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Meine Befürchtungen bestätigten sich in dem Moment, als sich die Seitentüren des blau-weißen Polizeihubschraubers öffneten.
»Der fehlt mir gerade noch«, knurrte ich.
»Das ist doch dieser …?«, begann Anna, die gemeinsam mit Motte und mir geduldig auf das Eintreffen der Polizei gewartet hatte, »… Kommissar?«
»Ja, genau der. Leider«, lautete meine Antwort, nicht sonderlich charmant, aber ehrlich.
Gleichzeitig meldete sich mein schlechtes Gewissen. Schließlich handelte es sich bei dem hochgewachsenen, gut aussehenden Mann mit dem Dreitagebart und der verspiegelten Sonnenbrille um den Mann, in den meine Tochter sich verliebt hatte und dessen momentaner Beziehungsstatus nicht
kompliziert
, sondern
Beziehung beendet
lautete.
Und zwar beendet von meiner Tochter Thyra.
Aber man weiß ja nie, wie sich Beziehungsdinge entwickeln können. Ich sollte ihm entsprechend offen und unvoreingenommen, wenn nicht sogar wohlwollend begegnen: wahrlich eine Herausforderung.
Aber da Mackensen sich in der jüngsten Vergangenheit mir gegenüber fair und korrekt verhalten hatte, wenn wir
miteinander zu tun gehabt hatten, war es nur fair, ihm ebenso korrekt zu begegnen.
Er kann’s nicht lassen
, dachte ich und verkniff mir ein Grinsen, als ich die Spiegelbrille des Kommissars sah.
Ohne Brille geht’s nicht, aber zumindest verzichtet er aufs Haargel.
Als ich ihn kennengelernt hatte, trat Mackensen stets auf, als sei er gerade einem Männermagazin entstiegen: Maßanzüge, Manschettenknöpfe und handgearbeitete Schuhe. Mit seinen gegelten Haaren und der verspiegelten Sonnenbrille, die er ungeachtet der Jahres- und Tageszeit trug, verkörperte er für mich nicht einen ernsthaften Kriminalisten, sondern einen arroganten, selbstverliebten Fatzke.
Meine Einschätzung bestätigte sich in so ziemlich allen Punkten, da Mackensen sich wie sein eigenes Klischee verhielt: arrogant und selbstverliebt, aber zumindest ein guter Kriminalist. Neben seinem guten Aussehen schien er sich in erster Linie für seine Karriere zu interessieren, die einen empfindlichen Dämpfer bekam, als ihn sein Chef als Preis für seine allzu schnelle Beförderung vor seinen eigenen Karren spannte. Zum Erstaunen aller, die ihn kannten, drehte er seinen protegierten Karrieresprung zum Hauptkommissar wieder zurück, als sich herausstellte, dass sein Chef als leitender Oberstaatsanwalt in eine laufende Mordermittlung involviert war. Sicherlich keine schlechte Idee von Mackensen, da ansonsten ein schlechter Geruch an seiner Beförderung haften geblieben wäre.
Nach Mackensens konsequentem Schritt veränderte er sich auch äußerlich sehr zu seinem Vorteil und überraschte zudem mit guter analytischer und fundierter Polizeiarbeit.
Ich vermutete stark, dass meine Tochter Thyra ebenfalls einen gewissen Einfluss auf ihn gehabt hatte, denn ihr ging jeglicher Hang zu modischem Schnickschnack vollkommen ab, da konnte er keine Punkte bei ihr machen: Jeans, Shirt, Turnschuhe oder Stiefel und fertig war ihr Outfit. Auch wenn Mackensen
sich gewandelt hatte, war ich froh, dass Thyra mit ihm Schluss gemacht hatte, denn Freunde würden wir trotzdem nie werden.
Dass sich meine Tochter auf eine Liebesbeziehung mit genau dem Kommissar eingelassen hatte, mit dem ich ständig zusammenrasselte, wenn ich mich auf juristische Spurensuche begab, hatte ich damals mehr durch meine kriminalistische Nase als durch ein Eingeständnis meiner Tochter erfahren.
