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Wütend machte ich auf dem Absatz kehrt und eilte zurück zum Hotel Atlantic, wo ich mein Fahrrad abgestellt hatte.
Wild entschlossen, mein Versprechen Traute gegenüber einzuhalten, schwang ich mich auf den Sattel und trat kräftig in die Pedale. Während ich an der Sparkasse und ein paar Geschäften entlangradelte, überlegte ich angestrengt. Wo wollte Leif hin? Da ich überhaupt keine Anhaltspunkte hatte, konnte er mitsamt seinem Begleiter in jede Seiten- oder Parallelstraße verschwunden sein. Auch wenn Juist überschaubar war, hatte ich kaum eine Chance, ihn hier zu finden, weil ich keine Ahnung hatte, was und wohin er wollte.
Da ich beim Passieren der Seitenstraßen nicht das Geringste von Leif erspähen konnte, radelte ich weiter geradeaus. Wäre ich einfach weitergefahren, so wäre ich direkt zur Pension Bismarck-Blick gekommen.
Was sollte ich nur tun?
Ich konnte unmöglich die gesamte Insel absuchen.
Als ich leicht außer Atem auf die Dünenstraße einbog, fuhr ich rechts ran. Ich stützte mich mit einem Bein auf dem Podest eines Gartenzauns ab und blieb auf dem Sattel meines Fahrrads sitzen.
Ich zog mein Handy aus der Tasche und wählte Annas Nummer.
Nach dem vierten Freiton meldete sich Annas Stimme, die mir erzählte, dass ich Pech habe, da sie nicht erreichbar sei. Ich solle eine Nachricht auf ihrer Mailbox hinterlassen und sie werde dann so schnell wie möglich zurückrufen.
Auch wenn ich mich nicht als ein großer Frauenversteher verstand, hatte sogar ich eine gewisse Eifersucht bei Anna verspürt, als sie mir riet, zu tun, was ich meinte tun zu müssen. Allein die Wortwahl hatte ein inneres Alarmglöckchen in mir bimmeln lassen. Trotzdem war ich zu Traute gefahren, da ich keinerlei Ambitionen verspürte, mich Traute mehr zu nähern, als es einem Freundschaftsdienst entsprach. Dennoch war klar, dass Anna, auch wenn ich keinen Anlass zur Eifersucht sah, dies möglicherweise anders empfinden konnte.
Aus diesem Grund wollte ich Annas Gutmütigkeit, mir meine Freiheit ohne Rücksicht auf ihre eigenen Befindlichkeiten zu lassen, nicht mehr als nötig strapazieren. Das wäre unfair ihrem Vertrauen gegenüber gewesen, welches sie mir uneingeschränkt entgegenbrachte.
Die Mailbox signalisierte mir mit einem Piepton, dass ich jetzt meine Nachricht aufsprechen konnte.
»Ja, ich bin’s …«, begann ich, wusste aber nicht weiter, denn wie sollte ich Annas Mailbox erklären, welches Versprechen ich Traute gegeben hatte, als diese volltrunken an meinem Hals hing.
Wie sollte ich überhaupt erklären, dass Traute volltrunken in ihrem Bett an meinem Hals gehangen hatte?
Es gibt Situationen im Leben, über die sollte man einfach schweigen. Zumindest einer Mailbox gegenüber, wenn man nicht genau wusste, wie man eine solch spezielle Situation erklären sollte. Am besten hätte ich die Klappe halten und Anna später alles in Ruhe erklären sollen, aber in diesem Moment war ich ungeduldig, wollte mit Anna sprechen, wollte von ihr hören, dass alles zwischen uns in Ordnung sei, und ihr erklären, dass sie keine Sekunde Grund zur Eifersucht haben musste. Ich wollte ihre Stimme hören, und ich wollte ihr sagen, dass ich sie liebte.
