– 13 –
Jede Möwe wäre neidisch auf den eleganten Gleitflug des gelben Schirms gewesen bis zu dem Moment, als der Springer sich wie von einem Blitzschlag getroffen in seinem Gurtzeug aufbäumte und mit den Beinen wild zu zappeln begann.
»Was ist denn mit dem los?« Anna war erschrocken zusammengefahren und hatte sich aufgesetzt. »Was hat der denn?«
Ich war ebenfalls hochgeschreckt, als ich sah, wie der Springer sich gebärdete. »Da stimmt was nicht!«, sagte ich. »Komm, lass uns etwas überziehen.«
Anna war genauso schnell auf den Beinen wie ich.
Während wir nach unseren Klamotten griffen, beobachteten wir, dass der Springer heftig an den Steuerungsleinen riss, wie mir schien, um den Schirm von uns wegzulenken.
»Was ist denn mit dem los?«, rief Anna aufgeregt, als der Fallschirmspringer erneut wie vom Blitz getroffen zusammenzuckte.
»Das ist doch …«, sagte ich und starrte zu der Gestalt hinauf, die wild mit den Beinen strampelte.
»Das ist genau wie gestern!«, rief Anna aufgeregt. »Jemand schießt den ab wie die Möwe.«
Den Pfeil hatte ich nicht kommen sehen, dafür hätte ich den sagenumwobenen scharfen Blick einer Skua, der
großen isländischen Raubmöwe, haben müssen – wie Onno den Scharfblick meines Kumpels Uz oftmals lobte. Den besaß ich leider nicht.
Aber Anna hatte recht.
Wenige Sekunden später war der Schirm tief genug, um erkennen zu können, dass dem Fallschirmspringer ein Pfeilende aus dem Hals ragte. Im Oberschenkel schien ebenfalls ein Pfeil zu stecken.
»Zieh dich an. Mach schnell!«, rief ich.
Wie bei einem Alarmstart der Inselfeuerwehr griffen wir nach unseren Klamotten, wobei wir die Unterwäsche links liegen ließen. Jeder, der sich schon mal oberflächlich abgetrocknet in seine Klamotten gequält hat, weiß, wovon ich rede. Mitunter ist es schlichtweg einfacher, auf seine Unterwäsche zu verzichten, als die Etikette zu beachten.
Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis wir in unsere Shorts und Shirts geschlüpft waren, während der Springer nur wenige Meter über unseren Köpfen hinwegsauste.
»Ruf Hilfe«, bat ich Anna und wollte zu der Stelle laufen, wo der Springer gerade mit einem lauten Klatschen in die Brandung stürzte, als ich einen warmen Nieselregen im Gesicht spürte.
»Iiih!«, schrie Anna auf, die ebenfalls von dem roten Schauer besprüht worden war.
Mit der Hand fuhr ich mir übers Gesicht und starrte entsetzt auf meine blutige Handfläche.
Arterienverletzung
, schoss mir durch den Kopf.
Der Pfeil musste eine Arterie des Fallschirmspringers getroffen haben, die das Blut wie eine Sprinkleranlage über den Strand und somit auf uns herabregnen ließ.
Motte war ebenso erschrocken wie wir über den Fallschirmspringer, der, in sich zusammengesackt, nicht mehr fähig gewesen war, seinen Schirm in Richtung des Flugplatzes
zu steuern und daher direkt vor unseren Augen wie ein Stein ins Wasser geklatscht war. Es dauerte aber nur einen Moment, bis sich der Dicke von seinem Schrecken erholt hatte und mit lautem Bellen ins kühle Nass sprang. Er rannte auf die langsam in sich zusammenfallende Fallschirmkappe zu, allerdings nur bis das Wasser seinen Bauch erreichte, worauf er stehen blieb und sich aufs Bellen beschränkte.
Ich rechnete nicht damit, dass das Opfer noch lebte, wenn ich es erreichte. Trotzdem lief ich, so schnell ich konnte, zur Unglücksstelle. Meine Kleidung sog sich mit Wasser voll, als ich durch die Brandung hastete. Ich war nur noch wenige Meter von der reglos auf den Wellen schaukelnden Gestalt entfernt, als sich das gelbe Nylongewebe seines Schirms über uns legte. Im selben Moment, als der Stoff raschelnd auf uns herabsank, verhedderte ich mich in einer der Schnüre und trat in eine Senke am Grund.
Die Wellen schlugen über mir zusammen, Salzwasser drang mir in Mund und Nase. Ich ruderte wie wild mit meinen Armen und versuchte, meinen Kopf wieder über Wasser zu bekommen. Aber je mehr ich mich abstrampelte, umso mehr verhedderte ich mich in den Schnüren, von denen einige sich eng um meinen Hals legten und mir die Luft abzuschnüren drohten.
Ich änderte meine Taktik. Anstatt mit Armen und Beinen um mich zu schlagen, machte ich ein paar kräftige Schwimmzüge. Die Schnüre um meinen Hals ignorierte ich. Meine Bemühungen waren erfolgreich. Als ich waagerecht im Wasser lag, bekam ich sofort wieder Luft – und da die Nylonschnüre nicht mehr unter Spannung standen, lockerte sich auch der Würgegriff der Seile um meinen Hals.
Das Salzwasser brannte mir in den Augen, als ich sie öffnete. Ich wischte mir mit der Hand darüber und sah dann auch gleich den Fallschirmspringer, der nur wenige Meter von mir entfernt mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieb. Ich
befreite mich aus den Nylonschnüren und näherte mich ihm mit ein paar kräftigen Schwimmzügen. Mit beiden Händen packte ich den leblosen Körper am Gurtzeug und versuchte, den Kopf anzuheben, was mir nicht auf Anhieb gelang. Als ich den Kopfschutz zu packen bekam, wurden wir von einer gewaltigen Woge erfasst, die uns auf den Strand spülte.
Plötzlich spürte ich Boden unter den Füßen. Bevor die ablaufende Welle uns zurück ins tiefere Wasser ziehen konnte, zog ich den Springer Richtung Ufer.
