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Zunächst aber beschränkte sich meine Hilfe darauf, Traute aufzufangen, da sie plötzlich einknickte. Ihre Arme schlangen sich so fest um meinen Hals, dass ich kaum noch Luft bekam.
Wie aus dem Nichts heraus stand der Barkeeper neben mir und stützte Traute von der anderen Seite.
»Die Idee mit dem Kaffee war gut, aber leider etwas zu spät«, lautete sein trockener Kommentar zu meinen Bemühungen, Traute in der Senkrechten zu halten.
Mit kräftigem Griff half er, Traute halbwegs auf die Füße zu stellen, sodass ich mir ihren Arm über die Schulter legen und ihre Hüften mit meinem anderen Arm umfassen konnte.
»Hier bitte, die Schlüsselkarte der Lady.« Er reichte mir ein Klappkärtchen mit Trautes Plastikkarte fürs Zimmer, das vom Tresen gerutscht und zu Boden gefallen war. »Kommen Sie alleine klar?«
»Danke. Ja, das klappt schon«, erwiderte ich und öffnete das Klappkärtchen, um mir Trautes Zimmernummer einzuprägen, dann schob ich die Schlüsselkarte in meine Hosentasche. Denn dass sie es heute Abend nicht mehr alleine schaffen würde, ihr Bett zu finden, war unübersehbar.
»Tja«, sagte der Barkeeper und hob bedauernd die Schultern. »Die Martinis haben es in sich. Ist nicht jedermanns Sache, auch wenn man sie gern trinkt.«
»Welchen Wodka haben Sie denn genommen?«, wollte ich wissen und machte mit Traute im Arm einen ersten Schritt Richtung Rezeption.
»Stolichnaya«, antwortete er. »Eine echte russische Wodkadelikatesse, vierzig Prozent, rund, weich und läuft die Kehle runter wie Öl.«
»Und welchen Wermut?« Mich hatte schon immer wie James Bond geschüttelter und nicht gerührter Martini interessiert.
»Der einzige, der für einen Wodka-Martini akzeptabel ist!«, rief mir der Barkeeper nach. »Noilly Prat Vermouth, achtzehn Prozent Alkohol. Im Grunde also gar nicht so stark für einen Drink. Nur …«
»Nur was?«, rief ich über meine Schulter hinweg.
»Nur nicht zu viel – und sie hatte ein paar zu viel von dem guten Stoff.«
»Wohl wahr«, brummte ich, während ich Traute zum Aufzug bugsierte.
Endlich hatte ich den Fahrstuhl erreicht. Ich schob meinen Arm unter Trautes Hüfte hindurch und drückte den Knopf, der sogleich aufleuchtete. Ein Summen ertönte, der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung.
Was denken wohl die Gäste, die zufällig die Halle betreten?
, ging es mir durch den Kopf, als ich den Schatten eines Mannes durch die Glastür neben dem Eingang wahrnahm, während ich mit Traute im Klammergriff darauf wartete, dass sich die Fahrstuhltüren öffneten.
Es würde sich bestimmt für jeden Außenstehenden so darstellen, als hätte ich eine Damenbekanntschaft in der Bar abgefüllt, um sie dann aufs Zimmer zu schleppen.
Der Mann draußen presste seine Stirn gegen das Glas und schien angestrengt in die Halle zu starren. Vielleicht wartete er auf jemanden oder wollte jemanden abholen. Beides war mir völlig egal.
Ich wollte nur nicht, dass man Traute in ihrem Zustand sah. Schließlich war sie die Oberstaatsanwältin für den Landkreis, und im Zeitalter von Handykameras und Internet fand man sich schneller in den öffentlichen Medien wieder, als man Privatsphäre buchstabieren konnte.
Mit Traute im Arm drehte ich dem Mann, der mir recht jung vorkam, den Rücken zu.
In diesem Moment öffneten sich die beiden Türen des Fahrstuhls.
Überrascht, ja fast schon ertappt sah mich Leif an.
»Oh.« Der Zehnjährige machte erschrocken einen Schritt zurück in die beleuchtete Aufzugskabine.
