– 12 –
»Tu was, Jan!« Annas Schrei gellte schmerzhaft in meinen Ohren.
Der Motor der Cessna heulte auf und übertönte den zweiten Schrei, den Anna ausstieß. Wie die Gondel auf einer Achterbahnfahrt senkte sich die Nase des Flugzeugs und stürzte in die bodenlose Tiefe.
Ein stechender Schmerz schoss mir durch die Brust.
Ich hatte das Gefühl, dass mein Herzschlag gerade ausgesetzt hatte und auch nicht beabsichtigte, seine Funktion wiederaufzunehmen.
Aber wieso ich?
, dachte ich verwundert.
Manfred war derjenige mit der Herzattacke, ich doch nicht!
»Du hast versprochen, auf mich aufzupassen!«, sagte Leif mit traurigem Gesicht. »Und nun hast du das junge Leben eines hochbegabten Genies auf dem Gewissen. Ein Klugscheißer weniger.«
Bevor ich Leif versichern konnte, dass ich ihn heil zurück zum Boden bringen würde, gab auch Manfred seinen Kommentar ab.
»Ja, das ist wirklich tragisch. Was hätte aus dem Jungen alles werden können«, sagte er mit totenbleichem Gesicht, während die gesamten Instrumente vor uns statt Höhenangaben und künstlichem Horizont EKG-Linien anzeigten, die sich von
den Kurven einer gesunden Herzfrequenz soeben in Nulllinien wandelten. »Leif hätte sogar Pilot werden können.«
»O ja!«, rief Leif neben mir und hielt mir den gelben Pfeil unter die Nase, an dem die tote Möwe steckte, deren Blut mir auf meine schneeweiße Fallschirmspringermontur tropfte. »Das machen wir. Halt mal, jetzt fliege ich.«
Blitzschnell schlängelte Leif sich zwischen den Sitzlehnen nach vorn und griff nach dem Steuerknüppel, woraufhin die Maschine laut aufheulte und einen Satz in die Tiefe machte.
Die Wasseroberfläche mit ihren Wellenkämmen raste direkt auf die Windschutzscheibe zu. Jeden Moment würde die Cessna auf dem Meer aufschlagen und zerschellen!
»Jan!«, schrie Anna so laut, dass mir der Schädel zu zerplatzen drohte. Jemand rüttelte mich an der Schulter. »Wach auf. Du hast schlecht geträumt.«
Verwirrt und für den Moment desorientiert schlug ich die Augen auf.
»Ich muss …«, stammelte ich und fuhr von meinem schweißnassen Kopfkissen hoch. »Das Flugzeug … wir stürzen ab!«
Anna schlang ihre Arme um mich und zog mich an ihre Brust. »Beruhig dich, Liebling«, flüsterte sie zärtlich. »Wir sind am Boden. Alles ist gut. Uns geht’s allen gut.«
Langsam kehrte mein Bewusstsein zurück und realisierte mühsam, dass ich gerade den schlimmsten Albtraum meines Lebens erlebt hatte.
»Du hast das Flugzeug sicher gelandet«, flüsterte Anna mir beruhigend zu und gab mir einen liebevollen Kuss. »Du hast uns vollkommen unversehrt runtergebracht.«
Auch wenn ich wusste, dass Anna recht damit hatte, dass wir uns am Boden befanden, verspürte ich noch immer die gleiche Todesangst wie im Flugzeug. Noch immer spürte ich den Steuerknüppel in meiner Hand, der auf die geringste Bewegung reagierte.
Eine falsche Bewegung und die Maschine wäre abgeschmiert
, dachte ich.
Meine Todesangst war echt, die Situation hingegen nicht. Auch wenn ich das Flugzeug geflogen hatte, gab es eine zweite Realität hinter der, die wir erlebt hatten – Manfreds manipulative Scharade: gut gemeint zwar, aber anmaßend und übergriffig. Wir waren nie in Gefahr gewesen. Aber Manfred hatte uns in dem Glauben gelassen und uns Todesängste erleben lassen.
»Das werde ich ihm nie verzeihen …«, wisperte ich und starrte in das Zwielicht unseres Zimmers, durch dessen Fenster der fahle Schein des nahenden Morgens dämmerte.