Fast hätte ich das Gleichgewicht verloren, als uns der nächste Brecher erfasste und mich fast von den Füßen riss. Das gelbe Nylongewebe legte sich wie eine zweite Haut um meinen Körper und nahm mir sowohl Sicht als auch Bewegungsfreiheit. Trotzdem gelang es mir, auf den Beinen zu bleiben und den Springer hinter mir her an den leicht ansteigenden Strand zu ziehen.
Auf dem Sand war es deutlich schwieriger, die leblose Gestalt zu ziehen, da der Auftrieb des Wassers fehlte und der bewusstlose Mann kein Leichtgewicht war. Wie ein nasser Kartoffelsack hing er in seinem Gurtzeug.
Dass es sich bei dem Fallschirmspringer um einen Mann handelte, erkannte ich in dem Moment, als ich meine Last zur Hälfte aus dem Wasser gezogen hatte. Mit beiden Händen packte ich ihn an seinem Gurtzeug und schleifte ihn noch ein Stück höher den Strand hinauf.
Schwer atmend fiel ich auf die Knie und hustete einen Schwall Seewasser aus.
Es dauerte einen Moment, bis ich meinen Atem und den Hustenreiz unter Kontrolle hatte. Der Mann, der neben mir auf dem Bauch lag, rührte sich nicht.
Ich wollte ihn auf den Rücken rollen, was sich als schwierig herausstellte, da der kanariengelbe Karbonpfeil, der an beiden Enden seines Halses herausragte, im Sand stecken blieb.
Als ich es endlich geschafft hatte, ihn umzudrehen, bestätigten mir seine weit aufgerissenen Augen, dass er, wie befürchtet, tot war. Die Sorge, dass er ertrinken könnte, war unbegründet gewesen, denn er musste bereits tot gewesen sein, als er im Wasser aufschlug. Der Pfeil hatte seinen Hals durchbohrt und beim Austritt offenbar die Halsschlagader zerrissen, sodass das arterielle Blut in hohem Bogen herausgespritzt war. Da der Mensch nur über rund sechs Liter Blut verfügt, führt eine Arterienverletzung innerhalb kürzester Zeit zum Tode. Der Springer, der vor mir lag, hatte großes Pech gehabt, denn die Pfeilspitze hatte beim Austritt seine Arterie eine Handlänge breit aufgeschlitzt. So groß, wie seine Verletzung und damit der Blutverlust waren, hatte er keine Chance gehabt, dass ich ihm hätte helfen können.
Ich musterte das Gesicht des Toten.
Bis ich den Mann erkannte, dauerte es einen Moment. Denn Trautes gut aussehender Begleiter mit dem Hipsterbart war zwar mit dem Kopf im Wasser aufgeschlagen, aber die Wucht des Aufpralls hatte ihm am sandigen Untergrund das Gesicht eingedrückt und einen Teil seiner Gesichtshaut abgeschält. Zudem war ein Auge von einer blassen bläulichen Qualle bedeckt, deren nasse Nesselfäden sich quer über den Teil seines Gesichts gelegt hatten, der nicht von der rötlichen Panade aus Blut und Sand bedeckt war.
»Merlin«, sagte ich halblaut, um mich gleich darauf zu verbessern, da sich der Name falsch anhörte. »Melvin …« Ich überlegte einen Moment, wie Trautes Geliebter hieß, und hatte ein schlechtes Gewissen, weil mir der Name partout nicht einfallen wollte.
Ich verzichtete dann darauf, mich krampfhaft an seinen Namen zu erinnern, da es ohnehin keine große Bedeutung mehr für mich hatte, wie er lautete. Eine Konversation würden wir nicht mehr miteinander führen.
Stattdessen schaute ich mir den Pfeil genauer an, der in seinem Hals steckte.
Der gelbe Karbonpfeil sah wie ein Zwilling des gestrigen Pfeils aus, der die Möwe durchbohrt hatte. Er war links auf Höhe des Kehlkopfes eingedrungen und auf der rechten Seite wieder ausgetreten. Zu beiden Seiten von Milans Hals – jetzt fiel mir der Namen wieder ein – ragte der Pfeil etwa fünfundzwanzig Zentimeter heraus. Die Spitze war nicht blutig, da das Seewasser sie abgewaschen hatte. Der gefiederte Schaft war ebenfalls frei von Blut und Gewebe.
Der Pfeil hatte den Hals von Trautes Freund ebenso sauber durchbohrt, wie tags zuvor die Möwe aufgespießt worden war. Der Täter musste ein sehr guter Schütze sein, sehr treffsicher …
»Der Schütze!« Ich fuhr hoch. Verdammt! Es konnte gut möglich sein, dass der Mörder sich noch in der Nähe befand.
Anna war allein am Strand!
Milan war nicht mehr zu helfen. Ich ließ ihn auf dem Rücken liegen und sprang hektisch auf die Beine, um Anna zu suchen.
»Da bist du ja!«, rief sie aufgeregt, als ich mich umdrehte. Ich war so von dem Toten abgelenkt gewesen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie sie herangekommen war.
Mit beiden Armen umschlang sie mich.
Mit fiel ein Stein vom Herzen, Anna wohlbehalten vor mir zu sehen.
»Mach so was nicht wieder.« Annas Finger zitterten vor Aufregung, als sie mir mit ihren Händen durchs Gesicht fuhr. »Ich hatte solche Angst um dich. Ich dachte, du ertrinkst oder erstickst unter diesem Scheißding.«
»Alles gut.« Ich drückte sie fest an mich. »Ich bin okay.«
Wir hielten uns so lange in den Armen, bis wir beide wieder halbwegs normal atmen konnten. Dann lösten wir uns voneinander.
»Was ist mit dem Fallschirmspringer?«, wollte Anna wissen.
»Er ist tot.«
»Tot?« Anna schlug entsetzt eine Hand vor den Mund. »Wieso ist der denn tot?«
»Jemand hat ihm einen Pfeil durch den Hals geschossen«, erwiderte ich. »Und einen weiteren Pfeil durch den Oberschenkel. Wahrscheinlich ist eine Arterie getroffen worden – das war der Blutregen.«
Anna wischte sich bei meinen Worten unbewusst übers Gesicht, so als würde sie das Blut noch immer dort spüren. Was auch sicher der Fall war, denn ich konnte noch einige Blutspritzer erkennen.
