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Wütend stemmte ich die Hände in die Hüften und blickte mich suchend um.
So stinksauer, wie ich auf Manfred war, hätte ich ihm nur allzu gern auf der Stelle das Gefieder gestutzt. Allerdings konnte ich ihn nirgends entdecken. Er schien wie vom Erdboden verschluckt.
In alle Richtungen blickend, überquerte ich den Rasenstreifen, auf dem Manfred die Cessna fein säuberlich am Ende einer Reihe von kleinen Sportmaschinen geparkt hatte. Schräg vor mir befand sich das Abfertigungsgebäude. Ich ging bis zum Warteplatz für Passagiere, der mit einer Kette abgesperrt war, und warf einen Blick durch das Fenster in das Innere des Gebäudes.
Nichts. Keine Spur von Manfred.
Suchend sah ich mich weiter um. Ein paar Passagiere, die auf ihren Flug zurück aufs Festland warteten, beobachteten mich gelangweilt.
Ich wandte mich ab und richtete meine Aufmerksamkeit auf den Tower. Wenn jemand den Überblick hatte, dann die Leute von der Flugsicherung. Nachdem ich mich durch eine Gruppe Urlauber hindurchgeschlängelt hatte, die gerade ihre Koffer und Taschen auf den Gepäckkarren des Kutschentaxis luden, überquerte ich den Vorplatz, während ich gleichzeitig auch hier um mich schaute, ob ich nicht doch irgendwo Manfred erspähen konnte.
Fehlanzeige.
Es war, als ob sich Manfred in Luft aufgelöst hatte. Aber irgendwo musste er einfach stecken. So schnell konnte er weder die Räume der Jugendbildungsstätte noch die dahinterliegenden Gebäude längs der Flugplatzstraße erreicht haben. Er war doch nur kurz vor uns aus dem Cockpit geklettert und gleich darauf verschwunden.
Mein Blick fiel auf den Hangar mit dem aufgemalten gelben Flieger über den ein Stück weit offen stehenden Rolltoren. Obwohl das Innere der Halle im Halbdunkel lag, konnte ich hinter der Tragfläche einer ebenfalls gelben Propellermaschine eine Art Schießstand erkennen, an dessen Ende ein paar bunte Zielscheiben angebracht waren.
Da Schießstände für Gewehre und Pistolen deutlich höhere Sicherheitsstandards hatten als diejenigen hier vor mir, tippte ich auf einen Hobbyschießstand für Bogenschützen. Also stimmte Leifs Erzählung über den Leistungskurs für besonders talentierte Bogenschützen. Was mich wieder an seinen Bruder denken ließ. Wenn Leifs Bruder, wie von Traute angekündigt, auftauchen sollte, wollte ich ihm gern ein paar Fragen stellen – vor allem die, wo er heute Morgen gewesen war.
Sobald ich dem Tower einen Besuch abgestattet hatte, würde ich mir den Flugzeughangar mal genauer anschauen.
Vor der Glastür, hinter der sich der Zugang zum Tower befand, blieb ich stehen. Nachdem ich an der Tür gerüttelt hatte und diese trotz guten Zuredens verschlossen blieb, legte ich meinen Daumen auf die abgewetzte Klingel direkt neben der Eingangstür.
»Moin«, erklang sofort eine Männerstimme. »Was gibt’s?«
»Moin«, erwiderte ich den Gruß. »Mein Name ist Jan de Fries. Ich bin ein Freund von Manfred Bendix und hätte da mal ’ne Frage.«
»… de Fries?«, echote die Lautsprecherstimme. »Sind Sie der Anwalt?«
»Ja, der bin ich«, antwortete ich verdutzt und wunderte mich, dass die Flugsicherung meinen Namen kannte; egal wie groß oder klein die Insel war.
Metallisch schnarrte der Türöffner.
Ich drückte die Tür auf. Vor mir lag eine Wendeltreppe, die ins Obergeschoss des lediglich zweigeschossigen kleinen Towers führte, wo sich die Räume der Flugsicherung befanden.
Langsam stieg ich die Stufen hoch und reckte neugierig den Hals.