»Moin, Leif«, begrüßte ich ihn und schickte mich an, die Kabine zu betreten. Noch in der Tür hielt ich an, da der Junge mir im Weg stand und mich noch immer mit großen Augen anschaute.
»Hallo, Jan.«
»Was machst du denn hier?« Gleichermaßen überrascht wie er, erwiderte ich den Blick des Jungen.
»Wir wohnen hier«, antwortete Leif.
»Ist deine Mutter noch im Krankenhaus?«, wollte ich wissen.
Leif nickte. »Ja, es wird noch ein paar Tage dauern.«
»Dann wohnst du hier mit deinem Vater?«
Leif schüttelte den Kopf. »Nein. Ja, nur heute. Weil meine Mum im Krankenhaus ist und mein Dad noch lange unterwegs ist, hat er mich hier einquartiert. Und Traute soll … äh …«, er verzog skeptisch das Gesicht, als er die Schlafende in meinem Arm sah, »… auf mich aufpassen.«
»Traute geht’s nicht so gut«, erklärte ich. »Was ja auch verständlich ist nach dem, was geschehen ist.«
Ein unangenehmes lautes Klingeln ertönte. Jemand, der auf den Aufzug wartete, hatte die Geduld verloren und drückte den Aufzugsknopf mit impertinenter Hartnäckigkeit.
Das Klingeln weckte Traute auf, die in meinem Arm zu zappeln begann. Sie schlug die Augen auf und orientierte sich mit für ihren Promillestatus erstaunlicher Geschwindigkeit.
Ihr Blick fiel auf Leif. »Was machst du hier?«, fragte sie und hörte sich fast nüchtern an.
»Äh. Was macht ihr hier?«, gab Leif schlagfertig zurück und hatte nicht unrecht mit seiner Frage. Verständlich, dass er wissen wollte, was ich hier mit Traute in vertrauter Umarmung tat, wo er mich doch auf unserem gemeinsamen Flug als Annas Partner kennengelernt hatte.
Doch bei allem Verständnis für den Wissensdurst eines Zehnjährigen hatte ich nicht vor, ihm irgendwelche Zusammenhänge zu erklären.
»Lenk nicht ab«, wies Traute ihn zurecht. »Wo willst du um diese Zeit hin?«
»Ähm … zur Rezeption«, antwortete Leif mit der Zaghaftigkeit eines Kindes, das sich über die Tragfähigkeit seiner Ausrede noch nicht sicher war, dem aber nichts Glaubwürdigeres einfiel.
»In Regenjacke?«, wunderte ich mich.
Erneut ertönte das penetrante Klingeln.
»Leif!« Trautes Ton wurde streng. »Du weißt, dass ich deiner Mutter versprochen habe, auf dich aufzupassen, bis sie aus dem Krankenhaus entlassen wird?«
»Ja«, kam etwas kleinlaut die Antwort des Jungen.
»Und wo ist deine Mutter?«
»Die ist noch im Krankenhaus.«
»Und dein Vater?« Trautes Stimme klang jetzt klar und streng wie im Gerichtssaal.
»Dad ist unterwegs. Er hat noch einen Termin mit einem von der Bank.«
»Somit greift das Versprechen, das ich deiner Mutter gab, mein Freund!« Traute machte dem Jungen klar, wer das Sagen hatte. »Verstehst du das?«
Ohne große Begeisterung wackelte Leif mit dem Kopf, was wohl eine Zustimmung bedeuten sollte.
Leif hatte verstanden.
»Fünf Minuten.« Traute hob ihre Hand und hielt ihm demonstrativ alle fünf Finger ihrer Rechten vors Gesicht. »Hast du verstanden? Fünf!«
Wieder wackelte Leif mit dem Kopf. Unwillig und mürrisch zwar, aber er stimmte zu.
»In fünf Minuten bist du zurück auf deinem Zimmer«, befahl Traute nochmals knapp und unmissverständlich. »Jan wird in genau fünf Minuten nach dir schauen, und gnade dir Gott, wenn du nicht auf deinem Zimmer bist.«
Leif murmelte etwas Unverständliches, als er sich an uns vorbeidrückte. Flink wie ein Fischotter verschwand er aus unserem Blickfeld.