Als ihr neuer
Freund
im Zuge eines Entführungsfalles das Handy ihres Vaters abhören und überwachen ließ, beendete Thyra die Beziehung, da sie ihm diesen Vertrauensbruch nicht verzeihen konnte.
Obwohl mir das Ende der Beziehung für meine Tochter sehr leidtat, fiel mir doch ein Stein vom Herzen, wie ich mir insgeheim eingestand. Natürlich hätte ich Thyras Beziehung akzeptiert, schließlich war mir ihr Glück wichtiger als meine persönlichen Animositäten. Aber erleichtert war ich schon, als sie mir sagte, dass sie sich von Mackensen getrennt hatte.
»Moin«, begrüßte uns Kommissar Mackensen, dicht gefolgt von seinem Partner Freud, einem jungdynamischen Streber, der aus Hannover zu uns an die Küste versetzt worden war und dessen spießig-hölzernes und dennoch provokantes Auftreten ganz schnell auch zwischen uns die Funken hatte sprühen lassen.
Gleich hinter den beiden Kommissaren erkannte ich unschwer an seiner karottenfarbenen Haarpracht den für unsere Region zuständigen Gerichtsmediziner Theodor Tillmann, der mich jedes Mal an Ronald McDonald, das Maskottchen einer Fleischmasse-in-weichen-Pappbrötchen-Restaurantkette, denken ließ. Tillmann beschränkte sich auf ein dezentes Nicken, als er wie gewohnt eilig und zielstrebig an mir vorbeihuschte.
Tillmanns reservierte Art überraschte mich nicht wirklich. Schließlich war er bei meiner Tochter der Vorgänger von Mackensen gewesen. Und es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass ich heute Thyras beiden Ex-Freunden
gegenüberstand, gewissermaßen zwei Schwiegersohnaspiranten, die nicht gegensätzlicher hätten sein können. Wobei meine Sympathien eindeutig bei Theo Tillmann lagen, einem exzellenten Gerichtsmediziner und Arzt, der mit seiner ungewöhnlichen Haarpracht und seiner hageren Statur nicht nur an Ronald McDonald, sondern auch an einen großen dürren Vogel erinnerte.
»Moin«, erwiderten Anna und ich ohne große Begeisterung, aber in Vorfreude darauf, endlich verschwinden und dem Schrecken den Rücken kehren zu können.
Leider würde es schon noch eine geraume Weile dauern, bis wir uns davonmachen konnten.
Mackensen und ich musterten uns gegenseitig. Es hätte mich brennend interessiert, was hinter seiner Stirn vor sich ging, als sein Blick zwischen Anna und mir hin und her wanderte.
Normalerweise hätte er mich in der Vergangenheit mit einem sarkastischen »Sie schon wieder, de Fries?« begrüßt. Heute aber sparte er sich seinen süffisanten Kommentar und beschränkte sich auf eine knappe Begrüßung.
»Sie haben also den Pfeil gesehen, der den Fallschirmspringer im Hals getroffen hat?«, eröffnete Mackensens Partner Kommissar Freud die Vernehmung und sah mich aufmerksam an, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass ich mir widersprach und er mich ins Kreuzverhör nehmen konnte. Den Gefallen tat ich ihm allerdings nicht, weil es nichts zu verheimlichen gab.
»Nein«, ich schüttelte den Kopf. »Haben wir nicht.«
»Aber Sie haben doch dem Rettungsdienst gesagt, dass sie gesehen haben, wie Milan Siebrandt erschossen wurde.« Freuds Wangen bekamen Farbe, als er sich mit in die Hüften gestützten Armen vor uns aufbaute.
