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Der Juister Flugplatz ist mit seiner siebenhundert Meter langen Landebahn recht klein und wird in erster Linie von Privatpiloten angeflogen. Die Fluggesellschaft FLN, ein Tochterunternehmen der Reederei Frisia, fliegt den kleinen Verkehrslandeplatz in festen Abflugzeiten von Norddeich her mit ihren Inselfliegern an. Die blau-weißen zweimotorigen Britten-Norman-Islander-Maschinen der Airline sind technisch ausgereift und zuverlässig, die Piloten sehr erfahren und im Umgang mit den typischen Seewinden, die je nach Wetterlage sehr raubeinig daherkommen können, bestens vertraut. Bendix war jahrelang einer von ihnen gewesen, und es interessierte mich sehr, wieso er seinen Pilotensitz gegen den Chefsessel eines Geschäftsführers eingetauscht hatte.
Wir stellten unsere Räder auf dem Fahrradparkplatz vor dem Flugplatzrestaurant ab, in dem reger Betrieb herrschte. Über uns setzte gerade eine Privatmaschine zur Landung an, während sich von Süden her bereits ein weiteres Flugzeug im Landeanflug befand.
»Ganz schön was los hier«, fand Anna. »Mit so vielen Leuten hätte ich gar nicht gerechnet.«
»Das hier ist vermutlich der Grund.« Ich wies auf ein hellblaues Banner, das am Flugplatzzaun angebracht war
und auf dem mit gelben und roten Lettern die diesjährige Fallschirmspringerwoche mit dem treffenden Namen PINK BOOGIE angepriesen wurde, der sich wahrscheinlich von dem pinkfarbenen fliegenden Kleiderschrank ableitete.
»Guck mal«, lachte Anna amüsiert und zeigte auf einen Aufsteller am Treppenaufgang zum Flugplatzrestaurant. »Sag ich doch – Tandemsprünge!«
»Niemals!«, winkte ich mit gequältem Gesichtsausdruck ab.
»Sag niemals nie.« Anna hakte sich, noch immer lachend, bei mir unter. »Wollen wir im Restaurant noch einen Kaffee trinken, bevor ich uns anmelde?«
»Untersteh dich«, knurrte ich und presste sie fest an mich, während wir die Stufen zum Restaurant hochstiegen.
Das strahlende Wetter lud zum Draußensitzen ein, weshalb auch alle Tische auf der Terrasse belegt waren. Wir gingen an einem Tisch vorbei, an dem ein älteres Paar mit geschlossenen Augen saß und seine mit Sonnencreme eingeschmierten Gesichter der Sonne entgegenhielt. Die beiden hatten die Creme so dick aufgetragen, dass sie aussahen, als wären sie samt ihren Gesichtspackungen einer Schönheitsfarm entlaufen. Am Nebentisch reckte eine Gruppe ausgelassener Fallschirmspringer, die man unschwer an ihren bunten Monturen erkennen konnte, ihre Biergläser in die Luft und gab lautstark einen Trinkspruch in dänischer Sprache zum Besten. Ich konnte ihre Begeisterung verstehen, denn wer ohne Not nur mit einem Stück Nylonstoff auf dem Rücken aus einem fliegenden Flugzeug sprang, hatte jeden Grund der Welt, ausgelassen zu feiern, wenn er dieses irrsinnige Unterfangen lebend überstand.
»Hier.« Anna zog an meinem Arm und dirigierte mich zu einem kleinen Zweiertisch, der gerade frei wurde.
Das Paar, das sich vom Tisch erhob, drehte uns den Rücken zu. Ihren gelben Overalls nach handelte es sich ebenfalls um Fallschirmspringer. Die Frau hatte schulterlange brünette
Haare, und der Mann, der sich gerade umwandte, sodass ich ihn im Halbprofil sehen konnte, trug einen dieser Hipsterbärte, die auch dem drögsten Nerd zu einem Bad-Boy-Image verhelfen sollten. Früher schulterte ein Mann mit Vollbart eine Axt und ging in den Wald, um Bäume zu fällen oder einen Grizzly zu jagen. Heute macht ein Mann mit Bart sich eher Gedanken, welche Pflegelotion seinem Haar guttut und ob der Latte macchiato laktosefrei ist.