Mittlerweile begann der ungeduldige Gast, die im Stockwerk über uns befindliche Aufzugstür mit dem Fuß zu traktieren.
Ich schob mich mit Traute ganz in die Kabine hinein und lehnte mich erschöpft gegen die Spiegelrückwand. Eigentlich hatte ich mir mit Anna einen ruhigen und romantischen Abend machen wollen. Abgesehen von diesem Plan hätte ich mich nach diesem mörderischen und nervenaufreibenden Tag am Strand am liebsten nur lang aufs Bett fallen lassen und Romantik Romantik sein lassen. Aber stattdessen turnte ich
hier im Aufzug des Atlantic herum und schleppte meine angedunte alte Liebe auf ihr Zimmer.
Bumm! Bumm!,
machte es über uns.
»Ruhe!«, donnerte ich genervt. »Habt ihr es denn so eilig, dass ihr nicht mal ’ne Minute warten könnt?«
Die Aufzugstüren schlossen sich und die Kabine setzte sich in Bewegung.
Trautes Zimmernummer lautete 333. Folglich lag ihr Zimmer in der dritten Etage. Bedauerlicherweise hielt der Aufzug bereits in der ersten Etage.
»Endlich!«, fuhr mich die weißhaarige Dame an, die in einem farbenfrohen Jogginganzug lautstark in die Kabine gepoltert kam. »Ich dachte schon, ich würde eher an Altersschwäche sterben, als dass der Aufzug kommt.«
»Und ich dachte, Sie bekämen vorher einen Herzinfarkt«, gab ich entnervt zurück. »Vor lauter Ungeduld.«
»Oh.« Unser weißhaariges Gegenüber musterte mich neugierig, der Fahrstuhl war vergessen. »Interessant. Sie haben die Dame gewechselt.«
»Wie bitte?«
»Na, die Dame, die Sie gestern im Arm hatten, war rothaarig. Diese hier ist brünett.« Die Augen der Seniorin im mintfarbenen Jogginganzug blinzelten mich neugierig an.
»Sie?« Erst jetzt erkannte ich die rüstige Achtzigjährige, die ich auf der Dachterrasse des Café Baumann’s davor bewahrt hatte, von dem heranrasenden Tiefflieger vom Dach geweht zu werden. »Sind Sie immer so ungeduldig?«
Ohne den Blick von Traute zu nehmen, drückte Freifrau zu Hermsdorf den Fahrstuhlknopf zum Erdgeschoss. Zumindest versuchte sie es. Da sie ihren Blick nicht von Traute lösen konnte, deren linken Arm ich, über meinen Nacken gelegt, am Handgelenk festhielt, während mein anderer Arm ihre Taille umfasste, drückte sie wahllos alle Knöpfe. Trautes Kopf lag mir
quer über Brust und Schulter. Wir gaben wahrhaft ein sehr vertrautes Bild ab.
Das fand auch Freifrau zu Hermsdorf.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen die hübsche Rothaarige heiraten.« Energisch baute sich die Seniorin vor mir auf und stemmte ihre Arme in die Hüften. »Die passt doch viel besser zu Ihnen.«
»Das mach ich doch auch!«, rutschte mir heraus, bevor ich wusste, was ich da gerade sagte.
Der Aufzug stoppte in der nächsten Etage und die Türen öffneten sich. Es stieg aber niemand ein. Die Türen schlossen sich langsam wieder und der Fahrstuhl setzte sich erneut in Bewegung.
»Ach«, prustete die alte Dame los. »Und deshalb schleppen Sie auch gerade diese Dame hier ab, die noch dazu voll wie eine Haubitze ist?«
»Die Dame ist eine alte Freundin«, erklärte ich, obwohl es mir eigentlich egal sein konnte, was mein Gegenüber dachte.