Stattdessen schwurbelte ich an meiner Erklärung herum:
»Ich war vorhin bei Traute im Hotel, sie hatte etwas viel getrunken …« Im selben Moment war mir klar, wie blöd sich das für Anna anhören musste, und ich versuchte, einen falschen Eindruck zu vermeiden, und fuhr betont unbefangen fort: »… ich aber nicht. Ich meine, ich habe nichts getrunken und habe sie dann ins Bett gebracht …« Ich hätte mir auf die Zunge beißen können und beeilte mich zu versichern, dass kein Grund zur Besorgnis bestand. »Ich habe sie nur aufs Zimmer gebracht und bin dann los.«
In mehr oder weniger sich logisch anhörenden Sätzen erklärte ich ihr, weshalb ich gerade hier an der Dünenstraße stand und auf der Suche nach dem zehnjährigen Leif war.
»Ich werde jetzt noch mal im Hotel anrufen, ob er dort aufgetaucht ist und, falls nicht, weiter nach ihm suchen. Ich kann den Jungen ja nicht einfach nachts durch die Gegend fahren lassen.«
Ich beendete mein Gespräch mit der Mailbox, indem ich einen Kuss auf das Mikrofon platzierte und hoffte, Anna werde das schmatzende Geräusch auch als solchen erkennen. Gleich darauf kündigte ein Piepton das Ende des Aufnahmevolumens an; was für ein Glück, dass ich nicht auch noch dadurch in meiner Stammelei unterbrochen worden war.
Nachdem ich das einseitige Gespräch beendet hatte, suchte ich die Nummer des Atlantic im Internet und rief die Rezeption an. Bereits nach dem zweiten Freiton meldete sich eine freundliche Frauenstimme und fragte nach meinen Wünschen. Die verriet ich ihr allerdings nicht, sondern erklärte ihr, weshalb ich wissen musste, ob Leif Albrecht mittlerweile im Hotel eingetroffen war.
Zunächst belehrte mich die Rezeptionistin über die Gründe des unseligen neuen Datenschutzgesetzes, dessentwegen sie mir keinerlei Auskünfte geben könne. Erst nachdem ich all meinen Charme hatte spielen lassen und ihr deutlich gemacht hatte, dass mein sich anbahnender Herzinfarkt alleine auf ihre Weigerung zurückzuführen sei und sie mich durch ihre Nichtauskunft dazu zwinge, quer über die Insel zu radeln, um persönlich nachzuschauen, ob der Junge wohlbehalten in seinem Zimmer war, gab sie mir die gewünschte Auskunft.
»Sie sind beide noch nicht im Hotel«, raunte sie ins Telefon.
»Beide?«, erwiderte ich. Wen meinte die Rezeptionistin mit »beide«?
»Herr Albrecht ist noch unterwegs«, klärte sie mich auf. »Und sein Sohn ist ebenfalls nicht auf seinem Zimmer.«
»Ja, klar«, sagte ich, denn ich hatte Leifs Vater völlig vergessen.
Ein Grund mehr, den Jungen zu suchen und zu finden. Wenn Albrecht ins Hotel zurückkehren würde und Leif wäre verschwunden, würde er sich zuerst an Traute halten, die sich bereit erklärt hatte, auf den Jungen aufzupassen. Da ich wusste, wie unangenehm Philipp Albrecht werden konnte, würde es für Traute auch unangenehm werden, was ich ihr ersparen wollte.
»Also bist du nicht im Hotel«, murmelte ich, nachdem ich der Rezeptionistin hoch und heilig versprochen hatte, keinerlei Informationen von ihr erhalten zu haben.
»Ich kann mich noch nicht einmal daran erinnern, Sie angerufen zu haben«, erklärte ich, was die Rezeptionistin zum Kichern brachte.
»Eigentlich müsste ich sauer sein, dass Sie sich nicht mehr an mich erinnern«, gluckste sie leise, bevor ich mich von ihr verabschiedete.
»Wo bist du?« Ungeduldig trommelte ich mit den Fingerspitzen auf dem Handy herum.