Okay
, lachte ich lautlos in mich hinein.
Gott erhalte mir meine Vorurteile
. Aber das kommt davon, wenn man zu lange in Berlin gelebt hat und viele der Klienten, die einen in der Kanzlei aufsuchten, aus Kreuzberg oder Friedrichshain stammten.
Vielleicht tat ich dem Typen ja unrecht, und er war authentisch, jedenfalls sah er gut aus, und ich musste zugeben, dass ihm der dunkle Bart und die halblangen Haare gar nicht so schlecht standen.
»Da haben wir aber Glück, dass Sie gerade aufbrechen«, sagte Anna freundlich zu dem Paar. »Alle anderen Tische auf der Terrasse sind besetzt.«
»Wir haben extra auf Sie gewartet«, scherzte die Begleiterin des bärtigen Fallschirmspringers und warf ihre schulterlangen Haare in den Nacken.
Ich erstarrte.
Nicht nur die Stimme der Frau hätte ich unter Tausenden erkannt, auch ihre langen brünetten Haare waren mir wohlvertraut.
»Na, denn viel Spaß«, sagte die Brünette freundlich zu Anna und wandte sich um, wo sie mit mir zusammenprallte. »Oh, sorry …«
Einen Sekundenbruchteil schauten wir uns erschrocken an.
Dann weiteten sich ihre Augen vor Überraschung, als sie mich erkannte.
»Hallo, Traute«, sagte ich mit spröder Stimme.
»Jan?«
Ich nickte. »Ostfriesland ist ein Dorf.«
»Das magst du wohl sagen«, antwortete Traute und sah mich unverwandt an.
»Wie geht’s dir?«, fragte ich, weil mir nichts Intelligenteres einfiel.
»Gut«, erwiderte Traute ebenso wenig originell und rührte sich ebenso wenig wie ich von der Stelle.
Noch immer sahen wir uns an. Noch immer standen wir uns dicht gegenüber. Noch immer rührten wir uns nicht vom Fleck,
»Ich will nicht drängeln«, ließ sich Trautes bärtiger Begleiter vernehmen. »Aber wir müssen zum Flieger, Schatz.«
Schatz? Hatte der Typ gerade Schatz zu Traute gesagt?
»Oh«, meldete sich Anna zu Wort und schob sich dicht an mich. »Man kennt sich?«
Traute und ich starrten uns noch immer unverwandt an. Beide machten wir keine Anstalten, uns zu bewegen.
»Schatz«, wiederholte der Bärtige, offenbar nicht nur, um Traute auf sich aufmerksam zu machen, sondern auch, um seinen Beziehungsstatus zu Traute zu verdeutlichen. »Wir müssen los.«
»Willst du uns nicht vorstellen?« Annas Stimme klang kühler als für gewöhnlich, was ich ihr nicht verdenken konnte.
Gerade noch hatten wir uns leidenschaftlich am Strand geküsst, waren Hand in Hand zum Restaurant hochgeschlendert, und aus heiterem Himmel starre ich meine Ehemalige an wie die Schlange das Kaninchen. Anna hatte allen Grund, kühl zu reagieren.
»Das ist Traute«, sagte ich, ohne den Blickkontakt zu lösen. »Frau Doktor Traute Lenzen. Leitende Oberstaatsanwältin des Landgerichts Aurich.«
Traute schüttelte angesichts meiner förmlichen Vorstellung verlegen den Kopf. »Einfach nur Traute«, sagte sie und streckte Anna ihre schlanke Hand entgegen, während sie ihren Blick von meinen Augen löste, um Anna zu begrüßen.