»Na, so alt sieht sie aber gar nicht aus«, kicherte die rüstige Freifrau und beugte sich vor, um die in meinem Arm schlummernde Traute zu beäugen. »Also, Geschmack haben Sie!«
»Danke«, erwiderte ich spöttisch. »Ihre Absolution fehlte mir heute Abend noch.«
»Wann heiraten Sie die Rothaarige?«, wechselte Freifrau zu Hermsdorf das Thema und stellte sich in die Fahrstuhltür, die sich in der dritten Etage geöffnet hatte, sodass ich mit Traute im Arm nicht an ihr vorbeikam.
»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht«, erwiderte ich ungehalten.
Ich fand es immer sehr erfrischend, Menschen zu begegnen, die kein Blatt vor den Mund nahmen und burschikos und frei heraus ihre Meinung sagten. Heute allerdings ging mir die direkte Art der achtzigjährigen Freifrau ziemlich auf die Nerven.
Es war ein anstrengender Tag gewesen, ich hätte mir am liebsten die Bettdecke über die Ohren gezogen. Anna war eifersüchtig, dass ich mich zu Traute aufgemacht hatte, Traute hing volltrunken in meinem Arm, und Freifrau zu Hermsdorf wollte von mir wissen, wann ich Anna zu heiraten gedachte.
Geht’s noch?
, dachte ich genervt, quetschte aber stattdessen mit gequälter Höflichkeit zwischen den Zähnen hervor: »Darf ich einmal durch? Ich würde ganz gern hier mit der Dame aussteigen!«
»Hm«, machte die resolute Achtzigjährige und schoss einen abschätzenden Blick auf mich ab. »Dann wünsche ich Ihnen heute Abend noch … viel Spaß.«
Da ich überhaupt keinen Grund sah, mich vor einer Zufallsbekanntschaft zu rechtfertigen, mochte sie auch noch so neugierig und moralisch entrüstet sein, beschränkte ich mich auf ein säuerliches »Moin« und schob mich mit Traute im Arm an Freifrau zu Hermsdorf vorbei.
Die Türen des Aufzugs schlossen sich hinter uns. Im Halbdunkel des Hotelflurs versuchte ich, mich zu orientieren, und entdeckte auch sogleich das Hinweisschild mit den Zimmernummern links und rechts des Gangs, mit dessen Hilfe ich kurz darauf vor Trautes Tür stand.
Ich fingerte mit einer Hand die Plastikkarte aus meiner Tasche und zog sie durchs Schloss, dann drückte ich die Tür mit dem Knie auf und schaltete mithilfe der Plastikkarte die Beleuchtung ein. Sofort flammten die Nachttischlampen sowie eine gemütliche Stehlampe auf und tauchten das geräumige Zimmer, das eher einer Suite ähnelte, in stimmungsvolles Licht. Der Raum war großzügig geschnitten und mit viel Holz in warmen Tönen eingerichtet, der Boden war mit einem Belag in Dielenoptik ausgelegt. Ich bugsierte Traute Richtung Doppelbett und ließ sie behutsam darauf sinken.
Sie gab einen zufriedenen Laut von sich und schlang beide Arme noch enger um meinen Hals.
»Komm zu mir«, murmelte sie mir schlaftrunken ins Ohr. »Leg dich zu mir und nimm mich in den Arm.«
Ich wusste, wo meine Grenze der Hilfsbereitschaft und Empathie lag, auch bei einer alten Liebe, wie es Traute war.
Behutsam, aber bestimmt löste ich ihre Arme von meinem Hals und schob ihr das Kopfkissen unter den Kopf. Mit einer unwilligen Drehung warf sich Traute im Bett herum und umschlang das Kopfkissen. Der Saum ihres dünnen Sommerkleids war bis zum Oberschenkel hochgerutscht und gab den Blick auf ihre braun gebrannten Beine frei. Behutsam zupfte ich den hochgerutschten Saum wieder in die richtige Lage und zog ihr die Schuhe aus, die ich sorgsam nebeneinander vors Bett stellte.
Dann angelte ich nach der zweiten Bettdecke, die ich über Traute ausbreitete.
Sie murmelte etwas Unverständliches.