Bei einer Flasche Wein in den Dünen hatten wir gestern Abend noch lange über das Geschehene gesprochen, bevor wir vollkommen geschafft ins Bett gefallen waren.
»Es ist vorbei«, erwiderte Anna. »Vergeude nicht deine Energien mit unnützer Wut, auch wenn sie noch so berechtigt ist. Wir sind heil runtergekommen und du hast das Ding gelandet.«
Anna hatte recht. Es war vorbei.
Womöglich sollte ich Manfred noch dankbar sein,
dachte ich bitter.
Nein. Nichts gegen eine elementare Erfahrung, aber ich wollte vorher gefragt werden!
»Es geht schon wieder«, sagte ich leise zu Anna. »Danke, dass du da bist.«
Wir küssten uns zärtlich, bevor ich mich aus dem Bett rollte, um meinen Kopf unter den kalten Wasserstrahl am Waschbecken zu halten, das sich neben dem Fenster unseres kleinen Zimmers befand.
Der Reiz des eiskalten Wassers fuhr mir so schmerzhaft unter die Kopfhaut, dass gleißend helle Sterne vor meinen Augen tanzten. Ich stöhnte unterdrückt auf, behielt aber meinen Kopf unter dem eiskalten Wasserstrahl. Erst als ich das Gefühl hatte, dass meine Stirn vereist war, drehte ich das Wasser ab.
Prustend griff ich mit geschlossenen Augen nach dem Handtuch.
Als ich mir Gesicht und Kopf trocken gerubbelt hatte, sah ich Anna an.
»Danke«, sagte ich und spürte ein warmes, liebevolles Gefühl in mir aufsteigen, als ich sie zwischen den Laken liegen sah, die ihren Körper nur zum Teil bedeckten und viel Haut freigaben.
Anna sah mich auffordernd an.
Achtlos ließ ich das Handtuch zu Boden fallen und schlüpfte zu ihr unter die Bettdecke.
Die Zeit bis zum Sonnenaufgang verbrachten wir eng umschlungen und voller Leidenschaft. Vorm Fenster kreischte nur gelegentlich eine Möwe, die sich auf dem Weg zum Frühstück befand.
»Tee oder Kaffee?«, schnurrte Anna mir nach einer endlosen Zeitspanne ins Ohr.
»Mir egal«, erwiderte ich matt. »Hauptsache Koffein!«
»Sei nicht so desinteressiert«, neckte sie mich gespielt vorwurfsvoll und schwang ihre Beine aus dem Bett. »Das ist eine ganz profunde Frage.«
»Viel profunder ist die Frage, ob ich dich einfach wieder ins Bett zerre und wir das Frühstück ausfallen lassen«, entgegnete ich und streckte meinen Arm nach ihr aus.
»Du bist wohl auf den Geschmack gekommen?«, lachte Anna leise und warf mir das Handtuch zu, das ich vorher achtlos zu Boden hatte fallen lassen.
»Was mir niemand verdenken könnte«, erwiderte ich und machte keinerlei Anstalten, das Handtuch aufzufangen.
Ich hatte keine Lust, mich auch nur einen Millimeter aus dem Bett zu bewegen. Viel lieber genoss ich die süße Schwere, die mich mit ausgebreiteten Armen und die Beine von mir gestreckt in unsere Laken hatte sinken lassen, nachdem wir uns unserer zärtlichen und dennoch wilden und ungestümen Lust hingegeben hatten.
Anna stand nackt am Fenster. Das weiche morgendliche Licht fiel sanft durchs Fenster und hüllte ihren wunderschönen Körper in einen weich gesponnenen Kokon warmer Sonnenstrahlen ein. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden.
Aber warum auch? Wir hatten uns, wir hatten Urlaub, wir konnten uns beide nackt in einem Meer erwachenden Sonnenlichts rekeln. Wozu also aufstehen?
»Du hast recht«, sagte Anna mit kehliger Stimme und löste sich vom Fenster. »Frühstück wird sowieso überbewertet.«
Ihre Augen verengten sich, und ihr Blick wurde weich, als sie sich mit wiegenden Hüften langsam dem Bett näherte.
Die Frage, ob Kaffee oder Tee, ließen wir für die darauffolgenden Stunden offen.
