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Nach ein paar Hundert Metern passierten wir den Zugang zum Rollfeld, neben dem sich ein schlichtes Abfertigungsgebäude befand. Ich kannte es von meinen Ankünften, wenn ich mit dem Inselflieger anreiste, weil die Fährverbindung entweder im Winter wegen Eis oder im Hochsommer aufgrund niedriger Wasserstände eingestellt wurde.
Der direkte Zugang zum Rollfeld wurde von einer Batterie rot-weiß lackierter Absperrgitter abgetrennt. Seitlich neben den Rollgittern standen zwei Kutscher mit ihren Gepäckwagen, die auf neu eintreffende Feriengäste warteten und deren Gepäck mittels Handwagen zu ihren Fuhrwerken transportierten, die knapp fünfzig Meter vom Flugplatz entfernt auf dem Kutschparkplatz standen.
Vor uns lag die Landebahn, die mir extrem schmal und auch nicht sonderlich lang vorkam. Zwischen Landebahn und Abfertigungsgebäude befand sich eine großzügig bemessene Rasenfläche, auf der in zwei sich gegenüberliegenden Reihen diverse kleine und mittelgroße Propellermaschinen geparkt waren. Hinter uns erhob sich der zweigeschossige Tower, an den sich eine große Flugzeughalle anschloss, deren Frontseite oberhalb der weit geöffneten Tore mit dem Bild einer gelben Propellermaschine geschmückt war, über dem der Schriftzug »Jobi Juist« aufgemalt war. Es folgten mehrere flache Backsteingebäude, bei denen es sich Leifs Erklärungen nach um Verwaltungs- und Hauswirtschaftsgebäude der Jobi-Jugendbildungsstätte handelte.
»Der Flugplatz ist gar nicht so klein, wie man auf den ersten Blick annimmt«, erklärte Leif, der ungefragt die Rolle des Fremdenführers übernommen hatte und gut informiert über die Liegenschaften plauderte.
»Wie kommt es, dass du dich hier so gut auskennst?«, wollte ich wissen, während wir an die rot-weißen Absperrgitter herantraten, um Traute und Milan zu beobachten. Die beiden wurden gerade freudig von einer wartenden Gruppe Fallschirmspringer begrüßt, die sich rund um das merkwürdig pinkfarbene Flugzeug geschart hatten. Am Boden stehend ließ es mich noch stärker an einen umgekippten klobigen Kleiderschrank denken als am Himmel, wo wir es vorher zum ersten Mal gesehen hatten. Kaum zu glauben, dass dieses plumpe Ding sich in die Luft erheben konnte.
»Das ist die Pink Boogie , auch Pink Skyvan genannt«, klärte uns Leif auf, dem mein musternder Blick aufgefallen war. »Sieht zwar wie ein fliegender Schrank aus, ist aber ein unheimlich praktisches Flugzeug für Fallschirmspringer. Am Heck hat der Skyvan ein riesengroßes Tor, das einfach aufklappt, wenn die Springer rausmüssen. Die spazieren dann einfach hinten aus dem Flugzeug raus. Dann geht’s im freien Fall nach unten.«
»Woher weißt du das alles?« Ich konnte es noch immer kaum glauben, dass der blonde Junge mit dem akkuraten Scheitel erst zehn Jahre alt sein sollte.
»Hm«, machte Leif und zuckte mit den Schultern. »Ich kann mir gut Dinge merken. Außerdem habe ich ausreichend Zeit, mir hier alles ganz genau anzuschauen, während meine Mutter ihren Pinch-Hitter-Kurs macht. Und nach dem Abitur werde ich Architektur studieren. Deshalb interessiere ich mich auch für die Abläufe auf Flugplätzen, egal wie groß sie sind. Ich war schon in New York und Sydney. Die waren echt groß, aber hier sind die Abläufe fast die gleichen, eben nur in Klein.«
Während ich den Jungen mitfühlend musterte, reckte Anna den Daumen in die Luft: »Hey, cool! Der Junge weiß, was er will.«
Wie selbstverständlich zuckte Leif mit den Achseln. »Der Mensch muss Ziele haben.«
Ungläubig schüttelte ich den Kopf, als Leif seine Lebensweisheit zum Besten gab. Er plauderte nicht nur wie ein Erwachsener mit uns, obendrein hatte das, was er sagte, auch noch Hand und Fuß. Allerdings lag in der Art, wie er über Dinge sprach, eine gewisse Traurigkeit, die Traurigkeit eines Kindes, das sich einsam fühlt. Bei Leif zeigte sich das in der Art, wie er gleichgültig mit den Schultern zuckte oder lapidar etwas kommentierte. Vielleicht täuschte ich mich aber auch, und es handelte sich um das normale Verhalten eines hochbegabten Kindes, das sich langweilte und unterfordert fühlte. Ich konnte mir schon vorstellen, dass Rita Albrecht eine viel beschäftigte Frau war und Leif darüber ins Hintertreffen geriet. Nach der heutigen Notlandung kam hinzu, dass Leifs Mutter nun auch noch auf unbestimmte Zeit im Krankenhaus lag.