»Schlaf gut«, verabschiedete ich mich im Flüsterton und schob ihr noch ein kleines Kissen unter den Kopf, sodass sie bequem lag. »Wir sehen uns morgen.«
»Passt du auf?«, nuschelte Traute kaum verständlich aus ihren Kissen hervor.
»Klar pass ich auf.«
»Auf Leif aufpassen …« Mühsam öffnete sie die Augen einen Spalt und versuchte mich anzusehen, was ihr aber nicht gelang, da ihre Lider zu schwer waren und gleich wieder zufielen. »Auf ihn … aufpassen. Zi… Zimmer 3…32.«
Mir fiel ein, dass Traute vorher im Aufzug Leif angekündigt hatte, dass ich in fünf Minuten nach ihm schauen würde, ob er sich wirklich an ihre Anweisung gehalten hatte.
»Mach ich«, versprach ich und stellte ihr zum Abschied noch eine Flasche Wasser in Griffweite auf den Nachttisch. Wenn sie aufwachte, würde sie Nachdurst haben.
Leise begab ich mich zur Tür, und noch während ich die Lichter löschte, hörte ich an Trautes gleichmäßigen Atemzügen, dass sie eingeschlafen war.
Geräuschlos zog ich die Zimmertür hinter mir zu.
Als ich mich umdrehte und an die Tür des Nachbarzimmers klopfen wollte, um nach Leif zu schauen, fuhr ich erschrocken zusammen.
Vor mir stand Freifrau zu Hermsdorf.
Vollkommen geräuschlos war die ältere Dame mit dem klangvollen Namen hinter mir aufgetaucht. Im Halbdunkel der Nachtbeleuchtung sah sie mich mit dem strengen Blick einer Oberlehrerin an, die ihren Schüler bei einer verbotenen Exkursion erwischt hat. Ihre Brillengläser funkelten im Halbdunkel, sodass ihre Augen wie von innen heraus zu leuchten schienen.
»Herrgott!«, fuhr ich sie erschrocken an. »Haben Sie mich erschreckt!«
»Sie scheinen ja doch ein Netter zu sein.« Wohlwollend lächelnd ignorierte sie meinen verärgerten Ausruf.
»Wie kommen Sie denn auf so was?«, erwiderte ich.
»Sie haben doch gerade Ihre …«, Frau zu Hermsdorf machte genau an dieser Stelle eine kleine Pause, um den Begriff
alte Freundin
zu betonen, bevor sie fortfuhr, »… alte Freundin zu Bett gebracht und stehen hier auf dem Gang und …«
»Frau von Hermsdorf!«, unterbrach ich sie kühl, wurde aber im selben Atemzug von ihr korrigiert: »Zu! Es heißt zu Hermsdorf.«
Ich schloss kurz die Augen, um tief Luft zu holen und nicht aus der Haut zu fahren.
Langsam atmete ich aus, um mit ruhiger, aber noch eine Nuance kühleren Stimme fortzufahren: »Wie auch immer. Ja, ich kann durchaus nett sein. Und ja, die Dame ist in der Tat eine sehr gute Freundin und schläft jetzt.«
»Ich habe nichts anderes gesagt«, flötete die alte Dame. »Sie hatten mir ja auch so nett geholfen. Gestern. Da oben auf dem Dach von dem Café.«
»Fein«, erwiderte ich und trat einen Schritt zur Seite, um mich der gegenüberliegenden Tür zuzuwenden. »Einen schönen Abend noch.«
Ich drehte ihr den Rücken zu und klopfte kurz gegen das Holz der Tür.
»Also, wenn Sie mich fragen …«, flötete sie mit zuckersüßer Stimme hinter mir.
Ich frag Sie aber nicht
!, dachte ich ungehalten, denn so langsam hatte ich von ihr genug.
Ohne zu antworten, klopfte ich erneut gegen das Holz. Diesmal etwas lauter.
»Falls es Sie interessiert …«, fuhr die alte Dame unbekümmert fort, an meinen Nerven zu sägen. »Aber es scheint Sie ja nicht zu interessieren, was ich Ihnen sagen könnte.«
»Leif!«, sagte ich laut und klopfte zum dritten Mal mit meinen Knöcheln gegen das Türblatt, diesmal laut und energisch.
