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»Nimm das Steuer in die rechte Hand«, befahl mir eine Stimme, die so leise flüsterte, dass ich sie kaum hören konnte.
Ich riss die Augen auf und fuhr herum.
»Manfred?«, rief ich gleichermaßen erschrocken wie erfreut, unseren Piloten wieder unter den Lebenden zu sehen. »Gott sei Dank, du bist wach! Wie geht’s dir?«
»Nimm das Steuer und halt das kleine Flugzeug in dem runden Instrument vor dir in der Waagerechten. Dann kann uns nichts passieren«, flüsterte Manfred mit schwacher Stimme; seine Augen hielt er noch immer geschlossen.
»Ich denke, es ist besser, wenn du jetzt langsam die Augen aufmachst, tief durchatmest und uns dann zurück nach Juist bringst«, erwiderte ich betont ruhig, um Manfreds fragilen Zustand nicht zu destabilisieren.
»Ich kann nicht«, entgegnete er matt. »Meine Augen …«
»Was ist mit deinen Augen?«, fragte ich hastig und spürte in meinem Innern meine Angst kalt pulsieren.
»Weiß nicht. Ich krieg sie nicht auf.«
»Dann warten wir noch einen Moment«, schlug ich vor. »Ruh dich noch aus.«
»Wir haben keine Zeit zum Ausruhen«, erwiderte Manfred mit kaum hörbarer Stimme. »Wir sind auf offener See, der Sprit wird knapp … nimm das Steuer.«
»Ich glaube, es ist besser, du tust, was er sagt.« Annas Finger krallten sich in meine Schulter. »Wir müssen umkehren.«
»Ich … ich kann doch nicht dieses Ding fliegen.« Entsetzt schüttelte ich den Kopf. »Woher soll ich das denn können.«
»Ist nichts anderes als beim Computerspiel«, gab Leif nun auch noch seinen Senf dazu. »Ziemlich easy.«
»Dann flieg du doch«, knurrte ich ungehalten.
»Au ja«, ertönte Leifs Stimme in meinem Kopfhörer. »Dann aber mit Looping.«
»Leif!«, sagte Anna knapp, worauf der Junge sofort verstummte.
»Nimm jetzt das Steuer in deine rechte Hand, Jan«, sagte Manfred mit schwacher Stimme, die selbst über das Headset wegen des Motorenlärms kaum zu hören war.
Ich saß stocksteif in meinem Sitz und glotzte durch die Windschutzscheibe auf die rotierende Silhouette des Propellers, durch die ich gut durchschauen und die Horizontlinie erkennen konnte.
Das kann nur ein Albtraum sein
, ging es mir wieder durch den Kopf. Aber wenn ich weiterhin darauf hoffte, von Motte aufgeweckt zu werden, würden wir so lange geradeaus weiterfliegen, bis die Cessna irgendwann wegen Spritmangels mit uns allen an Bord ins Meer stürzen würde.
Ich löste meinen Blick von dem Propeller und blickte auf den Steuerknüppel vor mir. Langsam streckte ich die Hand aus. Meine Finger schlossen sich um den Griff. Ich atmete zweimal tief ein und wieder aus. Alle meine Sinne befanden sich im Alarmzustand, denn ich wusste, was jetzt kommen würde.
Mühsam streckte Manfred seine Hand aus, mit dem Zeigefinger legte er einen kleinen weißen Kippschalter am
Armaturenbrett um. Im selben Moment spürte ich in meiner Hand die kraftvolle Verbindung zum Flugzeug.
Langsam wie in Zeitlupe neigte sich die rechte Tragfläche der Cessna – wir kippten seitlich ab.
Automatisch und ohne nachzudenken drückte ich den Steuerknüppel nach links, genauso wie ich beim Auto gegengelenkt hätte. Ich saß nur nicht in meinem Käfer, sondern in einem Flugzeug hoch am Himmel über der Nordsee.