Ich griff nach Annas Arm und zog sie zu Boden, sodass wir beide im nassen Sand knieten.
»Hast du Hilfe holen können?«, fragte ich.
Anna nickte schnell. »Ja, habe ich. Die Küstenwache ist bereits auf dem Weg hierher.«
»Bestens.« Erleichtert drückte ich sie an mich. »Danke. Das hast du gut gemacht.«
»War ja keine Kunst«, erwiderte Anna. »Ich habe nur den Notruf mit dem Handy gewählt, und zack, war die Polizei dran, die haben sofort die Küstenwache verständigt. Ich hab nur telefoniert. Du bist der Held. Du bist ins Wasser gesprungen, um den Springer zu retten.«
»Ja, ein toller Held«, lachte ich sarkastisch. »Der Held wäre selbst fast abgesoffen, weil er in ein Loch getreten ist. Außerdem war das arme Absturzopfer schon tot, ehe es auf dem Strand aufschlug. Ein toller Held.«
»Mir doch egal.« Anna zog mich ganz eng an sich. »Du bist mein Held, egal was geschieht.«
Ich erwiderte ihre Umarmung und drückte sie noch tiefer auf den Boden hinunter. Mir stand absolut nicht der Sinn
danach, dass sich dem Todesschützen eine weitere Zielscheibe bot. »Bleib du bitte hier, bis die Kavallerie auftaucht.«
»Nein!« Anna krallte ihre Finger in meinen Oberarm. »Nein. Ich weiß, was du vorhast. Bleib hier! Bleib bei mir.«
»Ich bin gleich wieder da«, versicherte ich. »Bleib du einfach hier liegen.«
»Jan de Fries!« Annas Stimme klang jetzt sehr bestimmt. »Lass uns hier zusammen auf die Küstenwache warten. Lauf nicht alleine los!«
Auch wenn ich Annas Sorge verstand, trieb mich mein Instinkt, in den Dünen nachzuschauen, ob ich etwas entdecken konnte, was auf den Todesschützen hinwies. Natürlich war es nicht mein Job, einen Mörder zu jagen, sondern der der Polizei.
Aber ich konnte nicht aus meiner Haut heraus.
Vor meinen Augen war ein brutaler Mord geschehen und der Mörder hatte sich bestimmt längst aus dem Staub gemacht. Mein beruflicher Instinkt zwang mich, nachzusehen, ob ich irgendwelche Spuren fand, die ich sichern konnte. Ich konnte jetzt nicht einfach auf die Polizei in Form des hiesigen Inselpolizisten warten.
Nicht, dass ich die Fähigkeiten des Dorfsheriffs infrage stellen wollte, aber – er war alleine im Dienst. Bis seine Kollegen vom Festland hier eintrudelten, waren etwaige Spuren längst verweht, versandet oder von Schaulustigen zertrampelt worden.
»Bleib hier«, raunte ich Anna zu. »Behalt den Kopf unten und pass auf, ob du jemanden siehst.«
»Nur, wenn du mir versprichst, wohlbehalten und in einem Stück zurückzukommen.« Anna presste sich fest an mich, sie wusste ohne viele Worte, wo ich hinwollte.
»Versprochen«, entgegnete ich und drückte sie noch einmal fest an mich. »Ich pass auf mich auf.«
Langsam löste ich mich aus unserer Umarmung und sah aufmerksam zu den mit Strandhafer bewachsenen Dünen
hinüber. Es war mir vollkommen klar, dass der Schütze irgendwo von dort drüben aus den Dünen heraus den Schuss auf den Fallschirmspringer abgegeben hatte.
Ich hegte keinerlei Ambitionen, den Helden zu spielen, denn Helden werden meist nicht alt.
Falls der Todesschütze sich noch in den Dünen verbarg, hätte ich mich sehr viel lieber bis über beide Ohren im Sandstrand eingegraben, als ihm hinterherzujagen, da es ihm möglicherweise Spaß machte, ein zweites bewegliches Ziel ins Visier zu nehmen.
»Spaß?«, wisperte ich fast lautlos. »Hast du aus reinem Spaß einen Menschen umgebracht oder hattest du einen Plan?«
Warum hatte der Bogenschütze den Fallschirmspringer mit dem gelben Schirm getötet? Nach einem organisierten Mord sah mir das nicht aus, denn wenn der Mörder Trautes Freund Milan gezielt hätte umbringen wollen, hätte er ein umfangreiches Wissen haben müssen: wann genau Milan mit seinem Fallschirm absprang und wie man ihn erkannte. Er hätte außerdem wissen müssen, welche Farbe Milans Schirmkappe und seine Montur hatten. Und wenn Anna recht mit ihrer Vermutung hatte, dass jeder Springer eine eigene Farbe für seinen Schirm benutzte, musste dem Mörder auch dies bekannt gewesen sein. Vorausgesetzt, dass jeder Springer durch die Farbe seines Fallschirms zu identifizieren war, hatte der Mörder kein Problem gehabt, das richtige Ziel auszumachen.
Täter und Opfer kannten sich
, vermutete ich, denn beim überwiegenden Teil aller Tötungsdelikte standen Täter und Opfer in einer Beziehung zueinander. Das hätte auch erklärt, dass der Mörder Milan an der Farbe seines Schirms erkannt und ihn gezielt getötet hatte.
War der Mord geplant gewesen, hatte der Mörder vielleicht an der Möwe geübt. Auch wenn ich über keine nennenswerten Kenntnisse im Bogenschießen verfügte, war mir klar, dass
es extrem schwierig sein musste, ein sich bewegendes Ziel mit einem Sportbogen auf diese Entfernung zu treffen. Der Mörder musste ein ausgezeichneter Bogenschütze sein, dachte ich mir einmal mehr.