»Der Junge ist nicht da.«
Ich fuhr herum und sah die alte Dame gereizt an.
»Woher wissen das?«
»Na hören Sie mal«, erwiderte sie mit gespielter Empörung. »Ich bin zwar alt, aber nicht senil.«
»Das habe ich auch nicht angenommen.« Ich schüttelte den Kopf und unterdrückte meine Ungeduld. »Wissen Sie etwa, wo der Junge ist?«
»Ja.«
»Und, verraten Sie es mir auch?« Ich merkte, dass mein Geduldsfaden immer dünner wurde, bemühte mich aber um Gelassenheit, denn ich hatte das Gefühl, dass die alte Dame es genoss, ihr Gegenüber einer Geduldsprobe zu unterziehen.
»Er müsste noch draußen sein«, sagte sie dann aber ohne Umschweife. »Zumindest habe ich ihn vor ein paar Minuten noch vor der Eingangstür gesehen.«
»War er alleine?«, fragte ich nach, weil mir gerade der junge Mann einfiel, der durch die Scheibe gestarrt hatte, als ich mit Traute am Fahrstuhl stand, und der auf mich den Eindruck gemacht hatte, als ob er auf jemanden wartete.
Vielleicht auf Leif? Aber wieso?
»Nein«, bestätigte Frau zu Hermsdorf meinen vagen Gedanken. »Er hat sich mit einem jungen Mann unterhalten.«
»Hm«, machte ich nachdenklich, war aber nicht beunruhigt, denn Leif war ein aufgeweckter Bursche, der nicht auf den Mund gefallen war und mit jedem gleich ins Gespräch kam.
»Wie sah der Mann denn aus?«, wollte ich aber trotzdem wissen.
»Ein hübscher junger Mann.« Die alte Dame legte den Kopf etwas auf die Seite, als müsse sie nachdenken, fuhr dann aber gleich in ihrer Beschreibung fort. »Kurze Haare und ein bisschen unrasiert. Obwohl …«, sie schmunzelte, »… eigentlich sah er so aus, als würde er sich noch gar nicht so lange rasieren.«
»Wie alt war er denn, dieser junge Mann?«
»Ach, wissen Sie«, wieder schmunzelte sie. »Für mich sind alle Menschen, die nicht schon seit zwanzig Jahren Rentner sind, jung. Sie sind doch auch noch ein junger Spund.«
»Dieser Sichtweise nach wäre also jeder unter achtzig jung für Sie?« Selbst ich musste jetzt über ihre großzügige Auslegung von jung und alt lachen.
»Also, so alt wie Sie war der junge Mann dann doch nicht«, stimmte sie in mein Lachen ein, da ihr offenbar selber
aufgefallen war, dass ihre Einschätzung wenig hilfreich war. »Er war so … na, ich schätze Anfang, Mitte zwanzig, so in etwa«, kreiste sie ihren Begriff von jung nun doch deutlicher ein.
»Na, am besten schau ich gleich mal selber«, sagte ich und wandte mich zum Gehen. »Erst einmal vielen Dank.«
»Na, wenn Sie da mal Glück haben.«
»Wieso denn das?«
»Na, weil die beiden zusammen weggegangen sind.«
Ich stöhnte kurz auf und unterdrückte einen Fluch, zumindest einen vernehmbaren.
Sapperlot!,
dachte ich verärgert.
Warum sagt sie das denn nicht gleich?
Weil du sie nicht gefragt hast,
erwiderte eine Stimme in mir.
Selber schuld.
Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und ging mit schnellen Schritten den Gang entlang. Ich hörte noch einen empörten Ruf hinter mir, den ich aber ignorierte. Ich hatte schon viel zu viel Zeit vergeudet, schließlich hatte ich Traute versprochen, sofort nach Leif zu sehen.
Mit Schwung drückte ich die Tür zum Treppenhaus auf und hastete die Stufen hinunter. Um auf den Fahrstuhl zu warten, fehlte mir gerade die Geduld.