Von Hektik oder blinkenden und summenden technischen Gerätschaften war im Innern des Towers weit und breit keine Spur. Stattdessen wirkte die Flugsicherung übersichtlich, funktional, aber dennoch freundlich mit gelben Schranktüren und blauen Arbeitsplatten ausgestattet. Der Raum war sechseckig und ab Sitzhöhe der u-förmigen Arbeitsplatte bis zur Decke hin verglast. Zwei in Augenhöhe angebrachte Computermonitore, von denen einer Wetterdaten anzeigte und der andere eine Liste mit technischen Daten, ein paar Tastaturen und Handmikrofone sowie ein in Griffweite abgestellter Feldstecher waren das gesamte technische Inventar, das ich als Laie erkennen und einordnen konnte.
»Moin«, begrüßte mich ein etwa fünfzigjähriger schlaksiger Mann mit Halbglatze und grauem Viertagebart, so wie ich ihn trug.
»Moin«, erwiderte ich den Gruß des Fluglotsen, denn um einen solchen musste es sich ja hier im Tower handeln. »Fein, dass Sie einen Moment Zeit für mich haben.«
»Kein Problem«, erwiderte der Mann und streckte mir freundlich lächelnd seine Hand entgegen. »Augenblicklich ist es ruhig hier. Da können wir gern einen Moment miteinander schnacken. Was kann ich denn für Sie tun?«
Der Mann in der blauen Jeans und dem schwarzen Kapuzenpulli sah mich interessiert an, während er in seinem Drehstuhl vor und zurück wippte, als würde er gemütlich in einem Schaukelstuhl vorm Kaminfeuer sitzen und seinen Schachkumpel begrüßen.
»Jan de Fries«, stellte ich mich vor und ergriff die Hand des Mannes. »Ich suche Manfred Bendix.«
»Matthias Semper«, erwiderte der Fluglotse und schüttelte kräftig meine Hand. »Sie sind der Anwalt.«
Ich nickte. »Stimmt. Scheint sich ja schnell herumzusprechen.«
Er lachte. »Wir sind hier auf Juist. Hier kennt jeder jeden, und Neuigkeiten sprechen sich schneller herum, als ’ne Möwe kacken kann. Sie vertreten Manfred. Richtig?«
Wieder nickte ich. »Stimmt auch.«
»Und ich schätze, Manfred hatte …«, der Fluglotse sah mich abschätzend an, »… einen … sagen wir mal Schwächeanfall …«
Ich spürte, wie sich mein Puls spürbar beschleunigte.
»Ach«, erwiderte ich. »Das hat sich auch schon herumgesprochen?«
»Nö«, der Fluglotse schüttelte seinen Haarkranz, »so ein Schwächeanfall gehört zum Standardrepertoire unserer Pinch-Hitter-Lehrgänge. Das sind unsere Trainingslehrgänge für Notfälle im Flugbetrieb«, erklärte er.
»Ich weiß«, entgegnete ich mit schmalen Lippen. »Hat Manfred mir schon erklärt.«
»Am Boden oder in der Luft?«
»Zuerst am Boden«, antwortete ich.
»Verstehe.« Der Fluglotse sah mich mitfühlend an. »Flugangst?«
»Eine Scheißflugangst!«, bestätigte ich.
Wieder nickte der Fluglotse mitfühlend. »Und Manfred hat oben einen Schwächeanfall bekommen und Sie mussten den Vogel landen.«
Mit zusammengepressten Lippen nickte ich.
Wie ein vom Meer kommendes Unwetter spürte ich erneut Wut in mir aufsteigen. Eine heißkalte Wut auf Manfred, der es sich angemaßt hatte, mich ohne mein Wissen zu therapieren und Anna und mich in Angst und Schrecken zu versetzen. Leif ließ ich mal außen vor, der hatte seinen Spaß gehabt.
»Verstehe«, sagte der Fluglotse erneut. »Diese Konfrontations- geschichten sind nicht unumstritten …«
»Nicht unumstritten?«, stieß ich hervor. »Können Sie sich nicht vorstellen, welche Todesängste man aussteht, wenn der Pilot ohne Vorwarnung die Augen verdreht und sagt, Sie sollen fliegen?«
»Ja, natürlich.« Beschwichtigend hob der Fluglotse beide Hände. »Ebendeshalb wird diese Situation als Flug unter Notfallbedingungen geübt.«
»Und die Flugschüler wissen nichts davon?«, fragte ich ungläubig.
»Nein. Ich meine natürlich, ja«, versicherte der Fluglotse. »Alle Projektteilnehmer wissen Bescheid. Wir sagen unseren Jugendlichen immer konkret, was sie in den Kursen und Projekten erwartet. Da wird niemand von null auf hundert einer solcher Situation ausgesetzt.«
Ich atmete tief aus, sagte aber nichts. Mein Puls ratterte wie eine Nähmaschine im Akkord.