Mich überkam das dringende Bedürfnis, Leif am Schlafittchen zu packen und ihm ein paar Takte zu seinem Versprechen zu erzählen, das er Traute gegeben und nicht gehalten hatte.
Nachdenklich trat ich in die Pedale und radelte die leichte Anhöhe hinauf, um links in die Flughafenstraße abzubiegen. Um mich herum wurde es immer dunkler. Dieser Teil der Insel lag in völliger Finsternis. Die einzigen Lichtquellen waren die Lampe an meinem Fahrrad, die mit einem schmalen Strahl den gepflasterten Weg vor mir erhellte, und der Sternenhimmel über mir. Der Mond verbarg sich momentan wohl hinter einer Herde Schäfchenwolken, hätte aber auch nicht viel ausgeleuchtet, da er in dieser Nacht nur als fahle Sichel am Himmel stand.
Ich hielt an und lauschte.
Es ging nur ein leichter Wind, sodass ich Geräusche über eine weitere Entfernung hätte hören können, wenn denn welche zu hören gewesen wären. Lediglich das diffuse Rauschen der Brandung konnte ich erahnen, wenn ich an einer flachen Stelle zwischen den mit Strandhafer bewachsenen Dünen vorbeifuhr.
Angestrengt sah ich nach vorn und versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen. Vergebens. Der Weg vor mir verlor sich in Schwärze, ich konnte nur ein paar Meter weit sehen. Ich drehte mich um und sah zur Inselmitte hinüber, nur vereinzelte Lichter konnte ich von hier aus erkennen.
Während ich in die Dunkelheit starrte, überlegte ich, welche Ziele für Leif in Betracht kamen. In der Richtung, die Leif und sein unbekannter Begleiter eingeschlagen hatten, gab es nichts, von dem anzunehmen war, dass es für Leif von Interesse sein konnte: jede Menge Ferienapartments, noch mehr Ferienunterkünfte, eine mit dem Namen Villa Kunterbunt, sowie Neubauten mit jeder Menge Ferienwohnungen.
Nichts von Interesse für einen Zehnjährigen. Außer dem Flugplatz, zu dem die gleichnamige Straße führte, auf der ich mich gerade befand.
Der Flugplatz!, schoss es mir durch den Kopf.
Ich stieß einen zustimmenden Pfiff aus.
»Na klar. Das muss es sein!«, sagte ich zufrieden und klopfte unternehmungslustig mit dem Handy gegen meinen Oberschenkel. »Der Flugplatz also. Na, dann wollen wir mal sehen, ob ich dich dort irgendwo erwische!«
Ich schwang mich auf den Sattel und trat kräftig in die Pedale.
Es dauerte nicht lange und der Bismarck-Blick tauchte links von mir auf. Ein langer Weg schlängelte sich die Anhöhe hinauf, auf der Tamara ihre Pension betrieb. Als ich näher kam, sah ich, dass die Pension beleuchtet war und eine Menge Fahrräder auf dem Fahrradparkplatz abgestellt waren, der sich neben der Einfahrt zum Grundstück befand.
Ich hielt an und schaute zu dem mit Reet gedeckten Gebäude hoch, das sich malerisch und sehr gemütlich in die Dünen einzukuscheln schien.
Als ich die Lichter sah, fiel mir wieder ein, dass Tamara heute einen runden Geburtstag feierte. Anna und ich hatten ihr heute Morgen schon gratuliert, und sie hatte uns für heute Abend zu einer kleinen Feier eingeladen, zu der ein paar alte und neue Freunde kämen.
»Nur ein bisschen essen, viel trinken, ein paar Joints und Sex and Drugs«, hatte Tamara heute Morgen lachend angekündigt, wobei ich mir bei ihr nicht sicher war, ob nicht genau das ihr tatsächliches Partykonzept war.
Unschlüssig stützte ich mich auf dem Boden ab und sah zum Haus hoch.