»Auch das haben wir nicht«, stellte ich fest. »Aber wir geben Ihnen gern persönlich zu Protokoll, was wir gesehen haben und was nicht.«
»Da bin ich gespannt«, erwiderte Freud und zog ein kleines Notizheft aus der Innentasche seiner Lederjacke.
Mit wenigen Sätzen schilderte ich, wie Anna und ich unseren Strandtag verbracht und die Fallschirmspringer beobachtet hatten.
»Wir haben dann den jetzt toten Fallschirmspringer gesehen, als er wie von einem elektrischen Schlag getroffen zusammengezuckt ist.«
»Was haben Sie sich gedacht, als der Mann, wie Sie sagen, wie von einem Schlag getroffen zusammenzuckte?«, hakte Mackensen nach.
»Nichts«, antwortete Anna. »Das ging alles sehr schnell. Es war so ein schönes Bild, wie die bunten Fallschirme am blauen Himmel schwebten.«
»Und dieser eine Springer war der letzte?«
Ich nickte. »Ja, die anderen Schirme waren schon hinter der großen Düne Richtung Flugplatz verschwunden, als der gelbe Schirm angeschwebt kam.«
»Der Mann ist zusammengefahren, als hätte ihn ein Stromschlag getroffen«, sagte Anna, und ihr war anzusehen, dass ihr die Schilderung der Ereignisse schwerfiel.
»Haben Sie gesehen, wie der Pfeil abgeschossen wurde?«, fragte Mackensen.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Den Pfeil in seinem Hals haben wir erst gesehen, als Jan den Mann aus dem Wasser retten wollte«, ergänzte Anna.
»Wollte?« Freud sah mich aufmerksam an.
»Ja klar«, entgegnete ich. »Ich wollte den Mann aus dem Wasser ziehen, weil er sonst abgesoffen wäre. Deshalb bin ich hingerannt und habe versucht, ihn unter dem herabsinkenden Schirm heraus und ans Ufer zu ziehen. Dabei stellte ich fest, dass der Mann tot war und in seinem Hals ein Pfeil steckte.
Somit ist es bei dem Rettungsversuch geblieben, da der Mann ja bereits tot war.«
»Woher wussten Sie, dass der Mann tot war?« Freud stellte mal wieder eine seiner ganz schlauen Fragen.
»Weil auch für mich als medizinischer Laie unschwer zu erkennen war, dass der schätzungsweise sechzig Zentimeter lange Pfeil, der dem Mann im Hals steckte, maßgeblichen Anteil an seinem Zustand hatte. Und diesen Zustand schätzte ich als tot ein«, spulte ich im trockensten Juristenjargon ab. »Eine zutreffende Einschätzung, wie die kurz darauf eintreffenden Rettungsdienste ebenfalls feststellten.«
»Und – haben Sie?«, fragte Mackensen unvermittelt und ließ mich in mein eigenes Spiegelbild schauen, als mich seine verspiegelten Brillengläser zu fixieren versuchten.
»Habe ich was?«, erwiderte ich kühl, denn für verhörtechnische Spielchen hatte ich heute überhaupt keinen Nerv.
»Den Mann aus dem Wasser gezogen.«
Ich ignorierte seinen Spiegelblick und antwortete wahrheitsgemäß. »Ja, habe ich. Ich bin durchs Wasser gelaufen, und als ich ihn erreicht hatte und seinen Kopf anhob, sah ich den Pfeil in seinem Hals stecken.«
Mackensen nickte. »Verstehe.«
Dann berichtete ich Mackensen vom Vortag und der toten Möwe sowie meinen Entdeckungen in den Dünen.
»In Ordnung«, sagte Mackensen. »Den Pfeil holt später jemand von uns bei Ihnen in der Pension ab.«
»Sie haben also wieder auf eigene Faust ermittelt«, mischte sich jetzt Kommissar Freud ein.
»Und?«, entgegnete ich angriffslustig. »Was ist daran falsch?«
»Sie haben möglicherweise Spuren verwischt.« Um seiner gespielten Empörung Nachdruck zu verleihen, stemmte Kommissar Freud erneut beide Arme in die Hüften und sah mich mit finsterem Blick vorwurfsvoll an.
