Blick gemütlich gemacht und nun vermutlich ausgeschlafen hatte und uns hinterhergetrottet war, weil er sich langweilte.
»Hey, Dicker!«, rief ich ihm zu. »Ausgeschlafen?«
Wie um meine Frage zu beantworten, erhob sich Motte hoheitsvoll. Weniger würdevoll klappte er seine Kiefer auseinander und gähnte herzhaft. Nachdem er das ausgiebig getan hatte, schüttelte er wild den Kopf, sodass ich seine Ohren bis zu mir herüber schlackern hörte.
»Gleich legt er los«, prophezeite ich, da ich den Dicken und seine Anwandlungen zur Genüge kannte.
Wie vorhergesagt, sprang Motte auch tatsächlich binnen einer Sekunde auf die Beine. Für seine Verhältnisse drehte er sich blitzschnell zweimal um die eigene Achse, bis er sein erstes Jagdobjekt ausgemacht hatte: eine Silbermöwe, die träge in Kopfhöhe den Strand entlangschwebte.
Motte spurtete so schnell los, dass der Sand von seinen Pfoten hochspritzte. Dumpf bellend lief er dem dahinsegelnden Vogel hinterher, in den plötzlich laut kreischendes Leben kam.
»Ich staune.« Anna schüttelte belustigt den Kopf. »Ich wundere mich jedes Mal aufs Neue, dass Motte, den man die meiste Zeit vor dem Kühlschrank liegen sieht, sich so schnell bewegen kann.«
Die Möwe wäre keine Möwe gewesen, wenn sie den heranstürmenden Berner Sennenhund nicht bemerkt hätte. Noch bevor Motte überhaupt in relevante Nähe zu ihr kam, hatte sie mit ein paar gelangweilten Flügelschlägen ihre Sicherheitszone erreicht, in der ihr weder Hund noch Mensch etwas anzutun vermochte. Es sei denn, dass jemand mit einer Flinte es auf sie abgesehen gehabt hätte, was an diesem herrlichen Tag nicht der Fall war. Wer sollte auch schon mit einer Flinte herumlaufen und auf Möwen schießen?
Kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, verwandelte sich der Vogel mit einem schrillen Kreischen in ein silbrigweißes Federbündel, um wie ein Stein auf den Strand zu stürzen. Schlagartig war es totenstill.
Motte machte ein nicht weniger begriffsstutziges Gesicht als wir, als die Möwe wie ein aufgeplatztes Kopfkissen wenige Meter vor ihm in den Sand fiel. Denn normalerweise lief das Motte-Möwen-Spiel anders: Der Dicke peilte eine Möwe an, stürmte voller Jagdeifer auf das gefiederte Objekt seiner Begierde zu, um dann laut bellend dem Federvieh hinterherzuschauen, wie es sich mit ein paar Flügelschlägen in die Höhe schraubte, um ihn aus sicherer Entfernung kreischend auszulachen. Falls der Dicke jemals eine Möwe erwischen sollte, musste sie schon jemand vom Himmel schießen – wie es gerade ein ominöser Jäger getan hatte.
Motte traute dem Braten ebenso wenig wie ich. Bedächtig trabte er zu dem Federhaufen und schnüffelte mit der Disziplin eines Vorstehhundes an dem offenbar toten Vogel, ohne ihn zu berühren. Dann setzte er sich neben den Leichnam und sah ratlos zu uns herüber.
»Was war das denn?« Anna schaute erschrocken in Mottes Richtung.
»Keine Ahnung, wer hier auf Möwen schießt«, entgegnete ich und suchte mit den Augen den Strand ab. »Wobei … einen Schuss habe ich gar nicht gehört.«
»Ich auch nicht.« Anna griff nach meiner Hand. »Lass uns mal nachsehen.«
Gemeinsam stapften wir durchs seichte Wasser zu der Stelle, wo Motte neben der abgestürzten Möwe im Sand saß und uns erwartungsvoll entgegensah.
Ich wuschelte dem Dicken zur Begrüßung mit beiden Händen durchs Fell, was er mit einem zufriedenen Brummen kommentierte. Als ich mich der toten Möwe zuwandte, schnalzte ich automatisch mit der Zunge, als ich den gelben Pfeil mit der gelb-schwarzen Befiederung am Schaftende sah. Der Pfeil war ebenso gelb wie das Flugzeug, mit dem Bendix am Deich notgelandet war.
Die Möwe hatte keine Chance gehabt. Der Pfeil hatte das arme Tier der Länge nach durchbohrt, die Pfeilspitze war unterm Auge eingedrungen und an den Schwanzfedern wieder ausgetreten.
Erneut ließ ich meinen Blick die Dünen entlanggleiten, bevor ich mich bückte und mit spitzen Fingern nach dem gefiederten Schaft griff, um den Vogel etwas anzuheben, wobei mich die Farbe des Pfeils frappant an Bendix’ hornissengelbe Maschine erinnerte. Motte reckte seinen Hals und schnüffelte an dem traurig daliegenden schlaffen Flügel. So nah war er einer Möwe noch nie gekommen.
»Wie praktisch«, stellte Anna trocken fest. »Möwe am Spieß. Die kannst du gleich so übers Feuer halten.«
»Karbon«, sagte ich, ohne auf Annas sarkastische Bemerkung einzugehen, und betrachtete den Pfeil prüfend in der Hand. »Der Schütze verfügt über ein gutes Equipment.«
»Und er kann ausgezeichnet schießen«, ergänzte Anna meine Einschätzung.