»Und das ist Anna, meine …«, zögerte ich einen Moment zu lang, weil mir auf der Zunge lag, Anna als meine Zukünftige vorzustellen, was ich mir aber dann doch verkniff, denn natürlich wollte ich Anna erst die Frage stellen, die ich mich am Strand nicht zu stellen getraut hatte.
Denn bevor ich Anna stattdessen als
die Frau an meiner Seite
bekannt machen konnte, fiel mir Trautes Begleiter ins Wort.
»Milan«, nannte er knapp seinen Vornamen, verzichtete aber darauf, Anna oder mir zur Begrüßung seine Hand entgegenzustrecken. »Sorry, aber wir sind in Eile. Unser Flieger wartet schon auf uns.«
»Flieger?«, entgegnete ich trocken. »Habt ihr die Fähre verpasst?«
Milan sah mich kühl an. Er schien keinen Sinn für Humor zu haben.
Traute hingegen lachte über meine Bemerkung. »Im Moment würde ich auch lieber aufs Wasser als in die Luft gehen.«
»Dann solltest du besser deinen Fallschirm gegen eine Schwimmweste eintauschen«, empfahl ich und deutete auf Trautes Fallschirmspringermontur, in der sie eine sehr gute Figur machte.
»Wir haben vorhin am Strand eine Menge Fallschirmspringer gesehen«, sagte Anna und deutete ebenfalls auf Trautes Outfit. »Sind Sie eine von denen?«
»Nein, nein.« Traute schüttelte den Kopf. »Das waren die Skydiver, so weit bin ich noch lange nicht. Ich mache heute meinen ersten freien Sprung.«
»Freier Sprung?«, fragte ich hellhörig und ertappte mich dabei, dass ich Traute unverhohlen anstarrte. Abrupt beendete ich meine Musterung und konzentrierte mich auf das, was sie sagte. »Was heißt das?«
»Ich mache heute meinen Lizenzsprung«, antwortete Traute. »Meinen Prüfungssprung, zum ersten Mal ohne automatisches Öffnungsgerät. Ganz alleine.«
Offenbar gab ich ein unartikuliertes Geräusch von mir, als ich erschrocken nach Luft schnappte, sodass Milan mir einen besorgten Seitenblick zuwarf und sich bemüßigt sah, mir Laien mit betonter Sachlichkeit zu versichern, dass nicht der geringste Grund zur Sorge bestehe. Traute sei nicht nur eine sehr umsichtige und rationale Fallschirmspringerin, sondern habe auch eine konventionelle Fallschirmausbildung absolviert.
»Aber nicht nur umsichtig, sie ist auch sehr ehrgeizig und diszipliniert«, erklärte Milan, während er Traute stolz anstrahlte. »Vorgeschrieben sind dreiundzwanzig Sprünge, bevor man seinen Prüfungssprung ablegen kann. Mein Schatz hat mehr als die doppelte Menge Schulsprünge absolviert, fast fünfzig.«
»Wieso das denn?«, fragte ich freundlich, aber ohne großes Interesse, weil es für mich keinen Unterschied machte, mit wie vielen Anläufen man in den Tod sprang. Jeder Sprung war einer zu viel.
»Traute ist halt eine Perfektionistin.« Der vollbärtige Begleiter legte demonstrativ seinen Arm um ihre Schulter.
»Auch«, räumte Traute ein und sah mich mit einem vielsagenden Seitenblick an. »Ich bin ein Kontrollfreak. Aber manchmal gebe ich sehr gern die Kontrolle ab.«
Ihre spezielle Art, Kontrolle abzugeben, hatte sie mir seinerzeit erklärt. Allerdings erst, nachdem ich sie im Rahmen meiner Recherchen zufällig auf einem ominösen Ball nackt und gefesselt getroffen hatte. Danach war unsere Beziehung Geschichte.