»Regen Sie sich nicht künstlich auf«, erwiderte ich unbeeindruckt. »Spuren, die möglicherweise bis zu Ihrem Eintreffen vom Wind verweht worden wären.«
Hat der eine die Kurve gekriegt, fängt der andere an, komisch zu werden
, dachte ich spöttisch.
Bislang war es immer Mackensen gewesen, der keine Gelegenheit ausließ, sich auf Kosten anderer zu profilieren. Kurz nachdem er vom Saulus zum Paulus avanciert war, schien Jungkommissar Freud seine Rolle übernommen zu haben, was ihm auch sehr gut gelang. Er wurde immer ekliger und anmaßender, ganz so wie sein Vorbild.
Während Freud noch herummoserte, hatte Mackensen bereits die Spur aufgenommen und brannte sichtlich auf kriminalistische Spurensuche.
»Zeigen Sie uns bitte, was Sie gefunden haben«, bat er mich ungeduldig und machte eine knappe Handbewegung Richtung Freud, der abrupt verstummte.
Während sich Anna mit einer Engelsgeduld wieder neben Motte in den Sand hockte, führte ich die beiden Kommissare zu der Mulde in der Düne hoch. Während Freud mit lustlosem Gesichtsausdruck die Spuren abfotografierte, ließ sich Kommissar Mackensen bis ins letzte Detail meine Beobachtungen schildern.
»Haben Sie vielen Dank, Herr de Fries«, bedankte er sich zum Abschluss meiner Schilderungen. »Die Kollegen von der Spurensicherung treffen bestimmt jeden Moment ein. Wenn Sie nicht schon alles fotografiert hätten, wären sicherlich einige Spuren verloren gegangen.« Er wies auf eine Seitenkontur der Körpermulde, die gerade von einer Windbö verweht und damit immer unkenntlicher wurde.
Gemeinsam stapften wir zurück zu der Stelle, wo Anna auf mich wartete, mittlerweile in Gesellschaft von Theo Tillmann.
Ich signalisierte ihm mit den Augen, dass ich alleine mit ihm sprechen wollte. Tillmann verstand und kam auf mich zu. Wir gingen ein paar Schritte zur Seite und ich warf Anna einen beruhigenden Blick zu.
Es war nicht so, dass ich Geheimnisse vor Anna hatte, aber ich wollte Tillmann nicht in Verlegenheit bringen, wenn er mir vielleicht etwas mehr sagen würde, als er offiziell durfte. Wir hatten im Lauf der Jahre ein besonderes Vertrauensverhältnis zueinander entwickelt. Einige Male hatten mich meine Ermittlungen, die ich, versehen mit einem offiziellen Mandat, durchführte, in Tillmanns Reich geführt, wo er Chef war – die Räume der Emder Gerichtsmedizin.
Wir verstanden uns auf Anhieb gut, plauderten auch mal über private Dinge und tranken gelegentlich zusammen ein Glas Wein. Obwohl ich Tillmann als Mensch und als brillanten Pathologen sehr mochte und schätzte, war ich alles andere als begeistert gewesen, als er und Thyra die ersten Male miteinander ausgingen. Aber natürlich hatte ich Thyras Privatleben respektiert, wenn auch zähneknirschend.
Als meine Tochter sich von Tillmann trennte, da es zwischen ihr und Kommissar Mackensen gefunkt hatte, tröstete ich ihn, als er mich aufgelöst und rotweinselig mitten in der Nacht anrief. Mittlerweile hatte Tillmann zwar die Trennung von Thyra überwunden, aber ich war überzeugt, dass er sie noch immer liebte. Tragisch, aber so ist nun mal das Leben. Liebe lässt sich nicht erzwingen, Liebe
ist
. Eine schmerzhafte Erfahrung, die ich selber vor nicht allzu langer Zeit hatte machen müssen.
