– 18 –
»Ist er tot?«
Diese Frage hätte ich verneinen können, wäre es mir möglich gewesen, meinen Mund zu öffnen.
War es aber nicht. Während ich bewusstlos gewesen war, hatte mir mein Angreifer einen breiten Streifen Klebeband über den Mund gedrückt.
Ich verspürte Panik in mir aufsteigen, als ich meine Augen öffnen wollte und auch das nicht zustande brachte. Man hatte mir etwas über den Kopf gestülpt, was sehr eng am Gesicht anlag und mir das Atmen schwer machte. Gott sei Dank hatte man mir die Augen nicht mit dem gleichen Klebestreifen verschlossen wie meinen Mund. Der aggressive Klebstoff hätte mich wahrscheinlich Augenbrauen und Wimpern gekostet.
Mit großer Überwindung blieb ich liegen und stellte mich weiter bewusstlos. Es konnte nur von Vorteil sein, wenn mein Angreifer mich noch immer für ausgeknockt hielt. So konnte ich vielleicht etwas erfahren, was mir Aufschluss über ihn, über den Grund des Angriffs auf mich und über meine Lage gab. Wenn es der Begleiter von Leif war, der mich ausgeknockt hatte, musste er einen triftigen Grund haben. Man schlägt schließlich nicht einfach mal so jemand Wildfremden k. o.
Meine Panik hatte ich wieder weggedrückt und konzentrierte mich darauf, halbwegs ruhig und gleichmäßig zu atmen, wie es ein Bewusstloser tut.
Ich konnte nicht lange bewusstlos gewesen sein.
Aber lange genug, dass mein Angreifer mich verschnüren und etwas Sackartiges über meinen Kopf ziehen konnte. Kaum dass ich die bedrängende Enge um meinen Schädel realisiert hatte, kam auch schon der Schmerz. Wie flüssiges Eisen durchströmte er meinen Körper. Oder das von ihm, das nicht taub war. Ich hatte das Gefühl, als hätte mich eine Dampfwalze überrollt.
Vorsichtig versuchte ich, mich zu strecken, was mir aber nicht gelang. Meine Arme und Beine waren gefesselt. Unmerklich begann ich, mich gegen die Fesseln zu stemmen, was allerdings erfolglos war. Ich war fest verschnürt.
Meine Lage war alles andere als rosig.
Ohne dass jemand wusste, wo ich mich befand, lag ich mitten in der Nacht mit einem Sack überm Kopf und mit zur Bewegungslosigkeit gefesselten Hand- und Fußgelenken am einsamsten Punkt von Juist und war einem potenziellen Mörder wehrlos ausgeliefert.
Die Wucht des Aufpralls war so gewaltig gewesen, dass mein Angreifer ein ausgewachsener Mann gewesen sein musste – Leifs unbekannter Begleiter? Demzufolge musste auch der Junge irgendwo hier sein. Vielleicht hockte er mir gegenüber und beobachtete mich. Vielleicht beobachteten mich auch beide.
Was konnte ich tun?
Ich konnte ja noch nicht einmal etwas sagen.
Auch wenn ich meine Panik weggedrückt hatte, verspürte ich höllische Angst davor, in diesem Sack zu ersticken, da ich mit dem Klebeband über dem Mund nicht ausreichend atmen konnte. Ich bekam kaum Luft und konnte keinen Pieps sagen.
Plötzlich hörte ich Stimmen, mein Angreifer war tatsächlich nicht alleine. Er flüsterte mit jemandem.
Angestrengt lauschte ich.
Ich konnte zwei Stimmen voneinander unterscheiden. Eine junge Stimme, die mir sehr bekannt vorkam, und eine unbekannte Stimme, die sich wie die eines jungen Mannes anhörte: kräftig, ungeduldig und in diesem Fall unterschwellig nervös.
Leif?, dachte ich. Du bist das, du kleines Genie? So weit kann es mit deiner Hochbegabung ja nicht her sein, wenn du dich an solchen Aktionen beteiligst.
Ich war mir jetzt sicher, dass es sich bei der jüngeren der beiden Stimmen um die von Leif, dem kleinen Klugscheißer, handelte.
Angestrengt bemühte ich mich, ruhig zu atmen, denn ich wollte hören, was die beiden miteinander tuschelten.
»… bist du sicher?«, fragte die jüngere Stimme.
»Ja«, raunte der Ältere. »Na klar. Das ist die perfekte Gelegenheit.«
»Aber …«
»Nichts aber!«, fuhr der Ältere den Jüngeren an. »Wenn der Typ so blöd ist und uns nachschleicht.«
»Er sollte auf mich aufpassen …«, sagte der Jüngere – Leif – fast schon kläglich.