Erst als wir beide erschöpft und glücklich nach Luft schnappten, kam ich auf die ursprüngliche Frage nach den profanen Dingen des Lebens zurück: »Kaffee, Tee, Rührei oder Spiegelei?«
»Ich will alles!«, lachte Anna mit noch vor Lust angerauter Stimme. »Blöd ist nur, dass wir aufstehen müssen.«
»Tamara würde uns unser Frühstück auch ans Bett servieren«, entgegnete ich matt und mit geschlossenen Augen tief in den Bettlaken versunken.
»Das könnte dir wohl gefallen«, kicherte Anna amüsiert. »Wir müssen langsam aufstehen, was soll Tamara sonst von uns denken?«
»Wenn uns einer versteht, dann Tamara«, behauptete ich. »Ich glaube, sie hat es früher auch ordentlich krachen lassen.«
»Du Wüstling!«, empörte sich Anna und versuchte, meiner Umarmung zu entkommen, was ich ihr erst nach einem langen Kuss gestattete, der uns fast wieder zurück in die Laken befördert hätte.
»Oh«, seufzte ich zufrieden, während ich Anna dabei beobachtete, wie sie unter der Dusche verschwand, die sich praktischerweise nur zwei Schritte von unserem Bett entfernt befand. »Das Leben ist so gut zu mir!«
»Lustmolch!«, erwiderte Anna und schob die mattierten Kunststofftüren der Duschkabine hinter sich zu, nicht ohne mir einen letzten verheißungsvollen Blick zuzuwerfen.
»Ehre, wem Ehre gebührt«, lachte ich und rollte mich ebenfalls aus dem Bett.
Nackt warf ich einen kritischen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken: »Nicht schlecht für mein Alter, aber … der Bauchansatz – der muss weg.«
Während ich einem Reflex folgend meinen Bauch einzog, fuhr ich mir mit der Handfläche übers Kinn und betrachtete mein Spiegelbild. Heute war eine Rasur fällig, wollte ich nicht wie ein Seeräuber aussehen. Während Anna das heiße Wasser auf ihren Körper prasseln ließ, schabte ich mir den Viertagebart aus dem Gesicht. Obwohl ich mich nach meiner Scheidung zum eingefleischten Junggesellen entwickelt hatte, hatte es in der Vergangenheit weibliche Bekanntschaften und auch eine Liebe wie die zu Traute gegeben, die ich allerdings trotz aller Gefühle füreinander beenden musste.
Aber egal, ob leidenschaftliche Bekanntschaft oder mehr, alleine fühlte ich mich am wohlsten, Motte natürlich ausgenommen. Ich glaube, jeder Single kennt dieses Gefühl, dass man nach einer leidenschaftlichen Nacht noch zusammen frühstückt und dann am liebsten alleine ist.
Nicht so bei Anna!
Von ihrer Nähe konnte ich nicht genug bekommen. Ich liebte es, Zeit mit ihr zu verbringen. Unsere Gespräche, das gemeinsame Lachen – alleine ihre Anwesenheit gab mir ein gutes Gefühl, was mich wieder zu der Frage brachte, die mich schon geraume Zeit bewegte: Worauf wartete ich eigentlich?
»Träumst du?«, lachte Anna und gab mir einen laut klatschenden Klaps auf mein nacktes Hinterteil.
Ich ließ den Rasierer ins Waschbecken fallen und packte sie nass, wie sie war. Eng umschlungen fielen wir rücklings aufs Bett.
Nachdem Anna und ich es irgendwann tatsächlich geschafft hatten, unsere Morgentoilette zu absolvieren, ohne erneut über einander herzufallen, verließen wir unser Zimmer, das jeglichen modernen Standard vermissen ließ, dafür aber die alte Bäderromantik längst vergessener Tage am Leben hielt.
Auch wenn sich das Waschbecken direkt gegenüber dem Bett befand und ich nur ein Bein aus dem Bett zu strecken brauchte, um in der Dusche zu stehen, fanden wir das Zimmer faszinierend, denn der Ausblick war einfach sensationell. Vom Bett aus sah ich mit dem rechten Auge zum Wattenmeer und mit dem linken Auge zur Seeseite hinaus. Die einmalige Lage des Hauses inmitten des Naturschutzgebietes sorgte für ganzjährig ausgebuchte Zimmer, und niemand der Gäste störte sich an der schreiend bunten Frotteebettwäsche, die mit Leuchttürmen, Muscheln und Seesternen bedruckt war. Auch Tamaras bisweilen schroffe Art und ihre rustikalen Frühstücke störten niemanden.