Ob Anna dort oben mit Tamara feierte und sich gelegentlich fragte, wo ich gerade war und ob ich nicht bald zu ihr käme?
Mich überkam eine große Versuchung, das Fahrrad einfach abzustellen und hoch zu Tamaras Geburtstagsfeier zu gehen, Anna in den Arm zu nehmen, ein kaltes Bier zu trinken und dann mit ihr eng umschlungen aufs Bett zu fallen.
Ein Blick auf meine Uhr sagte mir allerdings, dass dies für den Moment ein Wunschtraum bleiben musste. Ich konnte es einfach nicht zulassen, dass Leif hier – mit wem auch immer – mitten in der Nacht durch die Gegend radelte, anstatt in seinem Bett zu liegen. Ich hatte Traute versprochen, auf den Jungen aufzupassen.
Und genau das würde ich auch tun!
Wenn auch schweren Herzens , dachte ich und drückte mich mit dem Fuß ab, weil ich losfahren wollte.
In diesem Moment schossen zwei Fahrradfahrer an mir vorbei.
Erschrocken zuckte ich zusammen.
Ich hatte die beiden dunklen Gestalten nicht kommen sehen. Sie hatten offenbar aber auch nicht mit mir als Hindernis gerechnet und kamen deshalb ins Schlingern, als sie sich teilten und der eine links, der andere rechts an mir mit hoher Geschwindigkeit vorbeizischte.
Alles ging so schnell – zu schnell, um reagieren zu können.
Ich verlor das Gleichgewicht und kippte mit dem Rad um. Mit metallischem Scheppern stürzte ich und schlug auf dem gepflasterten Weg auf. Ein jäher Schmerz durchfuhr mich im Rippenbereich und in der Schulter, auf der ich landete.
»Ihr verdammten Idioten!«, fluchte ich mit schmerzverzerrtem Gesicht und rappelte mich mühsam hoch.
Ich konnte nicht beschwören, dass es sich um Leif und seinen Begleiter handelte, die gerade wie zwei Tiefflieger an mir vorbeigerauscht waren.
Klar waren das die beiden! , sagte mir mein Bauch, der sich in aller Regel nicht täuschte.
»Das denke ich auch«, erwiderte ich laut und sog die Luft scharf zwischen den Zähnen ein, da der Schmerz wie ein Stilett in meinen Brustkorb stach.
Während ich ein paar vorsichtige Atemzüge machte, die glücklicherweise erträglich ausfielen, blickte ich in die Richtung, in der die beiden Kamikazeradler verschwunden waren – Richtung Flugplatz!
»Sag ich doch!«, knurrte ich grimmig und zweifelte nicht ein bisschen daran, dass Leif einer der beiden gewesen war.
Den nun etwas dumpferen Schmerz in meinem Rippenbogen ignorierend, schwang ich mich entschlossen auf das Fahrrad und folgte den beiden Rowdys in die tintenschwarze Dunkelheit Richtung Flugplatz.
Schon nach wenigen Minuten brach mir der Schweiß aus, und ich musste mein Tempo verringern, weil ich zu schnaufen begann. Mit quietschenden Bremsen hielt ich auf der finsteren Flugplatzstraße an und horchte in die Dunkelheit.
Ich meinte, ein paar Stimmen vor mir zu hören, und fuhr sofort weiter.
Mir lief der Schweiß in die Augen und jede Bewegung schien meine Rippen zu durchbohren. Dennoch behielt ich mein rasantes Tempo bei und keuchte erleichtert auf, als ich das Schullandheim der Stadt Altena passierte, denn jetzt war es nur noch ein Katzensprung bis zum Flugplatz.
Das Fahrrad ruckelte über die Bodenwelle, und ich ließ es erleichtert rollen, denn von hier bis zum Kutschenwarteplatz ging es bergab.
Der Parkplatz für die Inseltaxis lag verlassen im Dunkeln vor mir.