»Seit wann brauchst du einen Aufpasser?« Ein unterdrücktes Lachen erklang. »Du bist ein schlaues Köpfchen – genau wie ich. Du bekommst das alleine auf die Reihe.«
»Nicht alles«, widersprach der Junge.
Dieser Aussage folgte ein längeres Schweigen. Angestrengt lauschte ich, bis das Blut in meinen Ohren zu rauschen begann.
»Du hast recht«, sagte der Ältere nach einer Weile. »Deshalb passe ich auf dich auf.«
Jede Stimme hat einen eigenen Charakter, eine Tonlage, an der man sie erkennt und zuordnen kann. Flüstert jemand, verliert seine Stimme ihre Charakteristika und man kann sie nicht mehr zuordnen – obwohl man sie kennt.
»Bei unserem Vater …«
»Sag das nicht!«, fuhr die Stimme des Älteren Leif an. »Sag das nie wieder. Er ist nicht unser Vater. Und er wird niemals ein Vater für uns sein. Er ist unser Stiefvater. Und er ist ein Schwein … ein ganz mieses, perverses Schwein.«
»Was heißt pervers?«, fragte Leif.
»Erklär ich dir später mal«, erwiderte der Ältere, bei dem es sich meiner Vermutung nach um Leifs großen Bruder handeln musste. »In ein paar Jahren.«
»Menno«, nörgelte Leif.
»Hör jetzt auf!«, fuhr der Ältere ihn an. »Lass uns lieber nachdenken. Wir brauchen das Ding. Im Grunde kann ich ausschließen, dass irgendwelche Spuren an dem Pfeil sind, weil ich extrem vorsichtig war und …«
Der Pfeil! Ich fühlte mich wie elektrisiert. Leifs Bruder hatte die Möwe abgeschossen und wollte den Pfeil zurück, den ich sichergestellt hatte .
Er befürchtete zu Recht, dass sich an dem Pfeil forensische Spuren befanden.
»Wir lassen den Typ hier liegen und fahren zu der Pension von der komischen Alten hoch. Wir kommen da schon irgendwie rein, dann schnappen wir uns das Ding und das war’s.«
Verdammt! Erschrocken fuhr ich zusammen . Die meinten Tamara!
Wenn die beiden von hier verschwanden und mich hier gefesselt zurückließen, konnte es nicht nur die Nacht über, sondern ebenso gut einige Tage dauern, bis mich hier einer der Naturliebhaber oder Ornithologen fand. Wir hatten im Moment hier draußen in der Kalfamer Vogelschutzzeit. Ich wäre verhungert oder verdurstet, bis jemand hier auftauchte. Anna würde verrückt vor Sorge werden!
Was also tun?
Mir blieb also nur eins: meinen Erstickungstod schauspielern, sodass meine Angreifer mich losbinden und die Klebestreifen entfernen mussten, wenn sie nicht zu Mördern werden wollten. Denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass Leif tatenlos zuschauen würde, wenn ich vor seinen Augen erstickte.
Also beschloss ich aufzuwachen.
Ich begann mich zu winden, begleitet von lautem schmerzvollem Stöhnen, was ich noch nicht einmal zu schauspielern brauchte, da mir ohnehin alles wehtat.
»Siehst du, der ist nicht tot«, hörte ich die gedämpfte Stimme des Älteren durch den Stoff des Sacks hindurch, der über meinen Kopf gestülpt worden war.
Ich stöhnte lauter. Gleichzeitig begann ich an den Stricken zu zerren, mit denen ich verschnürt worden war.
»Was hat er denn?«, fragte Leif.
»Der hat keinen Bock mehr«, erwiderte sein Bruder, der mich gerade noch als lebend bezeichnet hatte. »Der will losgemacht werden.«
»Dann machen wir ihn wieder los.«
»Damit der uns verpfeift?«, entrüstete sich die Männerstimme. »Nein, der bleibt so liegen, wie er ist.«
Und dann?, dachte ich. Wenn Leifs Bruder tatsächlich der Todesschütze war, hatte er recht mit der Sorge, dass ich ihn verpfeifen könnte. Also musste er mich mundtot machen, um sicherzugehen, dass ich ihn nicht verraten würde. Andererseits, was eigentlich sollte ich verraten? Ich wusste nur, dass er mit Leif losgezogen war, doch ich wusste weder, wie Vince aussah, noch hatte ich diesen Mann hier zu Gesicht bekommen. Dass es sich bei ihm um Leifs Bruder handelte, konnte ich nur vermuten.
Also weiter mit meinem Todeskampf.
Ich stöhnte so laut und verzweifelt, dass ich vor lauter Anstrengung zu schwitzen begann und mir die Luft tatsächlich knapp wurde.