Da ich nicht vorhatte, auf Trautes Anspielung einzugehen, beschränkte ich mich auf ein schmallippiges Lächeln. Das Schweigen, welches Trautes Anmerkung folgte, hatte etwas Sperriges an sich, und ich sah mich genötigt, es zu überbrücken.
»Na denn«, sagte ich betont locker. »Dann wünsche ich dir … was wünscht man denn eigentlich einem Fallschirmspringer? Doch wohl nicht Hals- und Beinbruch?« Ich lachte kurz und humorlos.
»Glückab«, beantwortete Milan meine Frage ebenso ernst.
»Hört sich aber nicht sehr optimistisch an, im Ruhrpott sagt man Glückauf«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen.
»Wir sagen auch ›Blue skies and safe landings‹.« Traute zuckte wie zur Entschuldigung über diesen blumigen Gruß mit den Schultern.
Wieder herrschte einen Moment lang Schweigen.
Was soll man auch darauf erwidern?
, dachte ich.
»Wir müssen dann auch langsam.« Trautes bärtiger Begleiter deutete ungeduldig Richtung Flugplatz.
»Sofort«, nickte Traute. »Ich muss nur Leif sagen, dass er hier auf uns warten soll.«
»Na klar«, erwiderte Milan und sah sich suchend um. »Wo ist er denn.«
Wie aufs Stichwort kam aus dem Haupteingang des Flugplatzrestaurants ein schätzungsweise zehnjähriger Junge hervor und steuerte zielstrebig auf Traute und ihren Fallschirmsprunglehrer zu. In einer Hand trug er eine kleine Flasche Bitter Lemon, in der anderen ein Glas mit Eis.
»Da bist du ja, Leif«, begrüßte Traute den Jungen, dessen blondes Haar so sauber gescheitelt war, als käme er von einer Chorprobe der Wiener Sängerknaben. »Wir müssen jetzt los, du weißt ja Bescheid.«
»Aber natürlich«, erwiderte der Junge mit einer für sein Alter ungewöhnlichen Höflichkeit. »Ich wünsche euch einen
guten Flug und …«, ein verschmitztes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, »… eine noch bessere Landung.«
»Danke, Leif«, bedankte sich Traute schmunzelnd. »Und du wartest wie besprochen …« Ihr Blick fiel auf mich. »Du, sag mal, Jan, könnte Leif sich euch nicht anschließen?«
Verdutzt sah ich Traute an.
»Rita, also Leifs Mutter, liegt im Krankenhaus«, erklärte Traute. »Sie wurde heute Morgen unerwartet ans Festland in die Klinik gebracht.«
»Ich weiß«, nickte ich.
Überrascht sah Traute mich an.
»Wir waren heute Morgen am Hafen, als …«, erklärte ich mit einem Seitenblick auf den Jungen, der uns zuhörte. »Und da haben wir Rita kennengelernt.«
»Philipp, also Leifs Vater meine ich, springt mit uns mit. Er gehört zum Team.«
»Äh …«, machte ich, denn eigentlich hatte ich nur mit Manfred sprechen wollen, um dann den Nachmittag in einen gemütlichen Abend gemeinsam mit Anna auf der Terrasse unseres Zimmers übergehen zu lassen, von der aus man fantastisch den Sonnenuntergang beobachten konnte. Auch wenn ich den Sonenuntergang mit Anna eigentlich anders geplant hatte, war dies kein Problem. Die Kühlakkus würden die Champagnerflasche lange genug kalt halten, sodass ich Anna auch später noch die große Frage stellen konnte, die mir so sehr am Herzen lag.
»Aber klar«, antwortete Anna an meiner Stelle so selbstverständlich, dass ich nur noch mindestens genauso selbstverständlich nicken konnte.