Langsam rollte ich den Weg entlang, auf dem tagsüber Fluggäste und Touristen unterwegs waren. Aufmerksam hielt ich Ausschau und spitzte die Ohren, ob ich etwas hören konnte. Bedauerlicherweise war dies nicht der Fall.
Das Flughafenrestaurant lag ebenfalls im Dunkeln, die Notbeleuchtung im Innern spendete einen diffusen Lichtschein, der durch die Fenster auf die Terrasse fiel. Die große Eistheke leuchtete in einem kalten bläulichen Neonlicht wie ein Raumschiff im schwarzen All.
Weit und breit war alles still und verlassen.
Keine Spur von Leif oder seinem Begleiter.
Ich bremste und stieg vom Rad. Mit einer Hand am Lenker schob ich den Drahtesel an den Fahrradständern vorbei und stellte ihn an der Betonwand ab, die bedeckt war von bunten Wandgraffiti aus kreischenden Möwen und diversen Meeresbewohnern, die sich aus einer Art Eiswürfeln zu befreien versuchten.
Rechts schimmerte die Silhouette des gelben VW-Busses der Flugsicherheit durch die Dunkelheit, an den ich mich noch vom gemeinsamen Flugplatzbesuch mit Manfred erinnern konnte.
Links befand sich der Tower, der ebenfalls Feierabend hatte und im Dunkeln lag. Daneben die Flugzeughalle, in der ich die beiden Kontrahenten Bendix und seinen Geschäftspartner Albrecht in diesem Büroverschlag voneinander getrennt hatte.
Schmerzhaft zwar, aber effektiv , dachte ich und musste mir ein schadenfrohes Grinsen verkneifen, das sich wie von alleine auf meinem Gesicht ausbreitete.
Plötzlich hörte ich ein paar Meter seitlich von mir ein Geräusch. Wie angewurzelt blieb ich stehen und versuchte, es zu lokalisieren.
Ich überließ mein Rad sich selber und schlich lautlos zu dem Durchgang, der zum Flugplatz führte und in dem sich eine kleine Bodensenke befand. Zwar wunderte ich mich, dass der Durchgang unverschlossen war, machte mir aber keine weiteren Gedanken über diesen Umstand, da es sich bei dem Flugplatz nicht um einen reinen Flugbetrieb handelte, sondern sich auch die Gebäude der Jugendbildungsstätte auf dem Gelände befanden. Somit herrschte durchgängiger Betrieb, und ich vermutete, dass nach Feierabend die relevanten Gebäude ohnehin abgeschlossen waren. Meine Vermutung bestätigte sich, als ich die Abfertigungsbauten passierte, die düster und verlassen hinter einem Zaun lagen, dessen Eingangstor mit einer dicken Metallkette verschlossen war.
Kein Laut war zu hören.
Wo steckte Leif nur?
Er konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!
Oder war ich meiner eigenen Logik aufgesessen, dass der Flugplatz das einzig interessante Ziel für den Jungen war? Vielleicht war er ja, warum auch immer, von der Flugplatzstraße abgebogen und genehmigte sich mit einem Kumpel heimlich ein paar Drinks oder rauchte seine erste Zigarette.
Ich schüttelte den Kopf.
Nein! Leif war hier.
Mein Bauch gab mir recht und grummelte einmal geräuschvoll zur Bestätigung.
Überzeugt, den Jungen hier irgendwo aufzuspüren, setzte ich meine Suche fort.
Einige wenige Lampen entlang der Gebäude spendeten Licht. Die fahle Mondsichel meldete sich zurück und überzog das Gelände mit einem silbrigen Zwielicht, in dem die hinter dem Maschendrahtzaun abgestellten Sportflugzeuge matt glänzten.
Einem spontanen Impuls folgend griff ich erneut in die Hosentasche und tastete nach meinem Handy. Ich wollte unbedingt Annas Stimme hören, sicher war sie noch wach, denn Tamaras Geburtstagsfeier verlief bestimmt nicht ohne Lärm, sodass währenddessen an Schlaf nicht zu denken war. Vielleicht feierte sie auch noch immer mit.