»Ruhe jetzt«, tönte der Mann und ich spürte den Druck einer Schuhspitze in meinen Rippen.
Ich zuckte zusammen und begann hin und her zu zappeln.
»Können wir nicht doch …« Leif klang zaghaft und beinahe ängstlich. »Ich meine, dem geht’s nicht gut.«
Bevor der Ältere ablehnen oder Argumente äußern konnte, die meinen Tod durch Ersticken gebilligt hätten, schaltete ich in die nächste Stufe meiner Inszenierung: Ich begann mich wie ein Aal zu winden und stieß ein lang andauerndes dumpfes Stöhnen aus. Dann entspannte ich schlagartig alle Muskeln und ließ mich schlaff in meinen Fesseln fallen, so als ob ich bewusstlos geworden war.
»Hey!«, rief der Mann erschrocken und stieß mich erneut mit dem Fuß an.
Ich rührte mich nicht.
Wieder traf mich ein leichter Tritt, der mich wohl aufwecken sollte. Ich tat dem Mann den Gefallen und startete den Höhepunkt meines Todeskampfes, der bald wahr werden würde, wenn es mir nicht gelang, meinen Angreifern vor Augen zu führen, was sie zu verantworten hatten – in der Hoffnung, in ihnen das dringende Bedürfnis auszulösen, meinen Erstickungstod doch verhindern zu wollen.
Meine Beine begannen zu zucken, und ich vollführte mit meinen Füßen ein trommelndes Stakkato auf den Dielen, das dumpf durch die Nacht hallte.
»Verdammt, der kratzt ab.« Hektisch begannen Hände das Stück Stoff um meinen Kopf zu lösen, bei dem es sich um eine Regenjacke zu handeln schien. Damit die Hände in ihren Bemühungen nicht nachließen, trommelte ich noch heftiger.
Ich spürte einen Luftzug an meinem Gesicht, es wurde heller.
Um gleich darauf wieder dunkler zu werden.
Mein Angreifer hatte das einengende Stück Stoff zwar von meinem Kopf entfernt, mir aber sofort etwas anderes, Schalartiges um die Augen gebunden, damit ich nichts sehen konnte.
Soll mir recht sein, dachte ich und wertete den Schal als ein gutes Zeichen, dass dem Mann das Klebeband ausgegangen war, was vielleicht auch erklärte, warum er mir die Jacke um den Kopf gebunden hatte.
Noch immer bekam ich zu wenig Luft. Meine Nasenflügel weiteten sich in dem Versuch, mehr Sauerstoff in meine Lunge zu saugen, als möglich war. Langsam wurde mir schwindlig, und ich merkte, wie meine Kräfte abnahmen.
Fingerspitzen machten sich an dem Klebeband an meinem Mund zu schaffen. Mit einem Ruck wurde es plötzlich weggerissen, womit sich das Thema Morgenrasur erledigt hatte.
Ich stieß einen lauten Fluch aus, denn meine Lippen brannten wie Feuer.
»Bleiben Sie jetzt endlich still liegen!«, befahl der Mann.
Da ich nicht riskieren wollte, dass er mir wieder die Jacke um den Kopf wickelte, fügte ich mich und beschränkte mich darauf, tief durch den Mund ein- und auszuatmen.
»Gut so.« Ich konnte hören, wie sich der Mann erhob und sich entfernte.
Da ich mich noch daran erinnern konnte, wo ich über das Geländer gestiegen war, wusste ich in etwa, wo ich liegen musste: quer vor dem Eingang zur Hütte, mit verschnürten Beinen unter einer der beiden Holzbänke, von denen die eine am Geländer und die andere neben dem Eingang stand.
Eine Tür öffnete und schloss sich wieder.
Der Mann war im Innern der Aussichtshütte verschwunden. Da ich keine weiteren Schritte hören konnte, nahm ich an, dass Leif sich bereits in die Hütte verkrümelt hatte, als ich mit meinen Füßen auf den Boden getrampelt und so meinen bevorstehenden Erstickungstod angekündigt hatte. Vielleicht hatte ihn das Bild des verzweifelt um sein Leben kämpfenden Gefangenen am Boden so erschreckt, dass er sich in die Hütte geflüchtet hatte.
Ich wusste noch nicht so genau, welche Rolle Leif an diesem heutigen Abend mit dem Angriff auf mich spielte und ob mir der Junge leidtun sollte oder ich ihn lieber durchschütteln wollte. Weitere Überlegungen hob ich mir für später auf. Jetzt musste ich erst einmal zusehen, wie ich meine missliche Lage verbessern konnte.
Es dauerte nicht lange, bis die Tür wieder geöffnet wurde.