Hoffentlich hast du dich schon aus dem Staub gemacht
, hoffte ich im Stillen, denn für einen guten Schützen ähnelte ich als Ziel eher einer lahmen Ente als einer Möwe oder einem Fallschirmspringer.
Ich warf noch einen Blick auf den gelben Fallschirm, der sich im Seewind wild bauschte, und nickte Anna aufmunternd zu, dann setzte ich mich in Bewegung.
»Und du bleibst hier!«, befahl ich Motte, der im Sand saß und mit heraushängender Zunge zwischen dem Fallschirm und mir hin und her schaute.
Ich verzichtete darauf, mich zu ducken oder im Zickzack zu rennen, denn das wäre Quatsch gewesen. Möglicherweise hätte wildes Gerenne und Hakenschlagen bei dem Bogenschützen Jagdinstinkte ausgelöst. Und darauf wollte ich es lieber nicht ankommen lassen.
Mit großen Sätzen überholte mich der Dicke.
So viel zum Thema, wie folgsam mein Hund auf mich hörte.
Ich beschleunigte meine Schritte und unterdrückte den Impuls, Motte zurückzupfeifen. Hätte ich das getan, dann hätte er so getan, als würde er gehorchen und stehen bleiben, ein paar Meter zurücklaufen, um dann doch wieder loszurennen, wie es ihm in den Sinn kam. Damit wäre er ein besseres Ziel gewesen, als wenn ich ihn einfach laufen ließ. Denn zwischen den Dünen würde selbst er kein leichtes Ziel abgeben.
Erleichtert erreichte ich nach kurzer Zeit die erste Düne und war diesmal heilfroh, Motte nicht zu sehen. Denn wenn ich ihn nicht sah, sah ihn aller Wahrscheinlichkeit nach auch
der Schütze nicht – sofern der tatsächlich noch am Tatort war, was ich nicht glaubte.
Prüfend blickte ich zu Anna hinüber, die hinter dem sich aufbauschenden Fallschirm Deckung gesucht hatte und von dort aus bis ins hüfttiefe Wasser gegangen war. So war sie von meinem Standort aus und damit auch von dem des Bogenschützen nur schwer auszumachen.
Sehr gut
, dachte ich.
Beruhigt wandte ich mich den Dünen zu und begann die nähere Umgebung nach Hinweisen auf den Todesschützen abzusuchen.
In etwa zwanzig Metern Entfernung stieg die höchste Düne des näheren Umkreises auf, für mich der beste Platz, den ich mir als Schütze ausgesucht hätte. Aufmerksam behielt ich meine Umgebung im Auge, als ich mich der Düne näherte.
Wenig später bestätigte sich meine Vermutung.
Ich stand vor einer kleinen Mulde, die von hohem Strandhafer bewachsen war und in der vor Kurzem noch jemand gelegen haben musste. Der Sand in der Mulde war zertreten, die Vertiefung gut ausgeformt und an den Rändern noch nicht allzu viel Sand nachgerutscht, was dafür sprach, dass es noch nicht lange her war, dass hier jemand gelegen hatte.
Wenn nicht der Schütze, wer dann?,
dachte ich und ging langsam in die Hocke, um die flach gelegene Stelle vorsichtig zu inspizieren.
Der Sand war platt gelegen und die Kontur eines Menschen gut zu erkennen.
Jeder, der sich an den Strand zum Sonnen legt, kennt das: Man macht es sich auf seiner Decke gemütlich und es dauert nicht lange und es drückt hier und es drückt dort. Mit den Händen schaufelt man so lange herum, bis man für seinen Körper eine Mulde geschaffen hat, in der man bequem den ganzen Tag verbringen kann. Und hier war es so: In dieser Mulde
hatte es sich jemand eindeutig gemütlich gemacht. Ich konnte auch seitlich der Mulde zwei Vertiefungen erkennen, denen ich mich vorsichtig näherte.
Bedacht darauf, die Spuren nicht zu verwischen, kniete ich mich hinter die Sandmulden – und hatte augenblicklich einen wunderbaren Panoramablick auf den Strand und somit ein perfektes Schussfeld.
Hier hast du also gehockt
, dachte ich.
Wie lange hast du hier auf dein Opfer gelauert? Dir ist langweilig geworden, du hattest das Bedürfnis, deinen Todesschuss zu üben. Du hast die Möwen beobachtet und dann hast du …
Ich legte mich vorsichtig neben die Kontur, die sich deutlich im Sand abzeichnete, und reckte meinen Kopf in die Position, die der des Mörders entsprach. Eine fast akrobatische Leistung, die sich aber lohnte. Denn ich sah aus dieser Perspektive den Bereich, den der Mörder überblickt hatte. Da sich mein Kopf unterhalb des Strandhafers befand, der sich seitlich der Mulde mit dem Wind bewegte, konnte ich erkennen, dass der Schütze allerdings den Weg zum Strand nicht hatte einsehen können, weil der Blickwinkel aus der Senke das nicht zuließ.
Mir lief ein Schauer den Rücken entlang, und die Haare an meinen Unterarmen stellten sich nachträglich vor Unbehagen auf, als mir in diesem Moment klar wurde, dass der Todesschütze hier über einen längeren Zeitraum auf sein Opfer gewartet haben musste. Am Tag zuvor hatte er sich entweder gelangweilt oder den Drang verspürt, seinen Todesschuss an einem beweglichen Ziel zu üben, an einer der ständig hier herumkreisenden Möwen.
Der Strand war bis gestern sicher ebenso menschenleer wie heute gewesen, sodass er unbehelligt üben konnte. Wenn er eine Möwe abgeschossen hatte, konnte der Schütze sogar völlig unbeobachtet den Pfeil zurückholen und das arme Tier einfach ins Wasser werfen.
Nur gestern war der Strand nicht menschenleer gewesen.
Wahrscheinlich waren Anna und ich mit Motte gerade in dem Moment hier am Strand aufgetaucht, als der Schütze übte. Er hatte uns wahrscheinlich erst in dem Augenblick bemerkt, als wir auf den offenen Strand zuliefen. Da Motte die ganze Zeit über am Fuß der Düne entlanggestromert war, hatte der Schütze auch ihn erst sehen können, als die Möwe Motte vor die Füße fiel.