»Na super«, brummte ich mürrisch. »Kein Empfang.«
Ich streckte das Gerät versuchsweise hoch in den Nachthimmel und drehte mich einmal um die eigene Achse, was den Balken im Display egal war, sie zeigten sich nicht. Ich verstaute das Handy wieder in der Tasche und setzte meine Suche fort.
Obwohl ich viel lieber mit Anna im Bett gelegen hätte, als durch die dunkle Nacht zu radeln, hatte meine Exkursion ihren eigenen Reiz. Die Nacht war lau, der typische Geruch nach Salz und Meer lag in der Luft und war bei jedem Atemzug zu riechen und zu schmecken, und das fahle Mondlicht schuf zusätzlich eine ganz besondere Atmosphäre. Viel lieber aber hätte ich diesen nächtlichen Spaziergang mit Anna und einer Flasche Rotwein Richtung Strand fortgesetzt, statt einem zehnjährigen Bengel hinterherzujagen, dessen Hochbegabung ihn offenbar nicht daran hinderte, sein Versprechen Traute gegenüber zu brechen.
Links der Flugplatzstraße lag der verlassene Basketballplatz der Jugendeinrichtung, dem sich etwa fünfzig Meter weiter die Wohnhäuser der Projektteilnehmer anschlossen. Einige der Fenster waren noch erleuchtet. Es konnte durchaus sein, dass Leif mit seinem Begleiter in einer der Unterkünfte verschwunden war.
Hm , dachte ich. Und jetzt?
Ich konnte ja schlecht an den Unterkünften anklopfen und nach Leif suchen.
Noch während ich überlegte, wie ich am besten vorgehen sollte, sah ich aus den Augenwinkeln am Ende des Flugplatzes ein helles Licht aufblitzen.
»Das sieht ganz nach einer Taschenlampe aus«, murmelte ich, als das Licht erneut kurz aufblitzte, um dann zwischen den Dünen zu verschwinden.
Ich ließ die Unterkünfte links liegen und beschleunigte meine Schritte in die Richtung des aufblitzenden Lichts. Während ich die Flugplatzstraße entlanglief, fiel mir ein, dass dies dieselbe Richtung war, in die ich am Vortag vom Tower aus eine Gestalt mit einer Kapuze hatte verschwinden sehen. Und Leifs nächtlicher Begleiter trug ebenfalls eine Jacke mit Kapuze.
Wie bei einem Brainstorming ploppten in meinem Kopf die einzelnen Geschehnisse auf, die aneinandergereiht ein Bild ergaben: der Einbruch, von dem Dorfsheriff Hecht erzählt hatte; der unbekannte Schütze, der eine Möwe mit einem Pfeil durchbohrt hatte; die Gestalt, die Matthias Semper vom Tower aus beobachtet hatte und die ihm unbekannt war; der ominöse Todesschütze, der aus den Dünen heraus Milan Siebrandt erschossen hatte.
Manfreds handfeste Auseinandersetzung mit seinem Geschäftspartner Philipp Albrecht und sein Beinahabsturz hinterm Deich war wohl eine andere Geschichte und hatte nichts mit dem Kapuzenmann und dem Mord an Trautes Freund zu tun.
Was aber hatte Leif mit dem Kapuzentypen zu schaffen?
Wieso hatte er sich mit dem Unbekannten verabredet und schlich mit ihm in den Dünen herum?
Ich würde es herausfinden!
Aber zuerst musste ich Leif zu packen bekommen.
Ich beschleunigte meine Schritte.