»Lässt deine Mutter dich oft allein?«
Abrupt verstummte Leif. Mit einem Mal sah er aus wie der kleine Junge, der er war. Von seinem für einen Zehnjährigen bemerkenswerten Selbstbewusstsein war im Moment nichts zu spüren. Seine Lippen zitterten leicht. Ihm stand ins Gesicht geschrieben, dass er seine Mutter vermisste. Leifs Reaktion beantwortete meine Frage, ohne dass er auch nur ein Wort sagen musste. Ich verzichtete darauf, nachzufragen.
»Ich will Flughäfen bauen«, überging Leif meine Frage nach seiner Mutter. »Schöne und funktionierende Flughäfen.«
»Also nicht solche wie der BER in Berlin?«, baute Anna Leif schmunzelnd eine Brücke, damit er meine Frage großräumig umgehen konnte.
»The never ending story«, erwiderte Leif und schüttelte energisch den Kopf. »Reines Missmanagement in Berlin. So wird das nix!«
Wo andere Jungs in seinem Alter zum Fußballtraining gehen oder Nintendo Wii spielen, plauderte Leif mit mir über Regionalpolitik oder Managementfragen.
»Du interessierst dich für Politik?«, wollte ich wissen.
»Ja, sehr«, nickte Leif. »In- und Ausland.«
»Liest du Zeitung oder hörst dir Nachrichten im Radio an?«
Abrupt blieb Leif stehen und musterte mich wie ein Relikt aus längst vergangenen Tagen, was ich in seinen Augen offenbar auch war. Nachsichtig musterte er mich. »Zeitungen sind Old School.«
Ich wusste nicht, wann ich das letzte Mal von einem Zehnjährigen gemustert worden war, der mich für ein Fossil aus einer längst vergangenen Epoche hielt.
»Äh, hm«, machte ich und fühlte mich tatsächlich ein wenig wie ein Saurier.
Mir war vollkommen klar, dass Printmedien eine aussterbende Branche waren, ebenso wie ich als ihr Leser. Aber kein Smartphone der Welt konnte mir das Knistern der Sonntagszeitung, das Rascheln der Seiten beim Umblättern ersetzen. Und auch wenn die großformatigen Seiten fast den ganzen Frühstückstisch einnahmen, wollte ich auf meine von Druckerschwärze dunklen Fingerspitzen nicht verzichten.
»Du hast wahrscheinlich auf deinem Handy einen Nachrichten-Account mit den wichtigsten Tageszeitungen«, sagte ich, um dem kleinen Klugscheißer zu zeigen, dass ich selber durchaus auf dem Laufenden war, was die neuen Medien anbelangte; wobei ich allerdings zugeben musste, dass ich zwar das Internet nutzte, aber nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. In diesem Punkt hatte der Junge recht – Old School.
»Gar nicht so schlecht für einen Erwachsenen«, grinste Leif. »Ich habe eine Time Line: Euro News, N24, CNN und noch ein paar Insider News«, zählte er auf.
»Die Börsenberichte auch?« Obwohl meine Frage ironisch gemeint war, hätte ich mich nicht gewundert, wenn er auch einen Börsenticker laufen gehabt hätte.