»Moin«, begrüßte ich Tillmann ein zweites Mal, beließ es aber nicht beim vorherigen Kopfnicken, sondern reichte ihm diesmal die Hand.
»Moin.« Tillmann hatte sich kurz vorher seine Einmalhandschuhe abgestreift und streckte mir seine Hand entgegen.
»Wie geht’s?«, fragte ich.
»Jo«, antwortete Tillmann.
Nachdem das geklärt und der höflichen Begrüßung Genüge getan war, konnten wir zum Wesentlichen kommen.
»Und?«
»Eindeutig!«, stellte Tillmann fest. »Der Mann ist an dem Halsdurchschuss gestorben.«
»Der Pfeil«, sagte ich.
»Exakt«, erwiderte Tillmann. »Länge des Schaftes: 77,5 cm. Durchmesser: 7,5 mm. 80 % Karbon + 20 % Fiberglas. Gewicht der Metallspitze: 4,5 g ± 0,15 g.«
»Aha«, entgegnete ich und war aufs Neue von Tillmanns messerscharfer und extrem schneller Analyse fasziniert. »Und der Pfeil war die Todesursache, gehe ich mal von aus.«
»Das kann ich erst nach der Obduktion sagen – offiziell.« Tillmann zuckte bedauernd mit den Schultern.
»Verstehe. Aber dass er tot ist, steht fest.«
»Eindeutig.« Tillmann ließ wie zur Bestätigung seinen übergroßen Adamsapfel einmal hochhüpfen.
»Und das ist amtlich?«, fragte ich.
»Amtlicher, wie es nicht sein kann«, erwiderte Tillmann und sah mich traurig an. »Die OA wird sehr betroffen sein.«
Tillmann benutzte die dienstliche Abkürzung OA für Oberstaatsanwältin.
»Du weißt Bescheid?« Überrascht davon, dass Tillmann von der Verbindung zwischen Traute und Milan wusste, sah ich ihn an.
Offenbar war das zwischen Traute und Milan schon eine ganze Weile gegangen. Zumindest aber so lange, dass der aktuelle Beziehungsstatus der Oberstaatsanwältin bereits in Tillmanns Gerichtsmedizin angekommen war.
»Ostfriesland ist ein Dorf …«, schmunzelte Tillmann vielsagend.
»Ich weiß, ich weiß«, winkte ich ab; mir stand heute nicht der Sinn nach Binsenweisheiten. »Woher weißt du von der Beziehung der beiden?«, wollte ich wissen.
»Bürotratsch«, erwiderte Tillmann. »Nicht verifiziert, aber sehr informativ.«
»Ging das … ähm …« Verlegen brach ich ab, da ich gerade selber nicht wusste, weshalb es mich interessierte, seit wann Traute wieder liiert gewesen war.
»Du meinst, ob das mit Frau Lenzen und Herrn Siebrandt schon länger ging?«
»Hm«, machte ich.
»Ich kann’s natürlich nicht genau sagen. Woher auch«, meinte Tillmann fast schon entschuldigend und wiegte seinen Schädel einige Male auf seinem langen Hals hin und her. »Also, ich hab erst letzten Monat davon gehört. Ich glaube, das mit den beiden ging so zwei, drei Monate. Länger nicht. So lange nimmt die OA auch diesen Unterricht.«
Es war irrational, und ich wusste auch nicht, wieso, aber ich fühlte mich etwas erleichtert, als Tillmann von einem Zeitraum von zwei, drei Monaten sprach. Wenn Traute noch nicht allzu lange mit ihrem Freund zusammen gewesen war, kam sie möglicherweise besser mit dem Verlust zurecht, als wenn es eine über einen längeren Zeitraum gewachsene Beziehung gewesen wäre. Aber egal, wie lange und wie intensiv die Beziehung zu ihrem Freund auch gewesen sein mochte, sie würde ihren Partner geliebt haben, und der Verlust eines geliebten Menschen ist immer eine Tragödie, die tiefe Wunden reißt und unsagbares Leid zufügt. Egal, wie lange man zusammen war.