»Wir bilden hier bei uns jährlich um die sechshundert Teilnehmer aus«, erklärte der Fluglotse stolz, »jeder weiß, worauf er sich einlässt.«
»Ich nicht«, unterbrach ich ihn. »Wir wollten nur einen Rundflug machen.«
»Sie kennen Manfred privat«, stellte der Fluglotse fest, während er gleichzeitig zum Mikrofon griff. »Moment, geht gleich weiter.«
»Juist Tower, K-AH, moin«, meldete sich der Fluglotse, wie ich ihn selber schon über Kopfhörer gehört hatte.
»K-AH, Juist Tower, ready for Landing.«
»Juist Tower, K-AH, Landebahn 1.«
Der Fluglotse schaltete das Mikrofon aus und sah mich an. »Sorry. Also, Sie kennen Manfred privat?«
Ich nickte. »Privat und als Anwalt.«
»Manfreds Art, Sie mit Ihrer Flugangst zu konfrontieren, scheint nicht Ihre Zustimmung gefunden zu haben«, stellte der Fluglotse fest, während er mich musterte.
»Sie sind ein guter Beobachter.«
»Muss ich ja sein«, lächelte mein Gegenüber und machte eine ausladende Handbewegung zur Panoramascheibe, hinter der sich der gesamte Flugplatz ausbreitete. »Allein schon von Berufs wegen. Aber davon abgesehen spricht Ihr Gesicht für sich.«
»Und das nicht ohne Grund. Sie haben einen guten Ausblick von hier oben«, stellte ich fest und trat einen Schritt näher an die Fensterfront heran. »Wissen Sie zufällig, wo sich Manfred aufhält?«
Direkt vor mir sah ich die Abfertigungsgebäude, vor die gerade einer der blau-weißen Inselflieger der Frisia gerollt war. Der Pilot stieg aus und ging um das zweimotorige Flugzeug herum, um seinen Passagieren die Seitentüren zu öffnen. Am Absperrgitter warteten bereits zwei Kutscher mit ihren Gepäckkarren, um die neu eingetroffenen Feriengäste in Empfang zu nehmen.
Links war gut der Hangar zu erkennen, in dem ich die Zielscheiben gesehen hatte. Gleich dahinter erstreckten sich entlang der Flugplatzstraße die flachen Backsteingebäude, in denen sich die Räume der Jugendbildungsstätte befanden. Den Gebäuden gegenüber lag ein Basketballfeld, auf dem zwei Jugendliche Körbe warfen.
Während ich mir den Flugplatz mit seinen Gebäuden, Hallen und den vielen unterschiedlich großen Sportflugzeugen aus der Towerperspektive ansah, erteilte der Fluglotse Matthias Semper zwei weiteren Flugzeugen ihre Starterlaubnis.
Vor mir erhob sich soeben einer der blau-weißen zweimotorigen Inselflieger der Frisia-FLN von der Landebahn und legte sich in eine weiche Rechtskurve, während er erstaunlich schnell an Höhe gewann. Die Motoren dröhnten gedämpft durch die Panoramascheiben.
»Das ist eine Britten-Norman Islander«, sagte der Fluglotse, der meinem Blick folgte und meine Frage nach Manfred ignorierte. »Neun Sitzplätze, zwei Lycoming-Triebwerke mit je 260 PS. Eine sehr robuste Maschine, die sich trotz unserer typischen Seitenwinde hier auf der Insel selbst bei einer Windstärke von dreißig Knoten noch sehr gut starten und landen lässt.«
»Die kenn ich«, sagte ich ohne große Begeisterung. »Sind dreißig Knoten viel?«
Der Fluglotse lachte leise. »Na ja, wie man’s nimmt. Das ist schon ein steifer Wind, da sollten Sie den Strandkorb besser festzurren. Auf See gibt das schon richtige Wellen mit viel Schaum und Gischt.«
Ich schwor mir, sollte ich jemals wieder in meinem Leben ein Flugzeug besteigen, würde ich mir vorher den Wetterbericht plus aller Wind- und Wetterdaten anschauen.