»Ich bin doch erst zehn.« Tadelnd sah der Junge mich an. »Folglich noch nicht geschäftsfähig. Aber ich denke drüber nach.«
Während wir plauderten, schlenderten wir an dem rot-weißen Absperrgitter vorbei, dessen Farbe an vielen Stellen abblätterte. Auf dem großen Wendeareal des Flugplatzes sah ich Traute, die gemeinsam mit ihrem bärtigen Begleiter zu einem auf der Landebahn wartenden Flugzeug ging. Ich beobachtete, wie Milan nach Trautes Hand griff, die sie ihm auch wie selbstverständlich reichte.
»Cooler Typ«, ließ sich Anna vernehmen, die ebenfalls zu den Fallschirmspringern hinübersah.
»Cool?« Konsterniert zog ich die Augenbrauen hoch und linste mit betont gelangweiltem Gesichtsausdruck über das Rollfeld zu der Transportmaschine hinüber. »Was findest du denn so cool an dem Typen?«
»Tja …« Anna ließ sich bewusst mit der Antwort Zeit, bevor sie antwortete. »Er sieht gut aus, ist höflich und er hat etwas …« Sie stutzte einen Moment, als könne sie sich nicht zwischen den Superlativen entscheiden, mit denen sie Trautes Begleiter beschreiben konnte, ohne Gefahr zu laufen, sich wie ein schwärmender Teenie anzuhören.
Leicht pikiert verzog ich das Gesicht, räumte aber im Stillen ein, dass Anna recht hatte. Dieser Milan sah schon recht gut aus. Und schien zu allem guten Überfluss auch ziemlich nett zu sein.
»Außerdem machte er einen sehr netten Eindruck«, stellte Anna nun auch noch fest und löste mit ihrer Bemerkung einen empfindlichen Stich in meinem Innern aus, den ich zwar geflissentlich ignorierte, jedoch mit knirschenden Zähnen.
Was kümmert mich das? , dachte ich mürrisch, der Hipster mochte noch so nett sein, ich wollte ihn ja schließlich nicht heiraten.
»Da hinten kommt dann gleich die Jobi und ganz am Ende noch eine ganz neue Flugplatzhalle. Die kann man sich aber nicht anschauen, reiner Privatbesitz«, erzählte Leif unbeirrt mit der Routine des altgedienten Reiseführers. »Die Jobi hat dort ihr Hauptgebäude mit Schulungsräumen und so.«
»Woher weißt du das alles?«, wäre mir fast ein zweites Mal herausgerutscht, aber im letzten Moment besann ich mich eines Besseren.
Ich hätte den Jungen mit meiner Frage erneut in Verlegenheit gebracht. Es war ja vorher schon klar herausgekommen, weshalb er so viel von dem Flugplatz wusste. Er musste sich hier die Zeit totschlagen, während seine Mutter ihre Fallschirmsprünge absolvierte. Womit ich Rita Albrecht nicht zu nahe treten wollte, schließlich sollte jeder die Dinge tun, die ihm Spaß machten oder die er glaubte tun zu müssen.
»Moin«, ertönte hinter mir eine vertraute Stimme.
Wir wandten uns alle gleichzeitig um.
Manfred Bendix sah in seiner Jeans und dem blauen Jackett mit dem am Hals offen stehenden weißen Hemd wie ein erfolgreicher Immobilienmakler auf Kundenbesuch aus. Sein Gesichtsausdruck hingegen war eher verdrießlich, obwohl er sich sichtlich Mühe gab, gute Laune auszustrahlen.
»Moin, Manfred«, erwiderte ich seinen Gruß, während ich ihn musterte. »Schnieke siehst du aus.«
Auf sein langes Gesicht sprach ich ihn nicht an, dafür war später noch Zeit. Ich wollte Manfred nicht vor Anna und dem Jungen in Erklärungsnöte bringen, sondern in Ruhe unter vier Augen mit ihm sprechen. Den Grund für seine griesgrämige Miene vermutete ich im Zusammenhang mit der morgendlichen Bruchlandung.
»Danke.« Falls Manfred sich über das Kompliment freute, sah man ihm das nicht unbedingt an. »Ich hatte eine geschäftliche Besprechung. Die beste Gelegenheit, um das Jackett auszulüften.«
»Ging es um Innovationen?«, fragte Leif interessiert. »Oder Investitionen?«
»Wie ich sehe, habt ihr euch bereits mit Leif bekannt gemacht.« Manfred fuhr dem Jungen mit seiner Pranke einmal quer über den Haarschopf, sodass dessen akkurat gezogener Scheitel danach wie eine doppelte S-Kurve auf dem Nürburgring aussah.