Mit zunehmendem Unbehagen ließ ich meinen Blick in die Runde wandern. Mir war der Gedanke zuwider, dass uns der Mörder vorher beobachtet haben musste: jede unserer Bewegungen, unsere Küsse … verärgert schüttelte ich den Kopf bei der Vorstellung unbekannter Augen, die auf uns gerichtet waren.
Entweder war dem Schützen gestern ebenso unbehaglich geworden wie mir gerade, oder er hatte eiskalt abgewartet und zugesehen, wie wir die tote Möwe untersucht hatten. Er hatte sicherlich an unseren Reaktionen abgelesen, welche Gedanken wir uns angesichts des durchbohrten Vogels machten. Und er wusste auch, dass wir den Pfeil mitgenommen hatten.
Im Nachhinein war ich sehr froh, dass ich den Karbonpfeil an mich genommen und die Spuren gesichert hatte. Mit etwas Glück waren DNA-Spuren des Schützen an dem Pfeil zu finden, denn ich hoffte, dass er vielleicht beim Üben nicht die gleiche Sorgfalt hatte walten lassen, die ich ihm bei Gebrauch des tödlichen Pfeils unterstellte, der im Hals von Trautes Freund steckte und der vermutlich frei von verwertbaren Spuren war.
Der Pfeil, mit dem er die Möwe abgeschossen hatte, lag wohlverwahrt in unserem Zimmer im Bismarck-Blick. Möglicherweise zahlte sich meine »Wer weiß, wofür es gut ist«-Philosophie aus. Eine solche Spur würde die Ermittler schnurstracks zum Mörder von Trautes Freund Milan führen.
Die Spuren, die ich hier gefunden hatte, waren nicht weniger wichtig. Daher wollte ich sie vorsichtshalber jetzt gleich dokumentieren, denn bis die Spurensicherung im Schlepptau der zuständigen Kripo hier eintraf, konnte es dauern.
»Hoffentlich taucht Mackensen nicht auf«, murmelte ich, während ich mein Handy aus der Seitentasche meiner Shorts herauszog. »Der würde mir noch zu meinem Glück fehlen.«
Ich wischte das Handy mit der flachen Hand halbwegs vom klebrigen Sand sauber und war angenehm überrascht, als der Bildschirm aufleuchtete und ich meine PIN eingeben konnte. Da hatte die Werbung einmal nicht mehr versprochen, als sie halten konnte. Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass das Handy nach meinem spontanen Ausflug in die Brandung noch funktionieren würde. Der Hersteller hatte mit der Wasserdichtigkeit des Geräts geworben, was ich zwar nicht so richtig glauben konnte, was mir im Grunde aber auch egal gewesen war. Ich hatte schließlich nicht vorgehabt, in voller Montur und mit Handy in der Hosentasche ins Wasser zu springen – eine eigentlich selbstverständliche Einstellung, die sich heute am Oststrand von Juist als Fehleinschätzung herausstellte.
Schnell machte ich aus verschiedenen Perspektiven ein paar Fotos der Mulde im Sand, wobei ich besonderes Augenmerk auf Details legte.
Als ich das Handy einsteckte, kam mir der Gedanke, dass der Bogenschütze irgendwann auch mal einem menschlichen Bedürfnis hatte folgen müssen, wenn er hier längere Zeiträume verbracht hatte, wie ich vermutete.
Wohin war er verschwunden?
Hatte der Todesschütze vielleicht sogar ein stilles Örtchen gehabt, das er wohl mehrfach aufsuchen musste? Unwillkürlich musste ich trotz der Situation lachen, in der ich mich befand.
Während ich mich langsam um die eigene Achse drehte, kam Motte auf mich zugetrottet. Kaum bei mir angelangt, ließ
er sich wie ein nasser Sack zu Boden fallen und stimmte augenblicklich ein geräuschvolles Schnarchkonzert an. Der Dicke war das einzige Lebewesen, das ich kannte, das umfallen und von einem Moment auf den anderen einschlafen konnte.
Nachdenklich sah ich in die Richtung, aus der mein Hund aufgetaucht war.
»Bleib du hier liegen«, sagte ich überflüssigerweise zu Motte, da er das sicher auch ohne meine Aufforderung tun würde.
Ich ließ Motte laut schnarchend vor sich hin pennen und machte mich auf die Suche nach der Stelle, die auch ein Kaiser zu Fuß aufsuchen würde. Ein paar Meter weiter südlich hinter dem nächsten Dichtwuchs hüfthohen Strandhafers wurde ich fündig.
Niedergetretene Halme und eindeutige Spuren im wieder getrockneten Sand dokumentierten, wo der Todesschütze wahrscheinlich seine Blase entleert hatte. Wenn meine Vermutung zutraf, war diese Entdeckung Gold wert. Die Spurensicherung würde vor lauter Freude über das wilde Klo des Todesschützen eine Flasche Sekt köpfen.
Mein Blick fiel auf eine Reihe kleinerer Abdrücke, die seitlich der Düne zu erkennen waren und genau …
»Motte!«, sagte ich erschrocken. »Der Dicke war gestern auch hier.«
Ich erinnerte mich, dass Motte uns gestern vorausgelaufen und eine Zeit lang verschwunden gewesen war. Wahrscheinlich war er seiner Nase gefolgt und durch die Dünen gestromert. Den Spuren nach musste er dem Bogenschützen einen Besuch abgestattet haben. Nun konnte es sein, dass der unbekannte Schütze ein Hundefreund war, es konnte aber genauso gut sein, dass er keinen Aufruhr verursachen wollte, den es sicher gegeben hätte, wenn plötzlich ein ausgewachsener Berner Sennenhund tot in den Dünen gelegen hätte. Der Schütze konnte davon ausgehen, dass Hundebesitzer den Strand nicht ohne ihren Hund
verlassen, sondern alles absuchen würden. Würden sie dann ihren toten Hund von einem Pfeil durchbohrt finden, wäre es erst einmal vorbei mit der Beschaulichkeit eines menschenleeren Strandes, und der Schütze hätte heute nicht in aller Ruhe den Mord an dem Fallschirmspringer begehen können.