»Aber keine Sorge. Falls Sie irgendwann mal bei solchem Wetter fliegen sollten, unsere Piloten hier sind echte Windprofis. Die fliegen locker bei solchen Bedingungen.«
»Das werde ich ganz sicher nicht!« Energisch schüttelte ich den Kopf. »Im Zweifelsfall nehme ich die Fähre.«
»Hey! Was ist denn …« Der Fluglotse schreckte in seinem Drehstuhl hoch und reckte den Hals. »Wenn das mal nicht …«
Ohne den Blick zu wenden, tastete er nach dem seitlich von ihm stehenden Feldstecher. Ich beugte mich kurz vor und schob ihm das Teil über die Arbeitsplatte zu. Mit einer Handbewegung hob er es an die Augen und drehte hastig an der Schärfeneinstellung.
»Verdammt!«, murmelte er und drehte den Regler zwischen den Gläsern eifrig vor und zurück. »Aber jetzt … nein. Verdammt!« Mit einem Ruck nahm der Fluglotse das Fernglas runter und sah mich enttäuscht an. »Nichts mehr zu sehen.«
»Was war denn?«, wollte ich wissen und reckte den Hals, obwohl ich ohne Fernglas sicherlich nicht das sah, was er selbst mit seinem Feldstecher nicht sehen konnte.
»Ich dachte …«, er stellte das Fernglas griffbereit vor sich auf die Arbeitsplatte, »… es sei jemand Fremdes.«
»Wieso Fremdes?«, fragte ich verblüfft. »Das hier ist ein Flugplatz. Hier kommen doch ständig neue Urlauber an, zig Leute laufen hier herum. Oder kennen Sie die alle?«
»Nein, natürlich nicht.« Semper schüttelte den Kopf. »Aber wenn man hier oben sitzt, sieht man so ziemlich alles. Und wenn man so viele Jahre hier den Flugbetrieb leitet wie ich, erkennt man Touristen, Piloten und die Jugendlichen der Bildungsstätte auf den ersten Blick. Die allermeisten verhalten sich gleich.«
»Erstaunlich«, nickte ich anerkennend.
»Nicht so wild«, winkte der Fluglotse ab. »Es ist recht einfach, einen Piloten von einem der Jugendlichen zu unterscheiden. Und Urlauber, die mit dem Flieger ankommen, haben Gepäck dabei. Einheimische, die mit dem Inselflieger ankommen, kennt man in der Regel ohnehin alle. Also gar nicht so schwer. Außerdem habe ich ein fotografisches Gedächtnis. Wen ich einmal gesehen habe, erkenne ich sofort wieder. Ich kann ihn zwar nicht immer sofort zuordnen, aber weiß, dass er mir im Zusammenhang mit dem Flugplatz schon mal untergekommen ist. Und den Typen da draußen hatte ich bislang noch nicht gesehen.«
»Ja und?« Ich wusste nicht, was daran so Besonderes sein sollte, dass der Fluglotse jemanden auf dem Gelände ausgemacht haben wollte, der ihm unbekannt war.
»Sorry, können Sie ja nicht wissen«, lachte der Fluglotse. »Sie denken wahrscheinlich, ich habe den totalen Kontrollwahn. Dem ist aber nicht so. Wir hatten heute Nacht einen Einbruch im Hangar. Haben wir am Morgen sofort bemerkt. Deshalb achte ich heute besonders darauf, ob mir jemand auffällt, den ich hier noch nicht gesehen habe.«
»Verstehe«, sagte ich. »Von dem Einbruch habe ich heute Vormittag gehört.«
»Sag ich doch«, grinste der Fluglotse. »Inselfunk – schneller, als Möwen kacken.«
»Was ist denn gestohlen worden?«, wollte ich wissen.
»Das ist ja gerade das Merkwürdige«, sagte Semper. »Es ist nicht wirklich was geklaut worden. Reste aus dem Kühlschrank, eine Steppweste und ein paar Kissen.«
»Hört sich so an, als hätte jemand Hunger gehabt und gefroren.«
»Stimmt.« Der Fluglotse trommelte nachdenklich mit den Fingerspitzen gegen das Mikrofon. »Aber wer sollte hier hungern und frieren? Obdachlose haben wir nicht.«
»Ist auch ein Bogen weggekommen?«, fragte ich ins Blaue hinein, da mir gerade ein Gedanke kam. »Vielleicht zusammen mit ein paar gelb-schwarzen Karbonpfeilen?«
Überrascht hob der Fluglotse den Kopf und sah mich erstaunt an. »Woher wissen Sie das denn? Haben Sie das etwa auch heute Vormittag gehört?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nö.«
»Hätte mich auch gewundert.« Sempers Blick wurde misstrauisch. »Wir haben nämlich erst vorhin entdeckt, dass Pfeil und Bogen fehlen, und dem Dorfsheriff noch gar nichts melden können, weil der mit Manfreds Notlandung beschäftigt war.«
Ich erzählte dem Fluglotsen von unserem Strandspaziergang und der Möwe, die ein unbekannter Schütze mit einem gelb-schwarzen Karbonpfeil im Flug wie ein Hühnchen am Grill durchbohrt hatte.