»Oh, sorry. Ihr kennt euch ja noch nicht.« Traute deutete zuerst auf den Jungen, dann auf Anna und mich. »Das ist Leif. Und das ist Jan, ein alter Freund von mir, und das ist Anna.« Traute warf Anna einen beiläufigen Blick zu, als sei sie nur eine
Statistin, deren Namen man sich nicht zu merken braucht. »Anna war doch richtig, nicht?«
»Richtig, Frau Doktor«, erwiderte Anna betont förmlich und setzte ein frostiges Lächeln auf.
Oha!
, dachte ich.
»Nur Traute, ohne …« Ihren Fauxpas bemerkte Traute im selben Moment, als sie Annas Gesichtsausdruck bemerkte. »Oh, Entschuldigung … ich …«
Noch bevor Traute sich peinlich berührt entschuldigen konnte, trat der blonde Junge auf Anna und mich zu. Mit der förmlichen Höflichkeit eines diplomatischen Abgesandten streckte er zuerst Anna und dann mir die Hand zur Begrüßung hin.
»Leif«, stellte er sich mit höflichem Kopfnicken vor.
Das Auftreten des blonden Jungen brach zwar nicht das Blitzeis, das sich gerade zwischen den beiden Frauen gebildet hatte, rettete aber die Situation und ließ Annas Gesichtszüge wieder weicher werden. Amüsiert ergriff sie die dargebotene Hand des Jungen und schüttelte sie voller Ernst.
»Anna«, sagte sie. »Ich heiße Anna.«
»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen«, erwiderte der Junge charmant wie auf einem gesellschaftlichen Empfang und deutete mit einem kurzen Nicken einen sogenannten Diener an, wobei ich mir fast schon sicher war, dass ich zu der aussterbenden Spezies gehörte, die sich überhaupt noch an die aus der Schwarz-Weiß-Fernseher-Ära stammenden Höflichkeitsbezeugung von Kindern Erwachsenen gegenüber erinnerte.
»Jan«, stellte ich mich vor und ergriff die Hand des Jungen, der für einen Zehnjährigen einen erstaunlich kräftigen Händedruck hatte.
»Machen Sie hier auch Ferien oder sind Sie Pilot oder gar ein Jobi?«, fragte mich Leif im souveränen Plauderton eines small-talk-erfahrenen Gesprächspartners.
»Jobi?«, fragte ich, da ich mir nicht sicher war, ob ich den Jungen richtig verstanden hatte, was aber auch egal war, denn ich hatte keine Ahnung, was er meinte.
»Einer von den Ehemaligen«, erwiderte Leif. »Von der Bildungsstätte.«
»Weder noch.« Ich schüttelte den Kopf. »Da muss ich dich leider enttäuschen. Auch kein Pilot. Ich bevorzuge eher die Bodenhaftung, als mich in die Lüfte zu erheben. Wir machen einen kleinen Kurzurlaub vom Festland, aus der Krummhörn, um genau zu sein.« Ich deutete auf Anna.
»Verstehe«, nickte der Junge altklug, aber mit für sein Alter erstaunlich zutreffender Diagnose: »Sie bevorzugen Bodennähe. Flugangst. Kenne ich.«
»Du hast auch Flugangst?«, erwiderte ich gleichermaßen ungläubig wie beeindruckt über die Scharfsinnigkeit und Selbstsicherheit des Jungen.
»Aviophobie oder Aviaphobie, zu Deutsch Flugangst?« Leif schüttelte den Kopf. »Nein, betrifft mich nicht. Das hat mit Kontrollverlust zu tun. Meine Mutter hat Flugangst. Deshalb macht sie auch das Pinch-Hitter-Sicherheitstraining bei Manfred Bendix mit. Meinem Bruder und mir geht Aviophobie gänzlich ab.«
Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen, als ich den blonden Jungen wie einen Erwachsenen referieren hörte. Was war das denn für ein Bengel? Ich kannte zwar Kinder, die zum Stolz ihrer Eltern alle möglichen lateinischen Sauriernamen aufsagen konnten. Aber ich war noch nie einem zehnjährigen Jungen begegnet, der sich so adäquat und geschliffen auszudrücken verstand.