»Armes Vieh«, sagte ich und stellte meinen Fuß auf den toten Körper, um mit einer kurzen Handbewegung den Pfeil aus dem Tier zu ziehen.
Aufmerksam sah ich mir den blutverschmierten Pfeil an, konnte aber nichts Besonderes an dem Ding entdecken. Was auch? Einen Zettel mit dem Namen des Schützen vielleicht?
Ich ließ meinen Rucksack von der Schulter rutschen und schob die versteckte Champagnerflasche mitsamt den Kühlakkus, die ich mit einem Klebestreifen an der Flasche befestigt hatte, zur Seite, um ein Stück von dem Küchenpapier abzureißen, in das ich die dazu gehörigen Champagnergläser gewickelt hatte, denn schließlich lauerte ich auf den geeigneten Moment, um Anna die Frage aller Fragen zu stellen.
Momentan war jedoch eindeutig nicht der passende Zeitpunkt für einen Heiratsantrag.
Vorsichtig schlug ich den blutigen Pfeil in das Küchenpapier ein, um etwaige Spuren nicht zu verwischen. Ich hatte zwar keine Ahnung, wozu das gut sein sollte, dachte mir aber, dass es auch nicht schaden konnte. Das eingewickelte Möwenmordinstrument verstaute ich im Rucksack, den ich mir geübt über die Schulter warf, bevor ich mit spitzen Fingern nach einem Bein der toten Möwe griff. Ich ging ein paar Schritte zur nächsten Düne, wo ich den Vogel in eine Senke legte und mit dem Fuß Sand über den kleinen Körper schob.
»Wer macht denn so was?«, fragte Anna angewidert, als ich zu ihr zurückkehrte. »Hätte der schlechter gezielt, hätte einer von uns das Ding im Kopf haben können.«
»Das ist die Frage«, murmelte ich und schirmte mit der flachen Hand meine Augen ab, um besser in den Himmel sehen zu können.
»Erkennst du was?«, wollte Anna wissen und spähte ebenfalls angestrengt in die Richtung, in die ich starrte.
»Weiß nicht«, antwortete ich und ließ meinen Blick über die große Düne streifen, hinter der sich der Flugplatz befand. »Ich dachte, ich hätte etwas gesehen.«
Ich hatte ein ganz schlechtes Gefühl bei dem Gedanken, dass sich ein unsichtbarer Schütze in den Dünen herumtreiben könnte. Mit einem Schlag war das unbekümmerte Urlaubsglück wie fortgespült.
Hat es jemand auf uns abgesehen oder sollte die tote Möwe eine Warnung sein? , ging es mir durch den Kopf.
»Meinst du, der Pfeil galt uns?« Besorgt sah Anna mich an. »Vielleicht wollte der Schütze Motte treffen und hat ihn verfehlt?«
»Passt vom Winkel her nicht.« Ich schüttelte den Kopf, ohne meinen Blick von den Dünen zu nehmen, die ich mit den Augen angestrengt absuchte. »Der Pfeil kam offenbar von den Dünen dort und Motte hier entlang.« Ich beschrieb mit dem Arm einen Halbkreis von den Dünen bis zur Stelle, wo die Möwe abgestürzt war.
Annas Frage überraschte mich nicht. Ich hatte den gleichen Gedanken gehabt.
Vor ein paar Stunden noch hatte mich Manfred Bendix um Hilfe gebeten, da er seine spektakuläre Notlandung für das Resultat eines Mordanschlags auf ihn hielt. Viele Leute hatten uns miteinander reden sehen, und ich hatte mich dem Dorfsheriff als Manfreds Anwalt vorgestellt.
Und jetzt schoss hier am menschenleeren Strand ein unsichtbarer Schütze vor unseren Augen eine Möwe ab.
Zufall?
Ich glaube nicht an Zufälle!
»Dann hat er vielleicht uns verfehlt.« Anna zog ihre Schultern hoch und sah sich angespannt um, während sie aussprach, was ich gerade dachte.
»Wir sollten uns jetzt nicht verrückt machen«, riet ich.
»Aber aufpassen schadet auch nicht«, erwiderte sie und griff nach meiner Hand. »Komm, lass uns losgehen.«
»Ganz genau«, nickte ich grimmig. »Aber ich glaube trotzdem eher an einen Dummejungenstreich als an einen Zusammenhang mit dem, was heute Morgen geschehen ist. Trotzdem nehmen wir den Pfeil mit. Ich werde ihn bei Gelegenheit dem Dorfsheriff geben. Soll der sich drum kümmern und mal ein Auge auf die Sportschützen auf der Insel haben. Aber jetzt lass uns mal schauen, ob wir Manfred antreffen.«
Hand in Hand stapften Anna und ich los.
Während wir durch den feinen Sand Richtung Fahrräder gingen, hingen wir unseren Gedanken nach. Selbst Motte, der mit ein paar Metern Abstand hinter uns her trottete, machte einen nachdenklichen Eindruck. Wahrscheinlich musste er erst einmal damit klarkommen, dass ihm eine leibhaftige Möwe vor die Pfoten gefallen war.