Die Frage des Zehnjährigen überhörte er.
»Das ließ sich kaum vermeiden«, erwiderte Leif und fuhr sich mit gespreizten Fingern ebenfalls durch die Haare, um sie halbwegs wieder zu ordnen, was ihm jedoch nur mit mäßigem Erfolg gelang. »Wir haben gemeinsame Bekannte, sprich Verwandtschaft, und demzufolge gemeinsame Schnittmengen.«
Diplomatischer konnte man das vermutliche Verhältnis zwischen Leifs Mutter Rita Albrecht und Manfred nicht umschreiben.
Trotz seiner Sorgenfalten konnte Manfred sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Junge, du versetzt mich immer wieder aufs Neue ins Staunen.«
»Hochbegabtenschicksal«, antwortete Leif achselzuckend und sah uns gelangweilt an.
»Du kleiner Schnösel«, spottete der Mann, der über den Rasen auf uns zugeschlendert war und jetzt ohne Begrüßung neben uns trat, während er einen Karabinerhaken an seinem Fallschirmgurtzeug einhakte. »Klagst du wieder dein Leid darüber, ein Genie zu sein?«
Der drahtig wirkende Mann mit den harten Gesichtszügen und den schütteren, streng nach hinten gekämmten Haaren war mir auf Anhieb unsympathisch.
»Das ist Philipp«, stellte Bendix den Fallschirmspringer vor. »Leifs Vater.«
»Sowie dein Geschäftspartner und Ritas Mann«, ergänzte Leifs Vater mit schmalem Lächeln und fummelte weiter an seiner Montur herum.
Anstalten, zur Begrüßung von seinem Gefummel hochzusehen, geschweige denn einem der Anwesenden die Hand zu geben, machte er nicht.
Unangenehmer Zeitgenosse . Mit einem Seitenblick musterte ich Leifs Vater, dessen Gesicht den stumpfen, ungesunden Eindruck eines langjährigen Kettenrauchers machte.
Mein Blick wanderte zwischen den beiden nebeneinanderstehenden Männern hin und her, ein direkter Vergleich fiel deutlich zugunsten von Bendix aus, der zwar etwa gleichaltrig mit Philipp Albrecht war, aber deutlich jünger, gesünder und vor allem sympathischer wirkte. Ich konnte Rita Albrecht gut verstehen, dass sie sich bei diesem Prachtexemplar eines charmanten Ehemannes zu dem gutmütigen Bendix hingezogen fühlte.
»Wie war’s?«, fragte Albrecht zu Manfred gewandt und zog sich ein paar dünne Lederhandschuhe an, die an die Handschuhe von Rennfahrern aus den Dreißigerjahren erinnerten. »Alles gut gelaufen?«
Manfreds Gesichtsausdruck schien sich um eine Nuance zu verdunkeln, er zog die Oberlippe zwischen seine Zähne und begann geistesabwesend an ihr zu kauen.
Albrecht knipste die Druckknöpfe an seinen Handschuhen zu, dann hob er den Kopf und sah Manfred abwartend an, der seinem Blick auswich.
»Und?«, fragte der Fallschirmspringer.
Zögernd nickte Manfred und räusperte sich umständlich. »Ja, alles gut.«
»Sicher?« Albrecht musterte Manfred wie ein Lehrer seinen schlechtesten Schüler, der ihm nicht zufriedenstellend geantwortet hat.
Eine Sekunde verging, zwei Sekunden vergingen, ohne dass Manfred erneut etwas erwiderte.
Albrechts Blick schien noch härter zu werden. Seine rechten Gesichtsmuskeln zuckten kurz auf.
Zwei weitere Sekunden vergingen, bis Manfred antwortete. »Sicher«, antwortete er ohne große Überzeugungskraft.
»Na, dann ist ja gut.« Abrupt beendete Albrecht den Blickkontakt mit Bendix und drehte sich zu Leif herum. »Und du wartest hier unten. Keine Extratouren! Klar?«
Leif verzog keine Miene, als er seinen Vater unbeeindruckt ansah.