»Du kennst dich aber gut aus«, staunte jetzt auch Anna. »Ich darf doch Du sagen, oder?«
»Natürlich«, entgegnete der Junge großzügig. »Ich bin doch erst zehn.«
»Erstaunlich«, murmelte ich, noch immer verblüfft über die lässige Wortgewandtheit des Jungen.
»Ja, das höre ich öfter.« Leif zuckte gleichmütig mit den Schultern, wie ein Leistungssportler, der einem Reporter seine gewohnten Spitzenwerte mitteilt. »Aus meiner Sicht ist keine Betreuung notwendig«, stellte der Zehnjährige mit gelangweiltem Gesichtsausdruck fest. »Das ist etwas für Kinder.«
»Ich weiß, mein Großer«, lachte Traute und zwinkerte dem Jungen verschwörerisch zu. »Aber für Eltern bleiben auch die Größten immer ihre Kinder.«
Demonstrativ verdrehte Leif seine Augen und seufzte ergeben.
»Es ist ja auch kein Aufpassen«, winkte ich ab. »Wir quatschen einfach ein bisschen miteinander und trinken was zusammen.«
Die Augen des Jungen leuchteten auf.
»Bevor ich es vergesse«, warf Traute hastig ein. »Leif darf nicht mehr als eine kleine Flasche Bitter Lemon am Tag trinken. Seine Mutter möchte das nicht.«
»Meine Mutter befürchtet, dass ich eine Chininabhängigkeit entwickeln könnte«, grinste Leif. »Wobei wissenschaftlich nicht erwiesen ist, dass Bitter Lemon zu Abhängigkeit führen kann.«
»Alles kann zur Sucht werden«, widersprach Traute. »Es kommt nur auf den Umgang mit dem betreffenden Stoff an, ganz gleich, worum es sich handelt. Das Gleiche gilt übrigens auch für Cola.«
»Zuckerflash.« Der Junge nickte großmütig. »Das kann man ja noch verstehen, aber Lemon?«
Obwohl Leif altklug wirkte und über ein enormes Selbstbewusstsein zu verfügen schien, machte er auf mich nicht den Eindruck, eingebildet oder arrogant zu sein, sondern schien einfach nur zu wissen, dass er außergewöhnlich war.
»Ich danke dir, Jan.« Traute beugte sich schnell vor und gab mir einen Kuss auf die Wange, wobei ihre Lippen meine Lippen flüchtig streiften. »Das mit Rita ist tragisch …«, flüsterte sie, »… es ist aber nicht das erste Mal, dass sie einen Zusammenbruch hat. Leif kennt das. Geh also ganz normal mit ihm um. Eigentlich wollte sein Bruder Vince auch zu den Springertagen kommen, er ist aber noch nicht aufgetaucht. Er kümmert sich dann so lange um seinen Bruder, bis Rita wieder entlassen wird.«
»Wieso kümmert sich sein Vater nicht um Leif?«, wisperte ich Traute zurück ins Ohr.
»Besser nicht!«, entgegnete sie.
»Jetzt komm aber bitte, Traute!« Milans Stimme klang verärgert, als er sie erneut ermahnte.
»Sofort, mein Schatz!«, rief sie und flüsterte mir noch kurz ins Ohr: »Philipp kümmert sich zu sehr um Jungs.«
»Euch beiden!«, rief Traute laut, als Milan erneut an ihrer Hand zog. »Ich danke euch beiden!«
Offensichtlich wurde Milan die Vertrautheit zwischen Traute und mir nun doch zu viel. Ein Blick aus den Augenwinkeln zu Anna zeigte mir, dass er damit nicht alleine war.