Während Anna schon einmal in den Frühstücksraum vorging, begab ich mich nach draußen, um nach Motte zu sehen, der sich bei Tamara wie zu Hause fühlte.
»Moin, Dicker«, begrüßte ich Motte, der wieder im Schatten eines mannshohen Sanddornstrauches lag, und ich kniete mich neben ihn, um ihm zur Begrüßung durchs vollkommen versandete Fell zu wuscheln. »Wenn du noch ein paar Tage hier bei Tamara herumliegst, kann man dich nicht mehr von einer Wanderdüne unterscheiden«, lachte ich.
Seinem leeren Futternapf nach war er bereits mit seinem Frühstück fertig. Mit beiden Händen klopfte ich Mottes Fell ab, was er sich wohlig knurrend gefallen ließ. Wusste er doch ganz genau, dass er sich gleich wieder in den Sand fläzen würde, sobald ich sein Fell halbwegs sauber hatte.
Nach zwei Minuten gab ich’s auf, das Fell zu entsanden, und ging ebenfalls zum Frühstücksraum, wo Anna und Tamara
ihre Köpfe zusammengesteckt hatten und angeregt miteinander tuschelten.
»Moin«, begrüßte mich unsere Pensionswirtin, die einen Wald bunter Lockenwickler auf ihrem Kopf spazieren trug. »Wenn mich meine altersschwachen Augen nicht täuschen, habt ihr meinen Ratschlag befolgt.«
»O ja, und wie wir das haben.« Verschwörerisch zwinkerte Anna ihr zu.
»Das nenne ich mal ein kräftiges Frühstück«, lenkte ich schnell vom Thema ab und setzte mich neben Anna auf die Küchenbank.
Auch heute Morgen empfing uns Tamara nicht mit Brötchen und Marmelade zum Frühstück, sondern mit einer dampfenden Pfanne Bratkartoffeln und Backfisch. Fisch zum Frühstück ist sicherlich nicht jedermanns Geschmack, aber uns war nach unserer kräftezehrenden Liebesnacht ein kräftiges Mahl aus der Pfanne lieber als kunstvolle Designerfrühstücksbüfetts zu heiligen Preisen, wie sie in den Inhotels am Festland, aber auch schon hier auf Töwerland mittlerweile üblich waren.
»Frühstück?« Tamara lachte ihr kehliges Lachen und schnippte die Asche ihrer russischen Zigarette ins Waschbecken der Spüle. »Habt ihr schon mal auf die Uhr geschaut?«
Ich drehte den Kopf und staunte nicht schlecht, als ich auf die Wanduhr über der Küchentür schaute. Es war bereits Mittag und wir hatten nichts davon mitbekommen.
»Euren Tisch hatte ich heute Morgen erst gar nicht eingedeckt«, sagte Tamara, während sie zwei große Portionen Bratkartoffeln auf zwei vorgewärmte Teller schaufelte, auf denen bereits zwei knusprige goldbraune Backfische lagen. »Ich hab mir schon gedacht, dass ihr den Vormittag im Bett verbringen würdet.«
»Oh«, machte Anna und hüstelte dezent. »Sah man uns das an?«
»Ich schon.« Tamara stellte die beiden Teller vor uns auf den Tisch. »Dann lasst es euch mal schmecken. Ihr seht aus, als könntet ihr eine Stärkung vertragen.«
Nur zu gern folgten wir ihrer Aufforderung.
Während wir kräftig zulangten, versorgte Tamara uns mit ihrem berüchtigten schwarzen Kaffee und dem neuesten Inselklatsch.
Nachdem wir unsere Mahlzeit beendet hatten, brachen wir auf zum Strand. Als Motte uns hörte, begrüßte er uns mit einem ausgiebigen Gähnen.
»Komm, Dicker!«, sagte ich und gab ihm einen auffordernden Klaps. »Du siehst immer noch aus wie ein aufgeplatzter Sandsack. Hoch mit dir. Auf zum Wasser.«
In bester Urlaubslaune radelten wir die Flugplatzstraße Richtung Ostseite der Insel.