Philipp Albrecht bedachte seinen Sohn mit dem gleichen harten Blick, mit dem er gerade noch Manfred zu einer Antwort gezwungen hatte.
»Hast du mich verstanden?« Der Klang von Albrechts Stimme stand seinem unangenehmen Blick in nichts nach.
Leif machte noch immer keine Anstalten zu antworten.
Bevor die Situation zu einem Vater-Sohn-Konflikt eskalieren konnte, trommelte ein athletisch aussehender Springer in schwarz-roter Fliegerkombi laut mit der Hand auf das Absperrgitter.
»Wir müssen los, Phil!«, rief er in unsere Richtung. »Die Meute wird langsam ungeduldig.«
»Ich komme«, erwiderte Albrecht und hob beruhigend die Hand, ohne den Blick von Leif zu nehmen. »Keine Extratouren. Verstanden?«
Es dauerte noch eine Sekunde, bis Leif auf die Anordnung seines Vaters reagierte.
»Jep«, antwortete der Junge ohne große Begeisterung.
Philipp Albrecht warf seinem Sohn noch einen letzten scharfen Blick zu und schulterte den viereckigen Rucksack, in dem sich offenbar sein Fallschirm befand.
»See you«, sagte er gleichgültig, ohne jemanden aus der Runde eines Blickes zu würdigen.
Mit langen Schritten überquerte er dann den asphaltierten Gehweg Richtung Landebahn. Schweigend blickten wir dem Fallschirmspringer in seiner mit gelben Seitenstreifen versehenen schwarzen Springermontur nach, während er übers Rollfeld ging.
»Das ist dein Geschäftspartner?«, sinnierte ich halblaut, während ich zusah, wie Albrecht in den pinkfarbenen Kleiderschrank kletterte. »Hier vom Flugplatz? Du sagtest doch, dass du hier Geschäftsführer bist.«
Manfred seufzte leise. »Ja auch, ich bin Geschäftsführer der Jobi.« Er hob die Hand und zeigte zu einem lang gezogenen Gebäude hinüber, das seitlich des Towers zu sehen war. »Das ist das Jugendhilfswerk, eine gemeinnützige Stiftung.«
»Von denen habe ich schon mal gehört«, unterbrach Anna Manfred. »Ihr arbeitet mit …«
»Nein«, fiel ihr Manfred ins Wort. »Wir richten uns nicht nur an sozial auffällige Kinder und Jugendliche. Das erzählt man sich oft über uns. Stimmt aber gar nicht. Wir arbeiten auf der Grundlage unseres erlebnispädagogischen Konzeptes mit Auszubildenden aus allen möglichen Berufen. Wir wollen auf diesem Weg die Persönlichkeitsentwicklung der Heranwachsenden fördern. Bei uns lernen die Jugendlichen, vor Herausforderungen nicht wegzulaufen, sondern sich dem Problem zu stellen und Strategien zur Lösung zu entwickeln.«
»Teamarbeit. Klasse!«, nickte Anna anerkennend. »Ich habe gehört, dass bei euch die Kinder auch Kajak fahren und Theater spielen können.«
Es war schön zu beobachten, wie sich Manfreds Sorgenfalten wie Morgennebel auflösten, als er voller Begeisterung von seiner Arbeit sprach.
»Und noch viel mehr, wir machen hier alles: boldern an unseren Kletterwänden, alle möglichen Projekte im Wasser, am Strand oder im Watt, Bogenschießen und zahlreiche künstlerische Projekte wie …«
»Bogenschießen?« Hellhörig geworden, fuhr ich zu Manfred herum. »Du meinst mit Pfeil und Bogen?«
»Nee, mit Tinte und Feder«, lachte Manfred amüsiert. »Ja klar, mit Pfeil und Bogen. Womit denn sonst? Nicht mit ’ner Armbrust.«
Mit einer hastigen Bewegung streifte ich den Rucksack von meiner Schulter, in dem ich nicht nur die Überraschungsflasche Champagner für Anna sowie zwei dick in Küchenpapier eingewickelte Gläser und ein großes Strandlaken verstaut hatte.