Annas Gesichtsausdruck hatte ebenfalls wieder von Tauwetter zu Bodenfrost gewechselt.
»Hals und … äh … kommt gut runter!«, rief ich Traute mitsamt ihrem
Schatz
hinterher.
Anna sagte kein Wort, sondern sandte den beiden lediglich einen kühlen Blick hinterher.
Bevor ich mir jedoch über Annas Reaktion auf das unverhoffte Wiedersehen mit Traute Gedanken machen konnte, stellte Leif nüchtern fest: »Meine Mutter hat eine gewisse Neigung, Dinge zu dramatisieren.«
»Was meinst du damit?«, fragte ich geistesabwesend, während ich Traute und ihrem bärtigen Begleiter nachblickte.
»Nun, ich gebe zu, dass eine Notlandung eine äußerst …« Mit konzentriertem Gesichtsausdruck suchte der Zehnjährige nach einem passenden Adjektiv.
»Prekäre?«, half ich ihm.
»Ja, genau! Tolles neues Wort!« Erfreut nickte der Junge und fuhr mit seinem Geplauder fort. »… prekäre Situation ist. Aber ein … Nervenzusammenbruch?«
Auch wenn ich den Gedankengang des Jungen verstand und mir vorstellen konnte, dass einem Zehnjährigen das Verhalten der Eltern peinlich ist, musste ich doch für seine Mutter Partei ergreifen, obwohl auch ich sie insgeheim als Drama Queen einschätzte. Der Junge schien seine Mutter für sein Alter erstaunlich gut zu kennen.
»Woher kennst du eigentlich solche Worte?«, platzte es aus mir heraus.
»Welche Worte?« Leif sah mich erstaunt an.
»Aviophobie. Nervenzusammenbruch. Dramatisieren«, zählte ich auf. »Hör mal, du bist erst zehn!«
»Ich weiß«, grinste Leif. »Aber ich bin hochbegabt.«
»Das erklärt einiges«, sagte Anna.
»Deine Mutter hat, soweit ich weiß, ein Sicherheitstraining gemacht, weil sie Angst vorm Fliegen hat. Was ich sehr gut verstehen kann«, erklärte ich unbeeindruckt von Leifs Bekenntnis, dass er ein kleines Genie sei, und versuchte, mich nicht allzu sehr wie ein Oberlehrer anzuhören. »Eine Angst, die ich sehr gut verstehen kann«, sagte ich nachdrücklich. »Ich find’s toll, dass sie deswegen, oder eher
trotzdem
, diesen Weg gegangen ist und sich ihren Ängsten stellt.«
»Da mögen Sie wohl recht haben«, erwiderte der Zehnjährige. »Dennoch neigt meine Mutter zu dramatischen Auftritten, wie eben diesem aktuellen Nervenzusammenbruch.«
»Dann hat sie wohl nicht zum ersten Mal so emotional reagiert?«, fragte ich interessiert, obwohl Traute mir bereits die Antwort gegeben hatte.
»Nein. Hat sie durchaus nicht.« Leif goss sich mit amüsiertem Gesichtsausdruck sein Glas erneut mit Bitter Lemon voll, während er gleichzeitig den Kopf schüttelte. »Das passiert bei uns öfter.«
Auch wenn wir schon einige Zeit mit Leif plauderten, faszinierte mich die kultivierte Ausdrucksweise des Zehnjährigen unvermindert, denn normalerweise hörte man von Kindern in seinem Alter eher Wörter wie krass, geil oder mega. Wörter, die Gefühle von Kindern und Jugendlichen, mitunter auch die von Erwachsenen, plakativ ausdrücken sollen, wenn der ihnen zur Verfügung stehende Wortschatz nicht hinreicht.