Anna war wieder genauso ausgelassen und gut gelaunt wie gewohnt, die gestrige Begegnung mit Traute war offenbar vergessen.
Ziemlich genau auf halber Strecke zwischen Bismarck-Blick und Flugplatz führte der uns schon bekannte Dünenweg zum Oststrand. Wie schon am Vortag lehnten wir unsere Räder gegen den hölzernen Fahrradständer.
Auch heute hatte Motte es für seine Verhältnisse ungewöhnlich eilig und lief rund zehn Meter vor uns her. Vielleicht lockte ihn die Neugier, ob wieder etwas Gefiedertes vom Himmel fiel. Ich für meinen Teil hoffte, dass wir diesmal nicht über eine tote Möwe stolpern würden.
Was aber war, wenn sich der unbekannte Schütze heute auch wieder hier in den Dünen herumtrieb? Und was noch schlimmer wäre: wenn es ihm zu langweilig wurde, auf Möwen zu schießen?,
ging mir durch den Kopf.
Kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, beschlich mich ein unbehagliches Gefühl. Verstohlen ließ ich meinen Blick
über die Dünen wandern, während ich mir die Strandtasche über die Schulter warf und nach Annas Hand griff. Gemächlich schlenderten wir die Anhöhe hinauf.
Es war weit und breit keine andere Menschenseele zu sehen.
Von Motte allerdings auch keine Spur.
»Motte!«, rief ich laut.
Sofort kam mir der unsichtbare Bogenschütze vom Vortag in den Sinn. Aber Vorsicht hin oder her, ich wollte wahrhaftig nicht bei jedem Strandspaziergang an tote Möwen denken, die vom Himmel fielen. Und schon gar nicht an irgendwelche Schützen, die sich in den Dünen versteckt haben könnten. Denn dann konnte man gleich jedes Urlaubsgefühl vergessen.
»Das ist ja wirklich Wahnsinn«, staunte Anna aufs Neue und löste ihre Hand aus meiner.
Sie streckte beide Arme weit von sich, als ob sie es den am Himmel kreisenden Möwen gleichtun und sich in die Lüfte erheben wollte.
»Wie breit ist denn dieser Strand hier?« Ausgelassen drehte Anna sich einmal um die eigene Achse.
»Ich schätze, so ungefähr dreihundert Meter«, antwortete ich und machte einen langen Hals, um nach Motte Ausschau zu halten.
»Und wir sind ganz alleine hier!«
»Ich hoffe doch«, erwiderte ich.
»Wieso meinst du?«, fragte Anna und stellte sich auf Zehenspitzen, als würde sie den Friesenhimmel über uns streicheln wollen.
»Weiß ich selber noch nicht«, murmelte ich mit zunehmender Unruhe, weil ich Motte nirgends erspähen konnte. »Wo ist denn nur der Dicke abgeblieben?«
»Mach dir keine Sorgen«, erwiderte Anna und nahm meine Hand. »Der ist sicherlich wieder hinter seinen heiß geliebten Möwen her.«
»Dein Wort in Gottes Ohr.«
Hand in Hand schlenderten wir den Strand entlang Richtung Meer, dessen Wellenkämme wir schon von Weitem erkennen konnten.
Wir waren etwa hundert Meter durch den feinen weißen Sand gestapft, als Anna mit ihrer freien Hand in Richtung des links von uns liegenden Dünenfeldes zeigte: »Schau mal, da kommt Motte.«
»Tatsächlich«, wunderte ich mich, als ich meinen Kopf wandte und den Dicken erblickte.
Eigentlich hätte ich Motte am Wasser vermutet und nicht in den Dünen. Aber möglicherweise hatte etwas seine Neugier geweckt und er hatte mal nachgeschaut.
Ich ließ meinen Blick über die Dünenlandschaft wandern und konnte nichts Außergewöhnliches entdecken.
»Komm, Dicker!«, rief ich ihm zu. »Die Möwen warten.«
Wie aufs Stichwort flogen seitlich von Motte ein paar Möwen auf, die es sich in den Dünen gemütlich gemacht hatten.
Doch bevor Motte sich den Möwen zuwenden konnte, ertönte über uns ein immer lauter werdendes Brummen. Ich wandte mich um und sah hoch über unseren Köpfen das klobige pinkfarbene Flugzeug auftauchen.