»Wenn’s kein Zufallstreffer war, konnte der Schütze ausgesprochen gut mit Pfeil und Bogen umgehen«, sagte Semper und gab mir ein Zeichen, weil er zwei weiteren Inselfliegern ihre Landeerlaubnis erteilen musste.
Während der Fluglotse mit den anfliegenden Maschinen Daten austauschte, beobachtete ich das Flugfeld. Als mein Blick in östliche Richtung fiel, sah ich eine Gestalt mit Kapuze am Ende der Flugplatzstraße abbiegen und zwischen den mit Strandhafer bewachsenen Dünen verschwinden. Schnell griff ich nach dem Fernglas und stellte die Schärfe ein. Zu spät. Die Gestalt war verschwunden.
»Was ist da hinten?«, fragte ich Semper, der den Funkkontakt beendet hatte, während ich das Fernglas an meine Augen presste und versuchte, doch noch etwas zu erspähen.
»Da?« Der Fluglotse blickte in dieselbe Richtung, die ich gerade mit dem Feldstecher absuchte. »Da hinten an der Ostspitze liegt der Kalfamer, ein Vogelschutzgebiet. Da gibt es sonst nix außer Vögeln und einer kleinen Aussichtshütte zur Vogelbeobachtung.«
»Darf man da hin?« Ich setzte das Fernglas ab und stellte es zurück auf seinen Platz, als ich aus den Augenwinkeln eine wohlbekannte Gestalt im Halbdunkel des Hangars unter uns verschwinden sah.
Manfred!
»Nee, darf man nicht«, erwiderte der Fluglotse. »Der Rundweg um den Kalfamer ist nur in der Wintersaison November bis März begehbar. Und dann auch nur bei Niedrigwasser.«
»Sorry, ich muss los«, entgegnete ich hastig und war schon auf dem Weg zur Treppe. Diesmal wollte ich Manfred erwischen! »War nett, mit Ihnen zu plaudern.«
»Hey, wo wollen Sie denn so plötzlich hin?«, rief Matthias Semper hinter mir her, aber ich war schon zur Hälfte die Treppe hinuntergelaufen.
Es waren nur wenige Meter bis zum Hangar, in den ich Manfred hatte verschwinden sehen. Die beiden Rolltore waren weiter zur Mitte hin zusammengeschoben worden, sodass das Innere jetzt überwiegend im Halbdunkel lag. Den gelben Flieger konnte ich noch gut erkennen, die Zielscheiben nicht mehr, die hatte das Zwielicht verschluckt.
»Moin!«, rief ich in die Halle hinein und schob mich durch den mannsbreiten Spalt zwischen den Rolltoren hindurch.
Während sich meine Augen an das Halbdunkel des Hangars gewöhnten, machte ich zwei Schritte in die Halle hinein.
Der Hangar war menschenleer. Auch von Manfred war nichts zu sehen.
»Moin!«, rief ich noch mal, diesmal etwas lauter.
Aber auch diesmal rührte sich nichts.
Langsam ging ich tiefer in den Hangar hinein. Links von mir an der Seitenwand standen ein paar hölzerne Spinde, die mit kleinen, aber stabil wirkenden Vorhängeschlössern verschlossen waren. Durch drei schmale Seitenfenster unter dem Dachansatz fiel ein Streifen Tageslicht, in dem kleine Wolken von Staubpartikeln tanzten.
Ich blieb stehen und ließ den Anblick des gelben Kleinflugzeugs auf mich wirken, das in der Mitte des Hangars stand und dessen linke Flügelspitze nur eine Armlänge von mir entfernt in die Halle ragte. In meiner Magengegend fühlte es sich ziemlich flau an.
Seit dem Augenblick, als Manfred mich oben am Himmel aufgefordert hatte, den Steuerknüppel zu übernehmen, hatte ich noch keinen Moment Zeit gehabt, diese Ausnahmesituation in mir sacken zu lassen, geschweige denn zu verarbeiten.