Aber egal, wie und wieso – ich war vor allem heilfroh, dass der Dicke wohlbehalten zu uns zurückgekehrt und auch Anna und mir nichts passiert war.
Also hatte ich mich nicht getäuscht. Der Mord an dem Fallschirmspringer war geplant, organisiert und kaltblütig durchgeführt worden.
Die Frage war nur, von wem und warum.
Der Tod ihres Freundes würde Traute sehr treffen. Und nein, ich brauchte keinen Gedanken daran zu verschwenden, ob ich ihr zur Seite stehen würde, ich steckte bereits bis zum Hals in diesem Mordfall: zum einen als Augenzeuge, denn vor unseren Augen war der Freund der Oberstaatsanwältin kaltblütig ermordet worden, und zum anderen, weil ich Traute noch etwas schuldig war. Ihr hatte ich es zu verdanken, dass Kommissar Mackensen und Staatsanwalt Güll mich seinerzeit nicht in einer Zelle hatten schmoren lassen, als ich als Tatverdächtiger galt, da eine junge Frau tot aufgefunden worden war: erdrosselt mit meinem Pullover, den ich ihr tags zuvor geborgt hatte. Traute hatte als zuständige Oberstaatsanwältin meine Entlassung aus der Untersuchungshaft verfügt, wofür ich ihr auch heute noch sehr dankbar war.
Aus Richtung Dünenweg ertönten Rufe. Ich blickte hoch. In der Ferne sah ich mehrere Personen, die sich uns eilig näherten. Die Lautstärke ihrer Stimmen wuchs rasant.
»Motte!«, rief ich laut. »Komm. Wir müssen los.« Ich sah mich noch schnell in der Runde um, ob ich zufällig etwas entdecken konnte, was der Schütze hier vergessen oder verloren
hatte. Aber außer der Mulde und der Freilufttoilette war nichts zu sehen.
Motte hatte wohl meiner Stimme angehört, dass ich schleunigst hier wegwollte, denn er kam unverzüglich angetrabt.
»Komm, Dicker.« Ich fuhr ihm mit der Hand durchs Fell. »Auf geht’s.«
Anna war aus der Brandung ans Ufer gewatet und erwartete mich bereits ungeduldig.
»Und?« Ihre Erleichterung, mich wohlbehalten und ohne Einschusslöcher wiederzusehen, stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Alles gut«, schnaufte ich, da ich mich beeilt hatte, um vor dem Eintreffen der Neuankömmlinge bei Anna zu sein. »Der Bogenschütze hat oben in der Düne gelegen. Ich hab den Platz gefunden.«
»Hast du ihn gesehen?« Anna sah mich erschrocken an.
»Nein.« Ich umarmte sie. »Der war längst über alle Berge.«
»Gott sei Dank.« Anna zog mich eng an sich. »Ich hatte Angst um dich.«
Wir lösten uns aus unserer Umarmung und sahen der etwa zehnköpfigen Gruppe entgegen, die sich uns im Laufschritt näherte und von denen die meisten Fallschirmspringerkombis trugen.
Zwei der Springer kamen auf uns zu, während die anderen den gelben Fallschirm bändigten, der sich gerade durch eine Windböe wild aufblähte, um im selben Moment zurück aufs Wasser zu klatschen und alles mit dem nassen Nylon zu bedecken.
Schreckensrufe wurden laut, als sie Milan fanden und ihn unter dem Schirm hervorzogen.
»Der Rettungsdienst ist schon unterwegs«, sagte ich zur Begrüßung.
»Wir haben auch schon den Heli gerufen«, entgegnete der größere der beiden Männer, als sie uns mit einem kurzen Handschlag begrüßten. »Der müsste jeden Moment hier auftauchen.«
»Er kommt auf jeden Fall zu spät«, erwiderte ich. »Milan ist tot.«
»Sie kennen Milan?« Überrascht sah mich mein Gegenüber an. »Und wieso ist er tot? Er konnte hier doch glatt landen.«
»Er hat einen Pfeil im Hals, Mirco.« Ein junger Mann in knallroter Montur stakste durch den Sand auf uns zu. »Einen Pfeil! Ich glaub’s nicht.«
»Wieso denn einen Pfeil?« Der Mann namens Mirco drehte sich mit ungläubigem Gesichtsausdruck zu seinen Springerkameraden um. »Ich dachte …«
Wortlos hatten die Fallschirmspringer einen Halbkreis um ihren toten Kameraden gebildet und starrten zu Boden.
Der Springer namens Mirco ging in die Hocke, um sich den Toten aus nächster Nähe anzuschauen, dann erhob er sich entgeistert und machte ein paar Schritte zur Seite. Mit versteinertem Gesichtsausdruck starrte er aufs Meer hinaus.
Ich löste mich von Anna und trat von hinten an den Mann heran.
»Sie waren gerade so überrascht, als Sie von dem Pfeil gehört haben. Sie haben etwas anderes vermutet«, sagte ich leise. »Was haben Sie gedacht?«
»Ich fasse es nicht«, entgegnete er tonlos.
»Was fassen Sie nicht?«, bohrte ich hartnäckig nach.
Der Mann antwortete nicht, sondern starrte weiter aufs Meer hinaus.
Es dauerte noch einen Moment, bis er realisiert hatte, dass ich hinter ihm stand. Mit einem Ruck fuhr er zu mir herum. »Wer sind Sie?«
»Ein Urlauber«, antwortete ich.
Sein Gesichtsausdruck wurde abweisend.
»Dann machen Sie auch Urlaub und kümmern sich um Ihren Kram.«
Ich sah ihn scharf an. »Genau das werde ich tun. Mich um meinen Kram kümmern.«
Sein Blick flackerte kurz, unser Blickkontakt wurde ihm unangenehm, abrupt wandte er sich ab und ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zurück zu den Männern, die noch immer im Halbkreis um den Toten herumstanden und versuchten, das Unfassbare zu begreifen: den kaltblütigen Mord an einem ihrer Kameraden, hier am traumhaften Strand von Töwerland.