Vor mir tauchte das Ende des Flugplatzgeländes in Form eines Maschendrahtzaunes auf. Dahinter erstreckte sich die Dünenlandschaft, dort begann das Vogelschutzgebiet des Nationalparks Wattenmeer, der Kalfamer. Außer purer ostfriesischer Natur und Vögeln gab es dort nichts. Zumindest nichts, was einen Zehnjährigen interessieren würde, jedenfalls nicht um diese Zeit im Dunkeln, mochte er auch noch so hochbegabt sein. Und dass Leif sich hier herumtrieb, weil er an einem ornithologischen Schulprojekt teilnahm, war das Letzte, was ich mir nach den Geschehnissen vorstellen konnte.
Ich folgte dem Zaun und stand nach ein paar Metern an einer Tür aus Maschendraht. Die Kette, mit der die Tür offenbar normalerweise verschlossen war, hing lose herab. Hier mussten die beiden durchgegangen sein. Ich drückte die Tür vorsichtig nur einen Spaltweit auf, da ich etwaiges Quietschen vermeiden wollte, und schob mich durch die Öffnung. Ebenso vorsichtig drückte ich die Tür wieder zu.
Erneut zog ich mein Handy aus der Hosentasche und warf einen Blick aufs Display, das ich gleichzeitig mit der Hand abschirmte, damit niemand den Lichtschein bemerkte. Noch immer kein Empfang.
Ganz wohl war mir selbstverständlich nicht bei dem Gedanken, hier im Dunkeln einem Duo aus Hochbegabung und potenziellem Todesschützen hinterherzuschleichen.
Aber was war die Alternative?
Kehrtmachen und Hilfe holen? Das hätte geheißen, abhauen und einen Zehnjährigen alleine in Begleitung eines potenziellen Mörders durch das nächtliche Vogelschutzgebiet spazieren zu lassen. Das würde ich natürlich nicht machen! Aber auch wenn vieles dafür sprach, dass Leifs unbekannter Begleiter der Mörder von Milan Siebrandt war, verspürte ich keine Angst um den Jungen. Ich war mittlerweile überzeugt davon, dass die beiden verabredet gewesen waren, sie kannten sich und hatten offensichtlich ein gemeinsames Ziel hier draußen.
Vor mir sah ich einen etwa meterbreiten Weg, der zu beiden Seiten mit hohem Gras, Strandhafer und vereinzelten Büschen bewachsen war. Bei dem Pfad konnte es sich nur um den Rundweg durch das Vogelschutzgebiet handeln, von dem Matthias Semper gesprochen hatte.
Dann musste sich auch nicht weit von hier die östliche Aussichtshütte befinden, die nach Schilderung des Fluglotsen ein idealer Ort zum Beobachten der Vögel war.
Sowie mir die Aussichtshütte einfiel, wusste ich auch das Ziel des Duos, dem ich über die halbe Insel gefolgt war.
Klar , dachte ich. Ihr wollt zur Hütte. Aber warum?
Ich konnte mir schlecht vorstellen, dass hier irgendjemand nachts Vögel beobachten wollte. Es musste einen anderen Grund geben, der die beiden hierhertrieb.
Trotz des nur schwachen Mondlichts ließ es sich auf dem Weg gut laufen, und es dauerte nicht lange, bis ich die Umrisse eines kleinen Gebäudes ausmachen konnte, die sich gegen den Nachthimmel abzeichneten.
Das musste die Aussichtshütte sein.
Die kleine Hütte lag auf einer Düne inmitten des wild wachsenden Strandhafers.
Als ich mich näherte, erkannte ich einen schmalen Holzweg, der steil empor zur Aussichtshütte führte. Zu beiden Seiten des hölzernen Wegs befand sich ein einfaches Geländer aus Latten, die auf Pfosten befestigt waren.
Am Fuß der ersten Holzstiege blieb ich stehen und sah erneut zu dem kleinen Gebäude hinauf. Es war halbrund und bestand komplett aus Holz. An der runden Seite der Hütte spiegelte sich der fahle Mond in einer gläsernen Fensterfront. Hinter den Glasscheiben war es dunkel. Ich sah kein Anzeichen dafür, dass sich dort oben jemand aufhielt.