»Was weißt du noch?«, erwiderte ich. »Ich meine … mal so ganz informativ.«
Tillmann legte den Kopf auf die Seite und sah mich mit unschuldigen Augen an. Ich fühlte mich sogleich an
einen großen Vogel erinnert, der um Futter außerhalb der Fütterungszeiten bettelte.
»Und?«, bohrte ich ungeduldig nach und ließ mich in keiner Weise von seiner Unschuldsmiene beeindrucken. »Oder kompromittiere ich dich gerade mit meinen Fragen?«
»Nö«, schüttelte Tillmann den Kopf. »Ist eh nur der übliche Tratsch.«
»Der offenbar an mir vorbeigegangen ist.«
»Man erzählt sich, dass Siebrandt ein Hansdampf in allen Gassen war: Pilot, Fallschirmspringer und erfolgreicher Geschäftsmann. Die beiden sollen sich auf einem Event in Hamburg kennengelernt haben. Siebrandt hat seine neue Fluglinie vorgestellt.«
»Donnerwetter«, sagte ich mit ehrlichem Bedauern. »Und jetzt kaltblütig ermordet. Hat diese Fluglinie etwas mit Juist zu tun?«
»Offenbar ja.« Tillmann nickte. »Dieser Siebrandt ist neben allem anderen in erster Linie Reiseveranstalter gewesen. Last Minute und so. Damit soll er wohl sein Geld gemacht haben. Mit der Fluglinie wollte er expandieren, ein weiteres Standbein.«
»Hier bei uns?«
»Wieso nicht?«, erwiderte Tillmann achselzuckend. »Die Inseln sind gut besucht, Fähren und Inselflieger auch immer ausgebucht.«
»Wir sind denn so weit fertig«, erscholl Kommissar Mackensens Stimme, der gemeinsam mit seinem Kollegen durch den Sand stapfte. »Sie können gehen.«
»Dann erst mal schönen Dank für den neuesten Tratsch, Theo«, sagte ich zu Tillmann. »Wir hören voneinander.«
»Gern geschehen«, erwiderte der. »Ich plaudere immer gern mit dir. Und ich denke, du steckst mal wieder mittendrin in einem Mordfall.«
»Da magst du wohl recht haben«, brummte ich und wollte zu Anna hinübergehen, als Mackensen auf mich zutrat.
»Danke nochmals«, sagte er und nickte mir anerkennend zu. »Das war gut.«
»So viel Lob von Ihnen? Wer hätte das gedacht«, erwiderte ich.
Erstaunlich gelassen lächelte Mackensen mich an. »Das war gut, dass Sie oben in den Dünen nachgesehen haben, während wir noch am Festland waren. Die Mulde, wo der Täter vermutlich gelegen und auf sein Opfer gewartet hat, hätten wir mit Sicherheit auch gefunden, aber die Pinkelecke wäre sicher zugeweht gewesen. Mit Glück haben wir damit die DNA des Täters.«
»Gern geschehen«, erwiderte ich. »Dann viel Glück bei Ihren Ermittlungen.«
Mit einem kurzen Kopfnicken verabschiedete ich mich von Kommissar Mackensen und ging zu Anna und Motte, die bereits ungeduldig auf mich warteten.
Unglaublich
, dachte ich kopfschüttelnd.
Mackensen bedankt sich bei mir. Das hat es ja noch nie gegeben.
Motte schüttelte sich eine halbe Düne aus seinem Fell, als er hochsprang, um mich zu begrüßen.
»Dann lass uns mal von hier verschwinden«, sagte ich und gab Anna einen Kuss.
»Nichts lieber als das«, erwiderte sie und klopfte sich den Sand vom Hintern.