Erst jetzt, in diesem Moment im Hangar, als ich alleine neben einem ähnlichen Flugzeug stand, wie ich es noch vor wenigen Augenblicken selber gesteuert hatte, schwappte eine Woge an Gefühlen in mir hoch, wie sie gegensätzlicher nicht sein konnten. Meine Gefühle während des von Manfred inszenierten Notfalls reichten von Panik und Todesangst bis hin zu Stolz und Erleichterung, nicht in Panik verfallen zu sein und gemeinsam mit Anna und Leif den Flug lebend überstanden zu haben – und natürlich zu der Stinkwut auf Manfreds Spielchen.
Langsam streckte ich die Hand aus und berührte behutsam die Flügelspitze der Maschine. Das Metall fühlte sich warm unter meiner Hand an. Nichts, was einem Angst machen musste. Angst machte mir nur die Vorstellung, dass diese Tonnen Metall schwerelos durch die Luft flogen und man der Technik auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war, sobald sich die Türen hinter einem schlossen, und natürlich einem völlig fremden Menschen – dem Piloten.
Also doch lieber selber fliegen , dachte ich ironisch.
Ein unterdrückter Schrei unterbrach meine Gedanken.
Ich fuhr herum.
So überraschend der Schrei erklungen war, so abrupt war er fast im gleichen Moment schon wieder verstummt.
War der Schrei von draußen gekommen?
Das erschien mir das Naheliegendste zu sein, denn hier in der Halle hätte er sich anders angehört. Langsam ging ich weiter und durchquerte den Hangar, bis ich die gegenüberliegende Seite erreicht hatte. Ein paar Schritte weiter schälten sich die Umrisse zweier großer Zielscheiben aus dem Halbdunkel, die auf zwei frei stehende Holzwände geklebt waren. Auf dem Boden waren mehrere Streifen gelbes Klebeband aufgebracht, die vermutlich unterschiedliche Entfernungen zu den Zielscheiben markierten. Die gleichen Markierungen waren mir schon auf dem Boden vor der Halle aufgefallen, sie ergänzten offenbar diese hier, indem sie größere Distanzen markierten.
Seitlich der Zielscheiben standen zwei Metallspinde, deren Türen mithilfe einer Kette und eines schweren Vorhängeschlosses behelfsmäßig abgesperrt waren. Die Schlösser beider Türen waren eingedrückt und so schwer beschädigt, dass sie nicht mehr funktionstüchtig waren. Offenbar handelte es sich bei den Spinden um die aufgebrochenen Schränke, von denen mir der Fluglotse erzählt hatte.
Bevor ich die Schränke genauer anschauen konnte, hörte ich ein Geräusch, als sei eine Glasflasche zersplittert. Diesmal konnte ich die Herkunft des Geräuschs lokalisieren. Das Klirren war aus dem hinteren Bereich der Halle gekommen, dem Bereich, der im Dunkeln lag.
Natürlich hätte ich auf dem schnellsten Weg aus dem dämmrigen Hangar verschwinden können, aber vielleicht hatte sich jemand verletzt und benötigte Hilfe. Außerdem trieb mich die Neugier, zu ergründen, was hier los war. Vielleicht fand auch gerade ein neuer Einbruch statt.
Vorsichtig näherte ich mich dem dunklen Teil des Hangars. Auf dem Fußboden sah ich einen dünnen Lichtstreifen, der durch eine schmale Tür an der Rückwand des Hangars fiel.
Wieder schepperte es laut, gefolgt von einem dumpfen Aufschrei.
Mit ein paar schnellen Schritten stand ich vor der Tür. Ohne lange zu überlegen, griff ich nach der Klinke und drückte sie hinunter. Die Tür war unverschlossen und schwang geräuschlos auf. Der dahinterliegende Raum wurde wie der übrige Hangar durch ein schmales Oberlicht erhellt. Auch hier war die Beleuchtung ausgeschaltet. Bei dem Raum handelte es sich um ein kleines Büro mit nur einem Schreibtisch, auf dem ein Computer stand sowie ein paar Büroutensilien lagen.
Ich erkannte Manfred sofort.
Der Pilot stand mit dem Rücken an der Wand und wurde von einem Mann in schwarzer Fallschirmspringermontur mit gelben Seitenstreifen attackiert, der beide Hände um Manfreds Hals gelegt hatte.