»Ganz locker, Jan«, empfahl mir Manfred, seine Stimme klang jetzt etwas kräftiger. »Und mit Gefühl, so als wenn du mit dem Auto unterwegs wärst. Da reißt du ja auch nicht bei hundertvierzig Sachen am Lenkrad herum.«
Mein Blick saugte sich an der runden Instrumentenscheibe mit dem kleinen Flugzeug und dem künstlichen Horizont fest. Das abgebildete Flugzeug befand sich nicht mehr in der Waagerechten, sondern kippte gerade nach links ab, die Reaktion auf mein Gegensteuern.
Instinktiv drückte ich den Steuerknüppel nach rechts, sofort reagierte das kleine Flugzeug. Ich hob den Blick und sah nach vorne durch die Windschutzscheibe. Das hätte ich besser nicht gemacht. Denn als ich die reale Horizontlinie vor mir in Schräglage liegen sah, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich gerade ein Flugzeug flog. Dieses Bewusstsein, auf einem Sitz zu sitzen, der in einer nur Millimeter dünnen Blechhülle in rund hundert Metern Höhe durch die Luft flog, und dabei das Überleben von Anna, Leif und Manfred und natürlich mein eigenes in meiner rechten Hand zu halten, traf mich wie ein eiskalter Guss: Mir schoss das Adrenalin wie von einer Turboeinspritzpumpe abgefeuert durch die Blutbahn. Das Herz klopfte mir bis zum Hals. Meine Hände zitterten nicht, aber mein gesamter Körper schien von innen heraus zu vibrieren.
Wieder verriss ich den Steuerknüppel, nicht viel, aber ausreichend, um die Nase der Cessna abzusenken, als würden wir uns im Landeanflug befinden.
»Sachte, Jan. Ganz sachte«, mahnte Manfred mich. »Zieh den Steuerknüppel zu dir heran, aber nur wenig und mit Gefühl.«
Innerlich vor Adrenalin und Aufregung bebend, äußerlich mit stoischem Gesichtsausdruck und ruhiger Hand zog ich das Steuer zu mir heran. Sofort hob sich die Nase der Maschine. Gleichzeitig nahm ich das Steuer eine Idee nach links – das kleine Flugzeug lag genau waagerecht auf der weißen Linie, die den Horizont abbildete.
Ich nahm den Blick von den Instrumenten und sah nach draußen.
Die Cessna lag ruhig und vollkommen waagerecht in der Luft. Ich erlaubte es mir auszuatmen, was ich gefühlt seit ein paar Minuten nicht mehr getan hatte.
»Du bist ein Naturtalent«, ließ sich Manfred vernehmen.
Ich sah Manfred an, er lag noch immer seitlich in seinem Pilotensitz, hatte aber die Augen geöffnet und schien mit seinen Blicken die Instrumente zu kontrollieren.
»Wie geht’s dir?«, wollte ich wissen. »Kannst du fliegen?«
»Das wird nix, Jan«, antwortete Manfred und schloss die Augen wieder. »Ich steh immer noch kurz vorm Kollaps. Du musst uns runterbringen.«
»Was?« Panik stieg in mir hoch. »Was soll ich?«
»Keine Panik, Jan«, versuchte Manfred, mich zu beruhigen.
»Ich bekomme aber gerade Panik«, fuhr ich ihn an.
»Kein Grund dafür. Du machst das sehr gut.«
Ich hatte alles andere im Sinn, als mich über sein Lob zu freuen. Zu sehr beschäftigte mich die Erkenntnis, dass ich es war, der dieses Flugzeug flog. Dieses Wissen ließ die Kabine
immer kleiner werden, sodass ich kaum Luft bekam. Ich wollte hier raus, so schnell wie möglich!
»Du musst jetzt eine Kehre fliegen.« Manfreds Ankündigung löste einen neuen Adrenalinstoß bei mir aus, sodass ich das Blut in meinen Ohren rauschen hörte.