Bis auf eine junge Frau, die mir freundlich hinter dem Empfangstresen hervor zulächelte, war die Eingangshalle leer.
Ich lächelte im Vorbeigehen zurück und drückte die Glastür auf. Schnell lief ich die Steinstufen am Eingang hinunter und hielt Ausschau nach Leif. Durch die Fenster des Restaurants fiel heller Lichtschein auf den Bürgersteig, und auch die Straßenlaternen und der beleuchtete Schiffchenteich spendeten ausreichend Licht, dass ich einen guten Rundumblick hatte, der mir aber nicht weiterhalf, da von Leif keine Spur zu sehen war.
»Mist!«, fluchte ich halblaut. »Dieser kleine Klugscheißer ist abgehauen!«
Aber warum sollte Leif verschwinden?
Mir ging natürlich Leifs Verhalten im Fahrstuhl durch den Kopf, wo er behauptete, zur Rezeption unterwegs zu sein – in Regenjacke. Er hatte geschwindelt. Ich gelangte immer mehr zu der Überzeugung, dass er verabredet gewesen und mit dem jungen Mann verschwunden war, den die rege Freifrau zu Hermsdorf beschrieben hatte.
Wer mochte der junge Mann sein?
Erneut fluchte ich und warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Ich war todmüde und Anna wartete bestimmt schon auf mich. Ich hatte weiß Gott Besseres zu tun, als um diese Zeit die Insel nach dem Jungen abzusuchen. Aber ich hatte es Traute versprochen, und natürlich war mir auch nicht wohl bei dem Gedanken, dass der Zehnjährige sich um diese Zeit hier irgendwo auf der Insel herumtrieb.
Juist war nicht Frankfurt oder Berlin. Dennoch war ich in Sorge, dass dem Jungen etwas zustoßen könnte. Also machte ich mich auf die Suche.
Langsam ging ich ein paar Meter die Wilhelmstraße entlang.
Auf Höhe des Schiffchenteichs, der hell erleuchtet war, überquerte ich die Fahrbahn. Auf einer Bank am Beckenrand saß nur ein knutschendes Pärchen. Die beiden waren so sehr mit sich beschäftigt, dass sie mich nicht bemerkten, als ich an ihnen vorbeiging, um einen Blick in den kleinen Park seitlich des Kurplatzes zu werfen. Ich verzichtete darauf, ihre Zweisamkeit zu stören und zu fragen, ob sie einen zehnjährigen Jungen gesehen hätten. Sie hatten ohnehin nur Augen füreinander.
Ein paar späte Spaziergänger schlenderten durch den Park. Die Bänke waren verwaist.
Schräg gegenüber vom Café Baumann’s verließ ich die kleine Anlage und ließ meinen Blick über die dunkle Fassade des Cafés schweifen, als zwei Radfahrer in die Kreuzung Wilhelmstraße einbogen.
Obwohl die beiden flott mit ihren Fahrrädern unterwegs waren und dabei angeregt miteinander sprachen, hielten sie in der jeweils freien Hand, die sie nicht zum Lenken benutzten, etwas Essbares.
Ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen, als ich Leif erkannte. Neben ihm fuhr eine schlanke Gestalt, in Jeans und Jacke, deren Kapuze dem Radfahrer ins Gesicht hing, sodass ich nicht erkennen konnte, ob es der beschriebene junge Mann war, von der Freifrau zu Hermsdorf gesprochen hatte.
»Leif!«, rief ich quer über die Straße, und bevor ich erkennen konnte, ob der Junge auf mein Rufen reagierte, waren die beiden bereits in Richtung Sparkasse verschwunden.
»Verdammt noch mal!«, fluchte ich. »Das darf doch wohl nicht wahr sein!«
Langsam wurde ich richtig sauer.
Anstatt das zu tun, was Traute ihm deutlich zu verstehen gegeben hatte, radelte der Bengel munter mitten in der Nacht durch die Gegend und kümmerte sich keinen Deut darum, was ihm angesagt worden war.
»So nicht, mein Freund!«, knurrte ich wütend. »Ich werde dich höchstpersönlich am Schlafittchen packen und zurück ins Hotel verfrachten.«