»Schau mal!«, rief Anna erfreut. »Ist das nicht dieser Transporter mit den Fallschirmspringern?«
»Muss wohl.« Ich nickte zustimmend. »Das muss diese
Pink Skyvan
sein. So ein Ungetüm in der Farbe gibt es bestimmt kein zweites Mal.«
Das Flugzeug mit dem Namen
Pink Skyvan
, wie uns Leif erklärt hatte, flog entlang der Strandlinie genau auf uns zu, drehte dann aber im Näherkommen die Nase Richtung Südseite, wo sich der Flugplatz befand.
Langsam überflog die Maschine die Dünenlandschaft.
Plötzlich blühten am wolkenlosen blauen Himmel kleine bunte Pilze auf, die sich über uns verteilten.
»Das sind ja wieder die Fallschirmspringer!«, rief Anna und hob den Arm, um dem Flugzeug begeistert zuzuwinken.
Wir blieben stehen und sahen wie schon am Vortag der Wolke aus farbenfrohen Fallschirmen zu, die langsam über den Strand Richtung Dünen schwebten, um dann hinter der großen Düne zu verschwinden, hinter der sich der Flugplatz befand.
»Ist dir eigentlich aufgefallen, dass wirklich jeder Fallschirm anders aussieht?«, fragte Anna und ergriff wieder meine Hand, um mich Richtung Wasser zu ziehen. »Es gibt keine Schirme mit den gleichen Farben oder Farbkombinationen.«
»Ist vielleicht Zufall«, erwiderte ich ohne großes Interesse und behielt Motte im Auge, der zielstrebig Richtung Wellenkämme lief.
»Glaub ich nicht«, widersprach Anna. »Die haben doch diese Woche Wettbewerbe. Ich glaube, jeder Springer hat seine eigene Farbe, damit man sie auseinanderhalten kann.«
»Keine Ahnung.« Gleichgültig zuckte ich mit den Achseln. »Meinetwegen können die alle wie rosa Plüschhasen aussehen, wenn sie aus dem Flugzeug springen.«
»Auch wenn deine Ex springt?« Den kleinen Seitenhieb konnte Anna sich nicht verkneifen.
»Auch dann«, entgegnete ich trocken. »Obwohl ihr rosa Plüsch nicht stehen würde.«
»Du musst es ja wissen«, gab Anna schlagfertig zurück und klatschte demonstrativ in die Hände. »Wer als Erster im Wasser ist!«
Bevor ich etwas erwidern konnte, lief Anna los. Da es bis zum Wasser noch locker hundert Meter waren, ließ ich es ruhig angehen und schulterte in aller Seelenruhe die Strandtasche, bevor ich ihr und Motte folgte, der bereits bis zum Bauch im Wasser stand und die Wellen ankläffte.
Ich warf noch einen Blick in die Dünenlandschaft hinter uns und meinte, einen schemenhaften Umriss zu sehen, der im gleichen Moment verschwand, als ich mich umdrehte.
Aufmerksam schaute ich zu den beiden großen Dünen hinüber, konnte aber nichts Verdächtiges erkennen.
»Jetzt siehst du schon Gespenster«, murmelte ich und schirmte mit der Hand meine Augen ab, um besser zu sehen.
Heute wehte eine stärkere Brise als gestern, die den Strandhafer in Bewegung hielt; das konnte einem durchaus etwas vorgaukeln, was gar nicht da war. Außerdem waren auch Möwen in den Dünen und am Strand unterwegs, die gern mal mit Treibgut oder Plastikmüll herumspielten.
Wie um meine Sorge zu zerstreuen, stoben drei Schwarzkopfmöwen hinter einem Strauch Dünengras hervor und nahmen Kurs aufs Wasser.
»Sag ich doch.« Beruhigt wandte ich mich ab und folgte Anna zum Wasser.
»Nun mach schon!«, rief Anna mir lachend zu und schlüpfte aus Shorts und Shirt, die sie achtlos in den Sand fallen ließ, um mit einer schnellen Handbewegung ihre Unterwäsche abzustreifen.