»Voll krass!«, rief Leif erfreut, seine Stimme gellte schmerzhaft laut in meinem Kopfhörer.
»Pst«, machte Anna.
»Zieh einfach nur den Steuerknüppel ganz langsam nach rechts«, wies Manfred mich an. »Ganz langsam, nicht zu schnell. Die Maschine fliegt dann von alleine eine große Rechtskurve.«
Ich biss mir vor Konzentration auf die Lippen, als ich tat, was Manfred gesagt hatte. Den Schmerz spürte ich nicht.
Langsam, ganz langsam legte sich die Cessna in eine Rechtskurve. Das Wendemanöver war erstaunlich einfach, was mich noch mehr beunruhigte. Fliegen konnte doch nicht so einfach sein.
»Jetzt geradeaus«, wies mich Manfred an. »Einfach das Steuer gerade halten und an etwas Schönes denken.«
»Wie lange wird es dauern, bis wir Juist erreichen?«, fragte ich mit vor Aufregung trockenem Mund.
»Nur ein paar Minuten.«
»Darf ich auch mal fliegen?«, ertönte Leifs Stimme im Kopfhörer.
»Ich dachte, du bist hochbegabt«, erwiderte ich. »Da solltest du eigentlich wissen, dass wir uns gerade in einer …«
»… pre-kä-ren Lage befinden?«, unterbrach Leif und betonte jede Silbe des neuen Wortes, das er gelernt hatte.
»Ganz genau, mein Lieber«, pflichtete ich ihm bei. »Unsere Lage ist wirklich unerfreulich. Wie geht’s dir, Anna?«, fragte ich ins Mikrofon und verzichtete darauf, mich umzudrehen, weil ich bereits genug damit zu tun hatte, meinen Blick zwischen
Steuerknüppel, Instrumenten und Horizont hin und her huschen zu lassen.
»Alles gut.« Annas Hand tauchte zwischen Sitz und Innenverkleidung auf und legte sich auf meine Schulter. »Du machst das prima. Ich vertraue dir.«
Das Gefühl von Annas Hand auf meiner Schulter tat mir gut, ich wurde automatisch ruhiger. Ein warmes Gefühl von Zuneigung stieg in mir auf und am liebsten hätte ich mich zu ihr umgedreht und sie geküsst. Was ich aus verständlichen Gründen nicht tat.
»Land!«, rief Leif so laut ins Mikrofon, dass ich vor lauter Schreck das Steuer verriss, worauf die Cessna ihre Nase senkte und der Horizont in meinem Blickfeld einen Satz nach oben machte.
Anna krallte vor Schreck ihre Fingernägel in meine Schulter, sagte aber nichts.
»Hoch!«, rief Manfred. »Zieh sie hoch. Zieh das Steuer zu dir ran!«
Gleichzeitig mit Manfreds Kommando zog ich den Steuerknüppel sachte zu mir heran und behielt gleichzeitig den künstlichen Horizont im Auge.
Die Cessna hatte gehorsam auf mein Flugmanöver reagiert und lag wieder stabil und waagerecht in der Luft.
Langsam atmete ich tief aus.
Annas Finger entspannten sich, und ich war mir sicher, dass ihre Fingernägel eine Reihe tiefer Abdrücke hinterlassen hatten.
»Sorry«, meldete sich Leif kleinlaut zu Wort. »Ich wusste nicht, dass du so schreckhaft bist.«
»Schon gut«, beruhigte ich ihn. »Alles gut.«
Da für Leif Lautstärke offenbar noch keine wesentliche Rolle spielte, schenkte ich mir einen pädagogischen Kommentar. Ich war ja schließlich nicht sein Vater.
Ich kniff die Augen zusammen und schaute angestrengt durch die Windschutzscheibe nach draußen. Und dann sah ich auch endlich die Umrisse einer Insel am Horizont auftauchen.