Ich öffnete den Reißverschluss und zog den Pfeil aus dem Rucksack, den ich ebenfalls in ein Stück Papier eingewickelt hatte, um etwaige Spuren nicht zu verwischen. Man wusste nie, wofür so etwas gut sein konnte. Nicht dass ich hinter jedem Strandkorb eine Leiche vermutete, dafür war es hier bei uns in Ostfriesland doch zu friedlich, aber wenn jemand vor den Augen zweier Strandspaziergänger eine Möwe mit einem Pfeil abschießt, geht das für mich über einen Dummejungenstreich hinaus.
Ich wickelte den gelb-schwarzen Pfeil aus dem Papier und streckte ihn Manfred entgegen.
»Du meinst mit Pfeilen wie diesem hier?«
»Oha.« Manfreds Hand fuhr erschrocken nach vorn und griff nach dem Pfeil.
Bevor sich seine Hand um den Karbonpfeil schließen und etwaige Spuren verwischen konnte, zog ich meine Hand zurück.
»Vorsicht, Spuren«, warnte ich.
Manfreds Hand griff ins Leere.
»Als wir vorhin am Strand waren, hat jemand eine Möwe abgeschossen«, sagte ich. »Mit diesem Pfeil.«
Schlagartig meldeten sich Manfreds Sorgenfalten zurück, vor lauter Verdruss hatten sie gleich ein paar Freunde mitgebracht.
»Puh«, machte Manfred, während er finster den Karbonpfeil anstarrte und seine Stirn runzelte.
»Guter Schuss!« Anerkennend stieß Leif einen leisen Pfiff aus.
»Leif!«, sagte Manfred scharf.
»Dieser Vollidiot hätte jemanden umbringen können«, meinte Anna. »Oder zumindest ein Auge ausschießen.«
»Ein fliegendes Ziel zu treffen ist nicht einfach.« Unbeeindruckt von Manfreds Zurechtweisung reckte Leif neugierig den Hals. »Auch wenn Möwen meist in der Luft stehen. Das war einer vom Leistungskurs oder ein Talent.«
»Ihr habt einen Leistungskurs im Bogenschießen?«, fragte ich.
»Ja, haben wir«, antwortete Manfred widerwillig.
»Benutzt ihr solche Pfeile?«
»Klar«, antwortete Leif anstelle von Manfred, der ihm daraufhin einen scharfen Blick zuwarf.
»Unter anderem«, räumte Manfred widerstrebend ein, nachdem er den Pfeil ausgiebig inspiziert hatte. »Wir verwenden im Grunde andere Pfeile. Aber ja, solche haben wir auch.«
»Der Leistungskurs hat solche Pfeile.« Leif wollte mit dem Zeigefinger auf das Exemplar tippen, das ich noch immer in der Hand hielt. »Ich weiß das. Vince hat den Kurs auch absolviert. Er war sogar der Kursbeste«, sagte Leif stolz über die Leistungen seines großen Bruders.
Rasch wickelte ich das Küchenpapier wieder um den Pfeil und verstaute ihn in meinem Rucksack.
»Halt die Klappe!«, fuhr Manfred den Jungen unwirsch an.
Leif verdrehte gespielt erschrocken die Augen und kniff fest die Lippen zusammen. Seiner Miene war jedoch anzusehen, dass er Manfreds Rüffel nicht ernst nahm.
»Jetzt mach nicht so’n Ding aus dem Pfeil«, forderte Manfred mich auf. »Das war sicherlich ein Versehen oder so.«
»Dann hätte dieser Jemand danebengeschossen.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, der Schütze wollte diese Möwe treffen. Und er hat sie getroffen.«
»Genau …«, platzte Leif heraus, dem die Diskussion offensichtlich sehr gefiel. »Das war ein Blattschuss.«
»Verdammich!«, entfuhr es Manfred, der sichtlich die Geduld verlor. »Es war nur eine Möwe! Niemand sonst wurde verletzt. Nur eine Möwe wurde getroffen. Und du hältst jetzt endlich mal deine Klappe«, fuhr Manfred den Jungen gereizt an.
»Aye, aye, mio Capitano.« Leif salutierte lässig und schlenderte Richtung Absperrgitter davon.
»Eine Möwe, Jan.« Manfred sah mich fast schon beschwörend an. »Es war nur eine Möwe.«
»Genau«, erwiderte ich mit der Stimme eines Staatsanwalts. »Nur eine Möwe. Aber wer hat die Möwe mit einem Pfeil abgeschossen? Und warum? Diese Frage ist noch interessanter.« Ich schnaubte spöttisch. »Es ist nicht nur die Möwe, Manfred. Du bist hier Geschäftsführer. Du hast die Verantwortung.«
»Ach, hör auf«, winkte er ab.