Aber Leif musste mit seinem Begleiter dort oben sein. Wo sollten sich die beiden denn sonst befinden?
Bis auf das gedämpfte Rauschen der Brandung und gelegentliches Rascheln im hohen Gras war es still. Vorsichtig setzte ich meinen Fuß auf das Holz, zögerte dann aber, weiterzugehen. Ich duckte mich leicht und sah wiederum angestrengt zu der Hütte hinauf.
Wenn ich die Holzdielen emporstieg, würde man mich sehen können. Die Nacht war zwar nicht besonders hell, aber hell genug, dass meine Gestalt auffallen würde. Zumal es sich dort oben um einen Aussichtspunkt handelte. In der Natur einer Aussichtshütte lag nun mal, dass sie eine möglichst gute Aussicht auf das bot, was rundherum zu sehen war. Und das war in dem Fall ich.
Ich zog meinen Fuß zurück und schlich mich ein paar Meter zur Seite. Erneut schaute ich zur Hütte hoch.
Schon besser , dachte ich zufrieden, denn von hier aus wäre mein Aufstieg durch ein paar große Ginsterbüsche und den hohen Strandhafer geschützt.
Entschlossen machte ich mich auf den Weg. Trotz der Steigung erklomm ich die steile Düne in gebückter Haltung, den Kopf knapp über dem Strandhafer. Ein paar scharfe Halme zerkratzten mir die Waden, und auch die Disteln, in die ich griff, hoben nicht gerade meine ohnehin gedämpfte Laune.
Der Aufstieg war mühsam und anstrengend.
Da sage noch einer, Ostfriesland sei platt , dachte ich mir und legte mich flach ins Gras, als ich die Hütte erreicht hatte. Ich blieb einen Moment liegen, um wieder zu Atem zu kommen.
Als sich mein Atem wieder beruhigt hatte, hob ich vorsichtig den Kopf.
Es war so still wie schon die ganze Zeit über, von dem Duo war nichts zu sehen oder zu hören. Ich richtete mich halb auf und schlich geduckt an der Holzwand entlang, bis ich die nächste Ecke erreichte, von der ein hüfthohes Geländer abging, welches die Terrasse der Hütte umschloss.
Vorsichtig lugte ich über das Geländer. Nichts zu sehen.
Ich erhob mich aus der Hocke und schwang mein Bein über das Geländer. Nachdem ich das zweite Bein nachgezogen hatte, blieb ich regungslos stehen und lauschte ins Dunkel des überdachten Eingangs hinein. Da auch jetzt nichts zu vernehmen war, machte ich einen geräuschlosen Schritt nach vorn und dann den nächsten. Noch zwei Schritte, und ich hatte den Eingang, der im Dunkeln lag, erreicht.
Der Schlag traf mich mit brutaler Gewalt.
Wie von der Faust eines Riesen niedergestreckt, schlug ich mit voller Wucht der Länge nach auf den Dielenboden auf. Im Fallen war ich obendrein mit der Stirn gegen die Sitzfläche einer der beiden Holzbänke geprallt, die fest auf der Terrasse montiert waren. Wie nach einem Meteoriteneinschlag in mein Gehirn stoben vor meinen Augen blitzende Sternschnuppen ins Nichts.
Mein Angreifer hatte die ganze Zeit über auf dem Dach der Hütte gelegen und meinen Aufstieg beobachtet. Als ich dann über das Holzgeländer geklettert war und auf den Eingang zuging, war er mir mit seinem vollen Körpergewicht in den Rücken gesprungen. Die Wucht des Aufpralls war so gewaltig, dass ich augenblicklich das Bewusstsein verlor, als ich mit dem Kopf gegen die Bank schlug, noch bevor ich der Länge nach auf dem Boden aufkam.
Ich merkte noch nicht einmal, dass es schwarz um mich wurde.
Zu überraschend und brutal war der Angriff erfolgt.