»Nimm das Steuer etwas nach links«, sagte Manfred. »Vor uns ist Borkum. Juist liegt direkt daneben.«
Die Nase der Cessna schwenkte ein Stück nach links, sodass wir die Insel seitlich anflogen.
»Nun korrigier deinen Kurs, sodass wir am Strand entlangfliegen.«
Ich war sehr erstaunt, wie leicht mir die Kurskorrektur fiel. Nur leicht den Steuerknüppel zur Seite ziehen und schon reagierte die Maschine zuverlässig auf meine Steuerung. Auch wenn mich das Steuern aus dem Geradeausflug bei konstanter Höhe nicht mehr in Panik versetzte, mochte ich nicht daran denken, was auf uns zukam, sobald wir Juist erreicht hatten.
Die Gesamtsituation erforderte meine völlige Aufmerksamkeit, sodass mir nicht in den Sinn kam, wie widersprüchlich es war, dass es Manfred gut genug ging, um mich einzuweisen, er sich aber nicht in der Lage sah, selber die Steuerung seines Flugzeugs zu übernehmen.
»Jetzt schwenkst du wieder nach rechts«, kommandierte Manfred mich. »Ja. Ja, genau so … noch ein Stück. Perfekt. Jetzt geradeaus weiter.«
Manfreds Stimme hörte sich überhaupt nicht mehr schwach, geschweige denn kurz vor einem Kollaps stehend an, als er mit der rechten Hand einen Schalter am Funkgerät umlegte.
»N-AK, Juist Tower, moin.«
»Juist Tower, N-AK, moin«, meldete sich die Flugsicherung Juist sofort.
»N-AK, Juist Tower, ready for Landing.«
»Juist Tower, N-AK, Landebahn 1.«
»N-AK, Juist Tower, wie sind die Winde?«, fragte Manfred mit vollkommen normaler Stimme, der man nicht anhörte, dass er gerade noch bewusstlos gewesen war.
Ich fuhr herum und sah ihn mit großen Augen an. Was war das denn jetzt für eine Spontanheilung?
»Juist Tower, N-AK, leichter Seitenwind, unter sechs Knoten.«
»N-AK, Juist Tower, bestens, danke.«
»Juist Tower, N-AK, gute Landung.«
Während des Funkgesprächs zwischen Manfred und der Flugsicherung Juist war die Insel immer näher gekommen. Mein Blick war auf die lang gezogene Insel vor uns gerichtet. Seitlich von uns waren zwei Kutter aufgetaucht, einer der Matrosen winkte zu uns hoch.
»Wir fliegen am Strand entlang«, sagte unser Pilot, und auch wenn mein Blick wie gebannt nach vorne gerichtet war, riss ich mich los und sah Manfred an, der gar nicht mehr wie ein Herzinfarktkandidat aussah, sondern einen erstaunlich fitten und agilen Eindruck machte.
»Warum übernimmst
du
nicht das Steuer?«, tönte Annas Stimme im Kopfhörer.
»Gleich«, entgegnete Manfred. »Siehst du die Landebahn, Jan?«
Ich blickte wieder geradeaus, während mir allmählich dämmerte, dass Manfred seinen Beinahkollaps nur vorgetäuscht haben musste – warum auch immer. Nach wie vor befand sich mein Adrenalinspiegel auf seinem Jahreshöchstwert, und bevor ich klar denken konnte, zeigte Manfred nach vorn.
»Nimm das Steuer leicht nach rechts.«
Automatisch folgte ich seiner Anweisung. Was hätte ich auch sonst tun können? Das Steuer einfach loslassen und sagen »Mach du weiter«?
Jetzt zeigte die Nase der Cessna genau mittig auf die vor uns liegende Landebahn.
»Fahr die Landeklappen aus.«
»Was soll ich?« Mein Herzschlag setzte zwei Schläge lang aus, als ich hörte, was Manfred gerade zu mir sagte.