Leif hingegen war mit seinen zehn Lebensjahren in der Lage, geschliffene Sätze zu bilden und diese mit derart ausgesuchter Höflichkeit und Souveränität zum Besten zu geben, dass man geneigt war, nicht alle Hoffnung in die Jugend zu verlieren, die ja irgendwann einmal die Geschicke unserer Gesellschaft lenken würde.
»Wohnen deine Eltern hier auf Juist?«, wollte ich wissen.
»Auch«, antwortete er gleichmütig. »Eigentlich leben wir in Hamburg. Mein Bruder allerdings in Stuttgart, er hat schon eine eigene Wohnung. Auf Juist sind wir nur, wenn mein Stiefvater hier geschäftlich zu tun hat. Wir wohnen in einem Ferienhaus in Loog. Vielleicht kauft er das Haus, wir sind ja immer öfter hier.«
»Dann lad uns mal ein, wenn es so weit ist«, erwiderte ich und hob den Arm zum Gruß, als Traute sich auf der Treppe noch einmal umwandte und uns zuwinkte.
Leif nutzte die Gelegenheit und drehte die Flasche auf den Kopf, um auch den letzten Tropfen der Chininbrause aus der Flasche in sein Glas laufen zu lassen. Das Eis klirrte leise, als es
an die Innenwände des Glases stieß. Dann machte er sich auf den Weg in Richtung Flugplatz.
»Soso«, sagte Anna nachdenklich, als Leif außer Hörweite war, und zog ihren Arm aus meinem.
»Soso?« Irritiert sah ich sie an, noch immer mit meinen Gedanken bei dem Jungen. »Was? Was meinst du mit soso?«
»Soso«, wiederholte Anna leise und betonte jede Silbe. »Das war also deine Traute.«
»Meine Traute?« Jetzt wurde ich hellhörig. »Wieso denn meine?«
»So, wie sie dich angesehen hat …«
Ich wusste nicht wirklich, was ich auf Annas Bemerkung erwidern konnte. Eifersucht kannte ich an ihr gar nicht.
»Wir haben uns lange nicht gesehen«, erwiderte ich deshalb, ohne etwas zwanghaft erklären zu wollen, weil es aus meiner Sicht nichts zu erklären gab. »Da sieht man sich halt an. Wäre ja komisch, wenn nicht.«
»… und so, wie du sie angesehen hast«, setzte Anna nach und verschränkte zur Bekräftigung ihrer Worte ihre Arme vor der Brust.
Da war er!
Der Klassiker.
Exakt die Situation, die kein Mann will: Hand in Hand mit der Frau, die er liebt, plötzlich und unerwartet seiner Ex gegenüberzustehen, ein paar mehr oder weniger belanglose Worte und dann diese Antwort: »
Deine Traute …
«
Sicherlich war Annas spitze Bemerkung auch der Tatsache geschuldet, dass ich Traute intensiver angestarrt hatte, als es sich vielleicht schickte. Aber das war’s auch schon zwischen Traute und mir gewesen. Mehr würde auch nicht mehr sein. Nicht ohne Grund hatte ich meine Beziehung zu Traute trotz aller Gefühle füreinander beendet, als ich gänzlich überraschend von ihrem Zweitleben erfuhr, das sie in speziellen SM-Klubs führte.
»Anna.« Eindringlich sah ich sie an. »Traute und ich waren mal zusammen. Das ist richtig. Ich habe dir auch davon erzählt. Aber das ist schon eine ganze Weile her, seither haben wir uns nicht mehr gesehen.«
»Lass uns zum Flugplatz rübergehen«, erwiderte Anna, ohne auf meine Worte einzugehen, und hob ihre Hand, um Leif zuzuwinken, der sich gerade nach uns umdrehte, um zu sehen, ob wir ihm folgten. »Der Flieger wartet nicht.«
Ich nickte widerstrebend, da ich nur ungern Unausgesprochenes zwischen uns stehen lassen wollte, und folgte Anna, die sich bereits umgedreht hatte, um dem Jungen Richtung Flugplatz zu folgen.