Ich nahm Anna bei der Hand und warf einen letzten Blick zu dem Toten hinüber, dann machten wir uns auf den Rückweg. Motte trabte vor uns her, gelegentlich sah er zu den Möwen hoch, die im Wind über uns standen. Aber offenbar war sein heutiger Bedarf an Bewegung gedeckt, jedenfalls sah er nicht so aus, als würde er freiwillig einen Schritt mehr als nötig machen.
Kurz bevor wir die Flugplatzstraße erreichten, kamen uns mehrere Männer entgegen, die diverse Aluminiumkoffer und Gerätschaften mit sich trugen. Zwei der Männer kannte ich vom Sehen. Die Spurensicherung vom Festland war eingetroffen, wahrscheinlich mit dem regulären Inselflieger.
Während wir die Schlösser unserer Fahrräder öffneten, sah ich den Beamten der Spurensicherung hinterher, die gerade hinter der Anhöhe des Dünenwegs verschwanden. Sie würden jetzt rund um die Absturzstelle des Ermordeten nach Spuren suchen, die sie sichern konnten. Ich bezweifelte allerdings, dass sie etwas fanden. Milan Siebrandt war abgesprungen und mitten im Flug von einem Pfeil getötet worden. Außer dem Pfeil sollte es keinerlei Spuren geben. Mit etwas Glück jedoch würden die Spurensicherer in der und rund um die Mulde fündig werden: Haare, Kleiderfasern, irgendetwas, was Aufschluss über den Mörder geben würde. Einfach mal so in die Dünen zu pinkeln war allerdings ein Kardinalfehler – damit war seine DNA dokumentiert. Wenn der Täter irgendwann und irgendwo ermittlungstechnisch in Erscheinung getreten war, wäre er damit jetzt sofort überführt.
Also doch ein Anfänger
, dachte ich.
Ein Profi hätte eingeplant, dass er lange auf sein Opfer warten würde, und hätte eine leere Thermosflasche oder ein anderes Gefäß benutzt, um seine Notdurft nicht vor Ort zurückzulassen.
Ich wusste von Profikillern, die sich für lange Wartezeiten selber einen Katheter gelegt hatten.
Mein Blick ging noch einmal zur großen Düne hinüber, während mich ein ungutes Gefühl beschlich. Zugegeben, mich ließ der Gedanke an Traute, wie es ihr momentan ging und wie sie mit ihrem Schmerz klarkam, nicht los. Aber diese Sorge war es nicht, die das diffuse ungute Gefühl in mir hervorrief.
Mir ging der Gedanke nicht aus dem Kopf, dass uns der unbekannte Todesschütze die ganze Zeit über am Strand beobachtet haben musste. Den Bogen mit den tödlichen Pfeilen
griffbereit neben sich. Vielleicht hatte er uns aus Langeweile oder zu Übungszwecken mit seinem Bogen anvisiert und sich vorgestellt, wie sich der Karbonpfeil in unsere Körper bohren, unser Blut aufspritzen lassen würde, wenn er die Sehne seines Bogens einfach losließ.
Mich durchfuhr bei der Vorstellung ein eiskalter Schauer.
Lass jetzt gut sein
, dachte ich und schob den Gedanken an den Schützen zur Seite.
Der Typ ist längst über alle Berge. Wahrscheinlich mit einem der Inselflieger zurück ans Festland, und den Bogen hat er irgendwo im Sand vergraben, wo ihn nie jemand finden wird.
Während wir langsam zurück zum Bismarck-Blick radelten, drehte ich mich immer wieder um und warf einen Blick über die Schulter.
Mein ungutes Gefühl wollte einfach nicht verschwinden. Mehr noch, es hatte sich verstärkt.
Hinzugekommen war das beklemmende Gefühl, dass uns unsichtbare Augen beobachteten. Obwohl ich hinter uns niemanden sah und auch weit und breit kein Mensch in Sicht war, blieb dieses Gefühl, auf Schritt und Tritt beobachtet zu werden.