»Krass!«, kreischte Leif fröhlich. »Jan soll landen!«
»Drück die beiden Knöpfe.« Manfred zeigte auf zwei im Armaturenbrett eingelassene nebeneinanderliegende Knöpfe, die von einer durchsichtigen Plastikkappe vor unbeabsichtigten Berührungen geschützt wurden. »Erst den linken, dann den rechten.«
Ich warf Manfred einen grimmigen Blick zu, in dem in Leuchtschrift zu lesen war, dass wir nach der Landung ein eindringliches Gespräch miteinander führen würden.
War ich eben noch von der Situation wie elektrisiert gewesen, verspürte ich jetzt eine erstaunliche Ruhe in mir. Und das lag nicht daran, dass Manfred wie durch eine Wunderheilung einen putzmunteren Eindruck machte, sondern an der kalten Wut, die langsam in mir hochstieg und mich immer ruhiger werden ließ, je höher der Wutpegel stieg.
Mit einer leichten Bewegung schob ich meinen Daumen unter die Plastikabdeckungen und drückte beide Knöpfe nacheinander. Sofort reagierte die Cessna und fuhr ihre Landeklappen aus, der Geräuschpegel durch den Luftwiderstand stieg enorm.
»Leg deine linke Hand hier aufs Gas.« Manfred deutete auf den schwarzen Bügelgriff zwischen uns.
Ohne zu zögern, packte ich den Schubregler.
»Nimm Gas weg, aber langsam. Schieb den Griff langsam nach vorn.«
Das Motorengeräusch wurde deutlich leiser, als ich tat, was Manfred sagte. Die Nase der Cessna sackte nach unten ab.
»Nicht so viel!« Manfred legte seine Pranke auf meine Hand und zog sie mitsamt Regler nach hinten.
Der Motor dröhnte laut, als sich die Drehzahl erhöhte. Die Maschine nahm ihre Nase wieder hoch.
»Jetzt das Steuer langsam nach vorn.«
Ich schob den Steuerknüppel eine Nuance nach vorne und erschrak, als ich sah, dass direkt vor uns die Landebahn begann.
»Noch mehr.« Ich spürte im Steuerknüppel, dass Manfred seinen eigenen Steuerknüppel etwas vorschob.
»Nimm das Gas noch weiter weg.«
Ich schob den Griff langsam weiter nach vorn. Das Motorengeräusch wurde leiser. Ein kurzes und heftiges Rütteln ging durch die Maschine, als die Räder den Boden berührten.
Wir waren gelandet!
»Ich übernehme«, sagte Manfred mit der größten Selbstverständlichkeit, als sei nicht das Geringste vorgefallen.
Meine Finger lösten sich nur widerwillig vom Griff des Steuerknüppels. Ich lehnte meinen Kopf an die Nackenstütze des Ledersitzes. Meine Hände begannen zu zittern.
Anna legte ihre Hand wieder auf meine Schulter.
»Geht’s dir gut?«, flüsterte sie mir ins Ohr, den Kopfhörer hatte sie abgenommen.
Ich streifte mit einem Griff ebenfalls das Headset vom Kopf.
»Ich weiß noch nicht«, erwiderte ich mit matter Stimme.
»Voll cool die Aktion, Captain de Fries.« Leifs Gesicht strahlte mich von der Rückbank zwischen den Sitzen hindurch an.
Ich hob die Handfläche, und Leif schob seinen Arm durch die Sitze hindurch, um mich abzuklatschen.
Bevor mein Adrenalinspiegel sank und ich vor Erschöpfung nicht mehr aus meinem Sitz hochkam, hatte ich noch etwas mit Manfred zu klären, der die Maschine gerade die letzten Meter bis zum Rasenstück vor der Abfertigungshalle ausrollen ließ. Die Cessna machte einen kleinen Hüpfer, als sie über die
Rasenkante rollte, um nach einer sanften Einhundertachtzig-Grad-Drehung an ihrem Stellplatz zum Stillstand zu kommen.
Die Stille dröhnte in meinen Ohren, als der Motor erstarb.