Es ist wirklich kaum zu begreifen, wenn sich eine solche Grausamkeit inmitten einer Idylle von Sonne, Strand und Meer abspielt. Es war fast so, als hätte der Teufel seinen Fingerabdruck im Paradies hinterlassen.
»Wir müssen …«, sagte einer der Männer und riss seinen Blick von dem Toten los. »Wer sagt es Traute?«
Keiner der Männer erwiderte etwas. Alle schauten weiter zu Boden.
»Einer muss es ihr doch sagen«, ließ sich der Mann erneut vernehmen.
»Ich übernehme das.« Ohne dass es mir bewusst war, glitten mir die Worte über die Lippen.
Im selben Moment, als ich sie ausgesprochen hatte, hätte ich mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Es war klar, dass jemand Traute über den Tod ihres Freundes informieren musste. Aber musste ausgerechnet ich das sein? Konnte ich mich nicht einfach mal zurückhalten und nicht immer als Erster den Finger heben, wenn es um Freundschaftsdienste ging? Wobei das Überbringen einer Todesnachricht alles andere als ein Freundschaftsdienst war. Aber Traute hatte mir einmal sehr viel bedeutet, und es war mir im Moment ein Bedürfnis, ihr in einem solch schrecklichen Moment zur Seite zu stehen.
Der Mann namens Mirco sah mich mit spöttischem Gesichtsausdruck an. »Urlauber … soso, na dann mal los.« Er machte eine Kopfbewegung, der ich mit meinem Blick folgte.
Aus Richtung Dünenweg hasteten zwei weitere Personen durch den Sand auf uns zu; ich erkannte Traute in Begleitung von Manfred. Ich drehte mich zu Anna um und gab ihr mit einem Zeichen zu verstehen, dass ich gleich zu ihr zurückkommen würde. Mit weit ausholenden Schritten ging ich Traute entgegen und blieb nach etwa zwanzig Metern vor ihr und Manfred stehen.
Ich brauchte nichts zu sagen.
Traute las in meinem Gesicht, was passiert war. Sie presste die Lippen zusammen und sah über meine Schulter hinweg in die Richtung, wo ihr toter Freund lag. Schweigend nahm ich sie in den Arm. Trautes Brust hob und senkte sich langsam, sie konzentrierte sich aufs Atmen, versuchte, ihren Schmerz wegzuatmen, was ihr natürlich nicht gelang. Ich spürte das Zittern ihres Körpers an meiner Brust.
»Milan«, sagte Manfred zaghaft. »Ist er …?«
»Ja.« Ich nickte. »Er ist tot.«
»Hast du gesehen, wie er runterkam?« Trautes Stimme klang vollkommen gefasst, als sie ihren Kopf an meine Wange legte und über meine Schulter hinweg zu dem gelben Fallschirm sah.
Wieder nickte ich.
»Wie ist das passiert? Ich meine …« Manfred fuhr sich mit der Hand über die Stirn, auch ihm stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. »Hat sich der Fallschirm nicht rechtzeitig geöffnet?«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Das war es nicht.«
»Was war es dann?«
Ich zögerte mit meiner Antwort.
Sicher, sie war gefasst, und der Umgang mit Todesfällen war ihr von Berufs wegen nicht unbekannt. Aber es war etwas
anderes, ob man beruflich mit Mord und Totschlag zu tun hatte, als wenn man persönlich vom unerwarteten, gewaltsamen Tod eines Menschen betroffen war, den man kannte und, was in ihrem Fall noch schlimmer war, den man liebte. Zumindest ging ich davon aus, dass sie ihn liebte.
»Sag’s mir.« Trautes Stimme war kaum zu hören, so leise flüsterte sie dicht an meinem Ohr.
»Jemand hat auf ihn geschossen. Mit einem Pfeil«, sagte ich und verzichtete auf weitere Einzelheiten; die würde Traute noch früh genug erfahren. »Du solltest nicht hingehen. Tu dir das nicht an.«
»Mit einem …« Hastig kniff Manfred die Lippen zusammen und starrte mich an. Es war seiner Miene anzusehen, dass es hinter seiner Stirn fieberhaft arbeitete.
Ich blickte ihn nachdenklich an, während ich Traute im Arm hielt, und spürte, wie ihre Tränen langsam meinen Hals hinabliefen.
Manfred gab mir mit dem Kopf ein Zeichen und setzte sich in Richtung des Toten in Bewegung. Nach ein paar Schritten blieb er stehen und starrte auf die Stelle, wo der im Wasser verbliebene Teil des gelben Fallschirms auf den Wellen schaukelte.
Die Gruppe Männer hatte sich aufgeteilt. Zwei der Fallschirmspringer hatten wieder den Nylonschirm über den Toten ausgebreitet, um ihn zu verdecken, aber wohl in erster Linie, um nichts am Ort des Geschehens zu verändern. Der Rest der Gruppe hatte sich ein paar Meter weiter entfernt versammelt. Während die einen in gedämpftem Ton miteinander redeten, sahen die anderen regungslos auf den sich noch immer bauschenden Schirm, unter dem sich je nach Windbö die Umrisse des Toten deutlich abzeichneten.
Anna hatte sich an der Stelle, wo ich sie verlassen hatte, in den Sand gesetzt. Motte lag neben ihr. Wahrscheinlich
nutzte er die Ruhepause, um sein unterbrochenes Schläfchen fortzusetzen.
Nach einer Weile nickte Traute langsam. »Du hast recht, Jan. Ich schau ihn mir nicht an. Nicht jetzt. Nicht hier. Dazu ist später noch Zeit genug.«
Ich wusste, dass sie mit später die Pathologie in Emden meinte.
»Ich geh jetzt zurück ins Hotel«, fuhr sie fort. »Packen. Ich will hier weg.«
»Wenn ich etwas für dich tun kann …«, bot ich ihr an.