»Nein«, entgegnete ich. »Du wolltest mich als Anwalt. Du hast mich als Anwalt. Jetzt musst du dir auch meine Fragen anhören. Selbst wenn’s wehtut.«
Annas Blick wechselte zwischen Manfred und mir hin und her.
»Ich lass euch mal allein«, sagte sie und drehte sich diskret zur Seite.
Manfred und ich sahen uns schweigend an.
»Was ist los mit dir, Manfred?«, fragte ich barsch. »Du bist hier Geschäftsführer, du hast die Verantwortung«, wiederholte ich. »Dann erklär du mir als Verantwortlicher doch bitte einmal, was es mit dem Einbruch auf sich hatte, von dem Bente Hecht erzählt hat.«
Manfred wurde bleich, sagte aber nichts.
»Kannst du ausschließen, dass der Einbrecher den Pfeil und den Bogen gestohlen hat, mit denen er vor unseren Augen die Möwe abgeschossen hat?«
Schweigend und mit zusammengepressten Lippen wandte Manfred den Blick ab und sah Anna und Leif hinterher.
Das dumpfe Brummen schwerer Flugzeugmotoren ertönte vom Ende der Landebahn. Ich warf einen Blick hinüber und sah, dass sich die Pink Skyvan auf die Rollbahn schob. Langsam nahm sie Geschwindigkeit auf und bog in eine enge Linkskurve ein, um anschließend die Drehzahl ihrer Motoren geräuschvoll zu erhöhen.
»Hat der Pfeil mit heute Morgen zu tun?«, rief ich über den Lärm hinweg.
Manfred schüttelte den Kopf. »Quatsch!«, entgegnete er, wurde aber vom Motorengeräusch der Transportmaschine übertönt.
Vielleicht war mein Gedanke, zwischen der toten Möwe und Manfreds Notlandung eine Verbindung herzustellen, ziemlich abwegig, aber wenn zwei außergewöhnliche Vorfälle innerhalb kurzer Zeit nicht weit entfernt voneinander geschahen, wurde ich automatisch hellhörig. Allein schon von Berufs wegen – einmal Anwalt, immer Anwalt.
» Quatsch reicht mir nicht!«, rief ich, weil das Motorengedonner immer lauter wurde. »Kannst du ausschließen, dass einer von deinen Jugendlichen oder ein Ehemaliger die Spinde aufgebrochen und Pfeil und Bogen gestohlen hat? Die waren doch in den Sportschränken, oder etwa nicht?«, brüllte ich über den Motorenlärm hinweg.
Manfred kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und sah nicht so aus, als würde er mir eine Antwort auf meine Frage geben wollen.
Mir war schon klar, dass ich eine weite, aber durchaus realistische Verbindung zwischen den Jugendlichen, einem Ehemaligen wie Leifs Bruder und Manfreds Notlandung herstellte. Das machte mir aber nichts aus. Ich hatte schon immer quer gedacht.
Mit ohrenbetäubendem Motorenlärm donnerte das pinkfarbene Ungetüm an uns vorbei und erhob sich träge wie ein übergewichtiger Albatros in die Luft. Auch wenn mir die Grundsätze der Aerodynamik durchaus geläufig waren, stellte ich mir in solchen Momenten jedes Mal wieder die Frage, wie sich tonnenschweres Metall einfach so in die Luft erheben kann.
»Wahnsinn«, sagte ich halblaut und stellte mir Traute vor, wie sie dort oben in dem Schrank kauerte und sich in wenigen Minuten raus in die Tiefe stürzen würde.
Ich bewunderte Trautes Mut, sich ihren Traum zu erfüllen, im gleichen Maß, wie er mich entsetzte. Mich würden keine zehn Pferde in ein Flugzeug bekommen, aus dem man nur aussteigen konnte, indem man aus der Heckklappe sprang.
Die Pink Skyvan flog eine große Schleife und kletterte immer höher in den Himmel, bis sie hinter einer Herde aus Schäfchenwolken verschwand.