Wir waren tatsächlich lebend runtergekommen. Mit einem lauten Schnaufen atmete ich geräuschvoll aus. Annas Hand fuhr zärtlich von hinten über meinen Kopf.
»Happy Landing!« Ein breites Grinsen stand auf Manfreds Gesicht, als er ein paar letzte Kipphebel umlegte und den Zündschlüssel aus dem Schloss zog.
»Was sollte das, Manfred?« Mein Blick, den ich ihm zuwarf, war geeignet, ihn in gleicher Art und Weise zu durchbohren wie der gelb-schwarze Karbonpfeil die bedauernswerte Möwe.
»Herzlichen Glückwunsch zu deinem Jungfernflug, Jan«, beglückwünschte mich Manfred, unbeeindruckt von meinem Blick, der Bände sprach.
»Warum …?«, setzte ich an, wurde aber von Manfred im gleichen Atemzug routiniert unterbrochen; wahrscheinlich hatte er Gespräche dieser Art schon öfter geführt.
»Du erinnerst dich daran, dass ich dir erzählt habe, dass der Alleinflug für unsere Jugendlichen eine einmalige Erfahrung ist? Eine Erfahrung, die sie für ihr ganzes Leben prägt.« Manfreds Augen leuchteten, als er mir seine Philosophie erläuterte. »Die jungen Menschen haben vielleicht noch nichts in ihrem Leben so wirklich hingekriegt, die haben mehrfach Prüfungen abgebrochen, wenn es eng wurde. Sie fühlen sich als Versager, den Anforderungen nicht gewachsen. Ähnlich ist das mit den Ängsten. Menschen mit Flugangst fokussieren sich auf ihre Angst, diese thematisierte Angst, die sie sich in allen erdenklichen Variationen und wilden Farben ausmalen.« Manfred hob die Handflächen zum Kabinendach. »Sie kultivieren, ja zelebrieren ihre Ängste, stellen sich ihnen aber nicht.«
»Du hattest also gar keinen Herzanfall«, ignorierte ich seinen Vortrag, der mich gerade, gelinde gesagt, einen Scheiß interessierte. »Das war nur eine Farce?«
Manfred setzte ein unschuldiges Gesicht auf. »Du bist eine Viertelstunde vollkommen alleine geflogen. Du hast einige Flugmanöver durchgeführt und du bist selbstständig gelandet.«
Ich konnte kaum glauben, was er mir gerade erklärte. Es ging doch nicht nur um mich und meine Flugangst. Anna und der zehnjährige Leif hatten ebenfalls im Flugzeug gesessen. Die beiden hatten ebenso wie ich Ängste ausgestanden. Nun gut, Leif wohl nicht so sehr. Ihm hatte die Aktion ja noch Spaß gemacht.
Manfred strahlte mich entwaffnend offen an. »Du hast zwar allen Grund, sauer auf mich zu sein. Da gebe ich dir recht. Aber du hast auch allen Grund der Welt, stolz auf dich zu sein. Du hast dich deinen Ängsten gestellt!«
»Das gibt dir aber nicht das Recht, mich zwangszutherapieren!«, sagte ich und spürte, dass meine Wut wieder anstieg.
»Jan, du bist geflogen!« Manfred tippte gegen den Steuerknüppel. »Ganz alleine. Du hast dich deinen Ängsten gestellt. Respekt!«
»Und was ist mit Anna und dem Jungen?«, fuhr ich ihn wütend an. »Glaubst du, für die beiden war das alles nur ein großer Spaß?«
»Beruhig dich erst mal«, meinte Manfred und klopfte mir auf die Schulter.
»Wie kannst du nur so über mich bestimmen?« Wütend sah ich ihn an. »Wenn ich Flugangst habe, ist das meine Sache. Ich und nur ich allein entscheide darüber, ob und wie ich mit meiner Angst leben will oder nicht. Jeder hat das Recht auf seine eigenen Ängste.«
»Also, Jan …«, setzte Manfred zu einer Erklärung an.