»Nicht nötig.« Traute löste ihre Arme von mir und hob den Kopf. Ihre tränennassen Augen sahen mit leerem Blick zu der Stelle hinüber, wo ihr toter Freund lag. »Ich komm klar.«
»Ich kann hier nicht weg«, sagte ich. »Ich muss auf die Polizei warten.«
»Natürlich. Du bist Augenzeuge.«
»Ja. Und ich möchte mich um Anna kümmern.«
Trautes Blick wandte sich mir zu. Ihre Lippen zitterten leicht. »Eine hübsche Frau, sie passt gut zu dir. Liebst du sie?«
»Ja.« Wie selbstverständlich kam mir das Eingeständnis über die Lippen, ohne dass ich lange überlegen musste. »Ja, ich liebe sie.«
»Ich wünsche euch viel Glück.« Jetzt zitterte auch Trautes Stimme. »Halt dein Glück fest, Jan. Du siehst, wie unbarmherzig das Schicksal zuschlägt. Du weißt nie, wie lange dein Glück dauert – bis es ohne Vorwarnung plötzlich zu Ende ist.«
Wortlos umarmte ich Traute zum Abschied.
Als ich sie losließ, trat Manfred wieder neben uns. Mit einem kurzen Blick gab er mir zu verstehen, dass er Traute zurückbegleiten würde. Ich nickte kurz. Manfred legte seinen Arm um sie und führte sie behutsam Richtung Dünenweg.
In diesem Moment tauchten die Rettungskräfte nahezu gleichzeitig auf.
Während sich von der Westseite des Strandes der gelb-rote GTW, der Gelände-Transport-Wagen des Juister Rettungsdienstes, mit Blaulicht näherte und eine Sandwolke hinter sich herzog, schoss der gelbe Rettungshubschrauber, den ich gestern schon im Einsatz gesehen hatte, über die große Düne hinweg, um zur Landung anzusetzen.
Schnell ging ich zurück zu Anna, die sich erhob und mich aufmerksam musterte.
»Wie geht es ihr?«, wollte sie wissen.
»Sie ist gefasst«, antwortete ich. »Sehr diszipliniert und gefasst. Manfred bringt sie zurück zu ihrem Hotel.«
»Gehst du später noch zu ihr?«
»Wie bitte?« Perplex sah ich sie an. »Wie kommst du denn auf die Idee?«
»Ich dachte nur.« Annas Stimme wurde vom Rotorenlärm übertönt. »Vielleicht willst du sie trösten.«
Ich konnte nicht glauben, dass Anna so etwas sagte.
Ungläubig sah ich sie an. Später, wenn das hier vorbei war, würde ich in Ruhe mit ihr reden. Ich hatte Traute spontan in den Arm genommen, sie hatte gerade einen schweren Verlust erlitten. Ihr Freund war unter schrecklichen Umständen zu Tode gekommen. Für mich war es selbstverständlich, in einem solchen Moment für Traute da zu sein. Doch obwohl ich keinen Grund für Eifersucht sah, hatte ich natürlich Verständnis für Anna. Es musste ein befremdliches Bild für sie gewesen sein, wie ich nur ein paar Meter entfernt von ihr eng umschlungen mit Traute gestanden hatte.
Es brannte mir auf der Seele, Anna zu versichern, dass es keinen Grund zur Eifersucht gab und auch nicht geben würde. Aber hier und jetzt war ein schlechter Moment zum Reden, denn der Rettungshubschrauber entfachte gerade einen Sandsturm.
Wir drehten dem Hubschrauber den Rücken zu und hoben schützend die Hände vor die Augen, um uns vor der
Sandfontäne zu schützen, die der Rotor aufwirbelte. Motte drückte seinen Kopf eng an meinen Oberschenkel, weil auch ihm der Sand wie von einem Sandstrahler abgefeuert um die Ohren flog. Wahrscheinlich war Motte durch den Sand, der ihm im Fell steckte, ein paar Kilo schwerer geworden.
Kaum dass der Pilot die Turbine des Helikopters abgestellt hatte, kam auch schon der hochbeinige Geländewagen des Rettungsdienstes neben uns zum Stehen. Auch wenn Juist eine autofreie Insel ist, sind Feuerwehr und Rettungsdienste motorisiert. Das
hospiMobil
, ein geländegängiges Allradfahrzeug des DRK Juist, ist eine neue Errungenschaft des Rettungsdienstes und kann bei jeder Wetterlage innerhalb kürzester Zeit jede Stelle des siebzehn Kilometer langen Sandstrands erreichen, um Erste Hilfe zu leisten.
Zwei Sanitäter sprangen aus dem gelben Geländewagen, dessen Blaulicht auf dem Dach lautlos flackerte. Schnell liefen sie auf die Gruppe Fallschirmspringer zu.
Ich legte meinen Arm um Anna. Gemeinsam beobachteten wir, wie die Rettungskräfte sich um den abgestürzten Fallschirmspringer bemühten, um ihre Maßnahmen kurz darauf wieder einzustellen. Es war offensichtlich, dass jegliche Reanimationsversuche bei dem toten Milan sinnlos gewesen wären.
Die Piloten des Rettungshubschraubers wechselten noch ein paar Worte mit ihren Kollegen in der Rettungsstelle, um kurz darauf wieder den Rotor ihres Helikopters zu starten.
Einer der Rettungssanitäter kam auf uns zu. »Moin«, begrüßte er uns. »Sie haben uns angerufen?«
»Ja«, antwortete Anna mit leiser Stimme. »Ich war das.«
»Wir können nichts mehr für den Mann tun«, stellte der Sanitäter fest und deutete zu der Stelle mit dem Toten. »Die Kollegen von der Luftrettung rücken jetzt wieder ab, wir
müssen warten, bis die Polizei eintrifft.« Er hob entschuldigend die Schultern. »Sie leider auch. Sie haben den Toten gefunden.«
»Er lebte noch, als wir ihn sahen«, entgegnete Anna.
»Er wurde erschossen«, ergänzte ich. »Vor unseren Augen. Es war kaltblütiger Mord!«