Ein verzweifeltes Röcheln ertönte aus Manfreds Kehle, er begann panisch mit den Füßen um sich zu treten.
»Mach das nicht noch einmal, du Scheißkerl … du verdammtes Arschloch!«, keuchte der Mann wütend und drückte Manfreds Luftröhre ab. »Wir ziehen das jetzt durch …«
Manfred versuchte, die Arme des Mannes zur Seite zu schlagen. Vergeblich. Auch wenn er breiter und wuchtiger wirkte, schien die Wut dem Angreifer enorme Kräfte zu verleihen, mit deren Hilfe er Manfred buchstäblich an die Wand nagelte.
»… oder besser noch … ich zieh’s alleine durch!«, stieß der Mann wütend hervor.
»Jetzt ist Schluss!«, donnerte ich entschlossen und war mit zwei Schritten bei den beiden Kontrahenten.
Ohne Warnung schlug ich dem Mann mit meinen Fäusten, deren Finger ich ineinander verschränkt hatte, an seine Ellbogen, sodass seine Arme von der Wucht meines Schlages nach oben flogen. Durch den harten Schlag verlor der Mann das Gleichgewicht, er machte einen Ausfallschritt zur Seite, was ich wiederum nutzte, um ihm mit meinem ausgestreckten Bein in die Kniekehle seines Standbeins zu treten.
Der Tritt war gemein und tat weh. Manfreds Angreifer schrie gellend auf, als ihn mein Fuß von hinten ins Gelenk traf. Es knirschte laut, gleichzeitig stürzte der Mann zu Boden, wo er mit einem schmerzerfüllten Fluch sein Bein umklammerte.
Meine Arme schossen nach vorn und fingen Manfred auf, der ebenfalls durch die Wucht meines Schlages, aber wohl auch aufgrund akuten Sauerstoffmangels benommen wankte.
Manfreds Augen waren weit aufgerissen, er rang schwer nach Atem. Auch wenn ich ihm vor wenigen Augenblicken noch aus lauter Wut über seine Spielereien Tod und Teufel an den Hals gewünscht hätte, tat ich jetzt alles, um ihm zu helfen.
»Ganz ruhig, Manfred!«, versuchte ich, ihn zu beruhigen, und hielt ihn an den Schultern fest, damit er nicht der Länge nach auf den Hallenboden schlug. »Alles ist in Ordnung. Du musst ruhig atmen, entspann dich.«
Manfred schnappte hastig nach Luft und bekam prompt einen Hustenanfall, weil er sich verschluckte. Mit festem Griff packte ich ihn unter und klopfte ihm ein paarmal kräftig auf den Rücken. Er keuchte laut, beruhigte sich aber innerhalb weniger Sekunden.
Noch während ich mich um Manfred kümmerte, hatte sich dessen Angreifer von meinem Tritt erholt und stand wieder auf den Beinen.
»Sie?«, rief ich überrascht aus, als der Mann mit dem grau melierten Kinnbart Anstalten machte, sich erneut auf uns zu stürzen.
»Dir zeig ich’s, Arschloch!« Leifs Vater stürzte wie ein wild gewordener Stier auf uns zu.
Nun bin ich kein geübter Kämpfer. Nein, noch nicht einmal ein Gelegenheitsraufer, aber offenbar macht man in Notsituationen intuitiv das Richtige. In meinem Fall war es eine leichte Drehung, sodass ich mit Manfreds Oberkörper den Angreifer rammte und erneut aus dem Gleichgewicht brachte. Wieder knickte der Mann im Knie ein. Er schien auch kein Kämpfer zu sein, dafür stellte er sich zu ungeschickt an. Er hatte offenbar vor Wut seine Fassung verloren und war Manfred an die Gurgel gegangen. Ein Bedürfnis, das ich nach meinem Horrorflug mit Manfred bis zu einem gewissen Punkt sehr gut verstehen konnte.
Mit beiden Händen stützte sich Philipp Albrecht auf dem Schreibtisch ab und wandte mir seine Kehrseite zu. Ich konnte einfach nicht widerstehen – mit voller Wucht trat ich Leifs Vater in den Hintern, sodass er kopfüber hinter dem Schreibtisch verschwand, nicht ohne dabei den Schreibtisch freizufegen: Telefon, Monitor und Tastatur folgten ihm zu Boden.