»Zwangstherapie und Taschenspielertricks sind Nötigung!«, herrschte ich ihn wütend an, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen. »Jeder geht mit seinen Ängsten ganz individuell um.«
»Wer heilt, hat recht!«, lachte Manfred kurz auf, brach dann aber ab, als er meinen wutentbrannten Blick sah. »Lasst uns erst einmal aussteigen. Wenn du wieder festen Boden unter den Füßen hast, wirst du mir dankbar sein.« Hastig drückte er sich aus seinem Sitz hoch und stieg auf die Tragfläche, um von dort zu Boden zu springen.
»Darüber reden wir noch!«, schnaubte ich wütend, doch Manfred war schon verschwunden.
Ich hatte eine Stinkwut und war bis unter die Haarspitzen mit Adrenalin vollgepumpt. Manfred tat gut daran, mich nicht davon überzeugen zu wollen, dass es nur zu meinem Besten war, was er oben in der Luft abgezogen hatte.
»Komm.« Anna berührte meine Schulter. »Lass uns erst mal hier raus.«
Ich nickte und drückte mich aus dem Sitz hoch. Rückwärts gehend setzte ich meinen Fuß auf die Tragfläche und richtete mich auf. Meine Hände zitterten, als ich Anna eine Hand entgegenstreckte, um ihr beim Ausstieg behilflich zu sein. Diesmal zitterten meine Hände nicht vor Aufregung oder Angst, sondern vor Wut.
Nachdem Anna von der Tragfläche geklettert war, reichte ich ihr Leif hinunter und sprang dann ebenfalls auf den Rasen. Der feste Boden unter meinen Füßen fühlte sich wunderbar stabil an.
»Mein Held«, sagte Anna liebevoll und umarmte mich. »Das hast du toll gemacht.«
Ich erwiderte nichts auf ihre Bemerkung, denn mir war ganz anders als heldenhaft zumute. Meine Beine waren wachsweich, und mich überkam plötzlich eine lähmende Müdigkeit, als hätte man mir die Energiezufuhr gekappt, was auch kein
Wunder war, da mein Adrenalinspiegel sich gerade zu normalisieren begann.
»Das war echt krass. Können wir das noch mal machen?«
Auch wenn mir in keiner Weise zum Lachen zumute war, zwang mir Leifs kindliche Begeisterung ein gequältes Lachen ab.
»Dann aber mit Fallschirm, ich schmeiß dich aus dem Flugzeug«, bot ich ihm mit einem Augenzwinkern an.
»Es sterben zwar mehr Menschen beim Fahrradfahren als beim Fallschirmspringen«, entgegnete Leif mit nachdenklicher Miene. »Aber ich glaube, ich muss das Angebot ablehnen. Ich bin noch minderjährig.«
»Dann warten wir eben so lange, bis du dich rasieren musst«, antwortete ich und löste mich aus Annas Umarmung. »Ich schau mal eben, wo Manfred abgeblieben ist.«
»Lass ihn leben«, grinste Anna und gab mir einen Kuss auf die Wange.
»Muss ich mir noch überlegen«, erwiderte ich grimmig.
»Und was ist mit der Kiste Bitter Lemon?«, erinnerte Leif mich an mein Versprechen oben in der Luft. »Ich hab dir gezeigt, wo das Funkgerät ist.«
»Ich lad dich ein, Leif.« Anna streckte ihm die Hand hin. »Komm, sei Kavalier und begleite mich an die Bar.«
»Klasse!«, rief Leif erfreut und ergriff Annas Hand. »Eine kalte Lemon und ein Date obendrauf. Mega!«
Während Leif Anna stolz Richtung Flugplatzrestaurant begleitete, machte ich mich auf die Suche nach Manfred.
Ich hatte nicht nur ein Hühnchen mit ihm zu rupfen, sondern einen ganzen Hühnerhof!