»Das dauert noch eine Weile, bis die Springer abgesetzt werden«, meldete sich Manfred zu Wort, froh darüber, etwas Unverfängliches sagen zu können.
»Dann will ich mal hoffen, dass alle heil wieder hier unten ankommen«, entgegnete ich und riss meinen Blick von der kleinen Ansammlung Wolken los, in die das Flugzeug verschwunden war.
»Philipp kann zwar manchmal etwas … sagen wir mal … speziell sein, aber er ist ein hervorragender Fallschirmsprunglehrer«, erklärte Manfred mit sichtbarem Respekt. »Die Wolken sind kein Problem. Die Maschine fliegt eine große Schleife. Der Absetzpunkt ist wieder über der großen Düne.«
»Du sagtest vorhin, dass du auch Geschäftsführer hier seist, was bist du denn noch?«, lenkte ich vom Thema ab, denn ich wollte meinem Kopfkino nicht noch mehr Futter geben.
»Ich …« Manfred begann wieder auf seiner Unterlippe herumzukauen. »Wie du bereits weißt, bin ich mit meinem zweiten Standbein Fluglehrer.«
Ich griff in meine Hosentasche und suchte nach meinem Tabak, da mich plötzlich das starke Bedürfnis überkam, mir eine Selbstgedrehte anzuzünden.
In der Seitentasche meiner Shorts hatten meine Fingerspitzen Glück.
Ich zog das platt gedrückte Päckchen hervor und zupfte zunächst ein Papierblättchen aus der darin befindlichen flachen Schachtel, um es anschließend mit einer guten Portion Tabak zu befüllen. Während meine Finger das Ganze geübt zu einem Röllchen drehten, sah ich forschend zu Manfred hinüber.
Auch wenn ich Manfred Bendix nicht so gut kannte, dass ich ihn zu meinem engeren Freundeskreis zählen mochte, spürte ich dennoch, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Ich hatte ihn als unerschütterlichen Fels in der Brandung kennengelernt, als ausgeglichenen Gemütsmenschen, den nichts aus der Ruhe bringen konnte und aus dessen Gesicht stets ein gutmütiges und beruhigendes Lächeln strahlte. Im Moment machte Manfred einen völlig anderen Eindruck auf mich: angespannt, nervös und besorgt. Außerdem schien er mir etwas zu verheimlichen.
»Was meintest du eigentlich heute Morgen damit, dass die Bruchlandung dich ruinieren würde?«, schoss ich meine Frage unvermittelt auf Manfred ab, die ihn zusammenzucken ließ wie die Möwe, als sie von dem unbekannten Schützen getroffen wurde. »Und was ist mit deiner Versicherung?«
»Ach.« Er winkte mit einem schmalen Lächeln ab. »Ich war heute Morgen nur selber erschrocken, als ich so plötzlich runtergehen musste.«
»Weißt du schon, woran es lag, dass du notlanden musstest?«
Manfred schüttelte den Kopf. »Nein, das erfahre ich erst, wenn das Bundesamt sein Gutachten vorlegt.«
»Aber du hast eine Vermutung?«
»Klar habe ich die.« Manfred deutete auf meine selbst gedrehte Zigarette, die ich mir gerade in den Mund steckte, ehe ich in meinen Taschen nach Feuer suchte. »Hier ist Rauchen verboten.«
»Wie?«, nuschelte ich, während ich meine Seitentasche durchwühlte. »Hier draußen?«
»Auf dem gesamten Flugplatzgelände«, gab nun auch Leif, der in Begleitung von Anna zu uns zurückgekehrt war, seinen Kommentar ab.
Missmutig verzog ich das Gesicht. Hätte ich mir ja auch denken können. Es war schließlich ein Flugplatz. Schweren Herzens pflückte ich mir die Selbstgedrehte aus dem Mundwinkel und verstaute sie in dem Tabakpäckchen, das ich zurück in meine Tasche stopfte.
»Habt ihr Lust auf einen Rundflug?«, wechselte Manfred abrupt das Thema.
»Das wäre grandios!«, rief Leif begeistert.
»Na, und ob!«, strahlte Anna und klatschte nicht weniger begeistert in die Hände.
»Bist du verrückt?«, fragte ich und spürte, wie sich in meinem Hals ein Kloß bildete. »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«