»Volltreffer!«, kommentierte ich zufrieden Albrechts Abgang, dann packte ich Manfred am Revers seines Jacketts, das nicht mehr so gut aussah wie zu Beginn unserer Verabredung. »So, und du stehst jetzt mal wieder auf eigenen Beinen!«, raunzte ich ihn an, hielt ihn aber doch noch fest, damit er sein Gleichgewicht finden konnte.
»Danke«, keuchte Manfred atemlos, sein Gesicht war puterrot angelaufen. »Das war in letzter Sekunde.«
»Ach was, das hättest du auch alleine hinbekommen«, winkte ich ab und musterte ihn aufmerksam. »Geht’s wieder?«
Manfred versuchte sich an einem gequälten Grinsen. »Ja. Geht.«
»Na, denn.« Ich löste meine Hände von seinen Schultern und vergewisserte mich, dass er nicht mehr umkippte, bevor ich mich Albrecht zuwandte, der hinter dem Schreibtisch ein paar wilde Flüche ausstieß.
In sicherem Abstand umrundete ich den Schreibtisch und konnte mir ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen, als ich Philipp Albrecht, umringt vom Papiermüll aus dem umgestürzten Papierkorb und mit dem Computerbildschirm quer über seiner Brust, zwischen Wand und Schreibtisch eingeklemmt liegen sah. Auch wenn ihn der Bodycheck mit Manfreds Oberkörper schmerzhaft zu Boden gerissen hatte, fluchte er schon wieder munter, während er schwerfällig versuchte, sich aufzurappeln.
»Moin, Albrecht. Na, wie läuft’s?«, begrüßte ich ihn spöttisch. »Haben Sie sich wieder beruhigt?«
»Arschloch«, knurrte der am Boden Liegende erneut, während er sich aus den Kabeln zu befreien versuchte, in die er sich verheddert hatte, als er den Flachbildschirm mitsamt Drucker vom Tisch gerissen hatte.
Leif kann einem leidtun. Solch einen Widerling als Vater zu haben , dachte ich und musterte den Mann mit dem kantigen Kinn und dem schütteren grau melierten Haar voller Abneigung.
Geduldig wartete ich ab, bis Albrecht sich von den Kabeln befreit hatte und wieder aufrecht stand. Seine schicke Springermontur hatte gelitten, vom Knie an bis zum Oberschenkel klaffte ein Riss. Offenbar hatte aber nicht nur der Stoff gelitten, denn als Albrecht versuchsweise einen Schritt machte, gab sein Knie unter ihm nach. Mein Tritt schien ihm richtig zuzusetzen.
Mit einem schmerzvollen Aufschrei hielt sich Albrecht an der Schreibtischkante fest.
»Ich verklag dich, du Arsch!«, zischte er wütend.
»Na, denn viel Spaß«, entgegnete ich milde lächelnd. »Fühlten Sie sich von mir gestört, als ich Ihnen etwas auf die Finger gab, während Sie versuchten, Manfred zu erwürgen? So was nennt man Mordversuch.«
»So war’s aber nicht«, krächzte Manfred hinter mir beschwichtigend.
»Ach nee?« Spöttisch sah ich Manfred über meine Schulter hinweg an. »Was war das dann, eine angeregte Diskussion unter Geschäftsfreunden?«
»Wir hatten …« Manfred suchte nach den richtigen Worten, um die Situation runterzuspielen. »Also, Philipp war sauer, weil …«
»Halt’s Maul!«, fuhr ihn Albrecht an. »Das geht den Typen nichts an.«
»Na denn, ihr zwei Komiker«, sagte ich und wandte mich zum Gehen. »Dann wünsche ich noch gute Gespräche.«
Ich hatte überhaupt keine Lust darauf, in irgendeine Sache zwischen Manfred und seinem Geschäftspartner Albrecht hineingezogen zu werden. Spätestens bei Manfreds Fakeherzinfarkt oben in der Luft war mir auch die Motivation für Freundschaftsdienste abhandengekommen. Sollten die beiden doch ihre Meinungsverschiedenheiten unter sich ausmachen. Das ging mich nichts an. Ich wollte lediglich ein paar romantische Tage mit Anna verbringen und hatte mich schon viel zu tief in Manfreds Probleme hineinziehen lassen.
»Macht doch, was ihr wollt!«, rief ich den beiden noch zu und knallte die Tür beim Hinausgehen so laut zu, dass der Knall durch die ganze Halle dröhnte. »Meinetwegen könnt ihr euch die Köpfe einschlagen. Ihr Vollidioten!«