Nackt lief Anna über das letzte Stück Strand, warf ihre Arme hoch, als die ersten Wellen ihre Oberschenkel umspülten. Annas Anblick empfand ich als ungemein verlockend; ich beschleunigte meinen Schritt, sodass ich nur wenig später unsere Strandtasche neben ihrer Kleidung in den Sand fallen ließ. Während ich ebenfalls aus meinen Shorts stieg und einen Moment zögerte, bevor auch ich meine letzten Hüllen fallen ließ, sah ich noch einmal über den Strand in alle Richtungen.
Nichts. Niemand war zu sehen.
Nackt stand ich am Strand und genoss die Sonne und den kräftigen, aber warmen Wind auf meiner Haut. Es fühlte sich
wirklich paradiesisch an, mit Anna hier vollkommen alleine zu sein.
Ich drehte mich um und lief ungeniert mit großen Sätzen in die Brandung hinein, wo Anna mich mit ausgebreiteten Armen empfing. Während wir uns bis zu den Hüften im Wasser stehend umarmten und leidenschaftlich küssten, kommentierte Motte unsere Umarmung mit lautem Gebell, um sich dann einer Möwe zu widmen, die regungslos über ihm im Wind stand und neugierig auf ihn hinuntersah, um dann elegant davonzufliegen.
Während Motte mit lautem Bellen der Möwe hinterherjagte, genossen wir unser nacktes Bad in der Brandung. Erst als uns langsam frisch wurde, verließen wir das Wasser und breiteten die mitgebrachten Badelaken aus, um uns von den Sonnenstrahlen und dem milden Wind trocknen zu lassen.
Nackt lagen wir mit geschlossenen Augen nebeneinander im Sand und ließen uns von der Sonne wärmen, während das Salzwasser auf unserer Haut trocknete. Ich hatte mich schon lange nicht mehr so glücklich und wohl mit einer Frau an meiner Seite gefühlt.
Vielleicht ist jetzt die richtige Gelegenheit …
, dachte ich und rollte mich zu Anna herum.
Auf ihren Lippen lag ein ebenso glückliches Lächeln wie auf meinen. Bevor ich mich zu ihr beugen und ihr sagen konnte, was mir schon die ganze Zeit auf der Seele brannte, ertönte erneut das dumpfe Brummen der Motoren der
Pink Skyvan
am Himmel.
Anna öffnete die Augen hinter den Gläsern ihrer Sonnenbrille zu schmalen Schlitzen und blinzelte zum Himmel hinauf, wo sich das pinkfarbene Ungetüm schnell näherte.
Auch diesmal setzte das Transportflugzeug einen Trupp Fallschirmspringer in großer Höhe ab, deren bunte Schirme
zum hellen Blau des Himmels einen farbenprächtigen Kontrast bildeten.
»Wie schön«, sagte Anna und schirmte ihre Augen mit der Hand gegen das Sonnenlicht ab. »Wie das wohl von dort oben aussieht?«
»Wahrscheinlich nicht anders als gestern, als wir dort oben in Manfreds Maschine saßen«, brummte ich, verstimmt über die Störung des magischen Moments durch das blöde Flugzeug. »Nur windiger.«
Anna lachte und schmiegte sich mit ihrem nackten Rücken an mich.
Ich legte meinen Arm um ihre Taille. Gemeinsam beobachteten wir die Fallschirme, die von ihren Piloten in einer lang gezogenen Kurve über die Dünenlandschaft hinweg Richtung Flugplatz gelenkt wurden.
Ein Nachzügler, dessen knallgelber Fallschirm besonders auffällig vor dem azurfarbenen Hintergrund leuchtete, lenkte als Letzter seinen Schirm in die lang gezogene Kurve. Der Fallschirmspringer hatte deutlich an Höhe verloren, was möglicherweise auf seinen verzögerten Flug zurückzuführen war, sodass man seine Kontur sehr gut erkennen konnte und auch, dass er mit beiden Armen die Steuerungsleinen seines Schirms hielt. Ich hoffte nur, dass ihn die beiden nackten Gestalten hier unten am Strand nicht sonderlich interessierten und er seine Aufmerksamkeit auf seinen Landeanflug konzentrierte.
Und wenn schon, wir können uns durchaus noch sehen lassen
, dachte ich, wobei Anna eindeutig der attraktivere Blickfang von uns beiden war.
Die anderen Fallschirmspringer waren bereits verschwunden, als der Springer über uns in niedriger Höhe über die Dünen schwebte.
Der Pfeil kam aus dem Nichts.