Ohne ein Wort zu verlieren, packte der Mann die Schnur, mit der meine Knöchel zusammengebunden waren, und schleifte mich, die Beine voraus, Richtung Schuppen.
Ich schrie erneut schmerzerfüllt auf, als ich mit dem Kopf an den Türpfosten knallte. Es fühlte sich an, als ob sich bereits auf meine Bekanntschaft mit der Bank hin eine mächtige Beule an meiner Stirn gebildet hatte, und genau an dieser Stelle hatte ich mich nun wieder gestoßen.
Mein Angreifer schleifte mich ein Stück in den Raum hinein. Abrupt ließ er meine Beine los.
»Was haben Sie mit mir vor?«, sprach ich den Mann zum ersten Mal direkt an.
Der Unbekannte antwortete nicht. Dafür hörte ich ihn herumkramen.
Ich überlegte, ob es sinnvoll wäre, auch Leif direkt anzusprechen, entschied mich aber dagegen. Zum einen war ich mir nicht sicher, ob er sich überhaupt hier in der Hütte befand, zum anderen konnte ich nicht abschätzen, ob ich seinen großen Bruder dadurch nicht provozieren würde. Und ich hatte keine Lust, wieder etwas über den Kopf gestülpt zu bekommen. Also hielt ich lieber den Mund und wartete ab, was als Nächstes passierte.
Lange brauchte ich nicht zu warten.
Erneut packte mich der Mann an den Beinen und zog mich zur Seite. An meinen Unterschenkeln spürte ich etwas Hartes – eine weitere Holzbank, die wahrscheinlich mitten im Raum stand, eine bequeme Sitzmöglichkeit für die Vogelkundler, welche die Aussichtshütte zu den erlaubten Beobachtungszeiten aufsuchten. Der Mann zog eine weitere Schnur durch die Schnur, die meine Knöchel schmerzhaft aneinanderdrückte, dann zurrte er meine Beine an der Bank fest. Danach widmete er sich meinen Handgelenken, die er am anderen Ende der Bank ebenfalls festzurrte.
Na toll . Verschnürt wie ein Westpaket, dachte ich und versuchte erst gar nicht, Widerstand zu leisten, da ich befürchtete, daraufhin noch fester verzurrt zu werden.
»Pass gut auf«, flüsterte der Mann mir mit gesenkter Stimme zu. »Ich verschwinde jetzt von hier. Du nicht!«
Ein eisiger Schrecken durchfuhr mich.
Ich lag hier gefesselt und mit verbundenen Augen – wehrlos. Erneut schoss mir ein Adrenalinstoß durch die Adern.
Ich wusste weder mit Gewissheit, wer der Mann war, noch was er im Schilde führte. Ich war mir nur sicher, dass ich den Mörder von Milan Siebrandt vor mir hatte. Wenn er vorhatte, keine Zeugen zu hinterlassen, reichte ein Schnitt mit einem Taschenmesser, um mich für immer zum Schweigen zu bringen.
Mir brach der Schweiß aus.
»Sie haben Glück. Ich bin kein Mörder«, flüsterte die Stimme nah an meinem Gesicht. »Zumindest nicht Ihrer.«
»Und warum schlagen Sie mich nieder und fesseln mich hier?«, stieß ich wütend hervor.
Die Tatsache, dass er mich förmlich ansprach und nicht das vertrauliche oder respektlose Du wählte, machte mir sofort Hoffnung, heil und unversehrt aus dieser Situation herauszukommen. Es war ein alter Hut, dass es sich leichter du Arschloch als Sie Arschloch sagen ließ, was ich gleichsetzte mit Ich bring dich um und Ich bringe Sie um . Das Sie zeugte für eine förmliche Distanz, die der Mann trotz seines deutlichen Vorteils mir gegenüber zu empfinden schien.
»Weil …«, setzte er zur Erwiderung an und zögerte kurz, um dann nebulös zu sagen: »Ich zieh hier mein Ding durch.«
Welches Ding er meinte, sagte er natürlich nicht. Ich verspürte auch nicht das Bedürfnis, ihn danach zu fragen. Zu unberechenbar war die Situation, zu schlecht waren die Karten, die ich in der Hand hielt.
»Sie bleiben einfach entspannt hier liegen. Die Vogelbeobachter sind schon immer früh unterwegs, da werden Sie nicht lange hier liegen müssen. Ich schätze mal, so in vier, fünf Stunden wird man Sie gefunden haben. Das reicht für mich, um zu verschwinden.«
Der Mann erhob sich aus der Hocke. Ohne ein weiteres Wort ging er Richtung Ausgang.
Ich verzichtete darauf, ihm noch irgendetwas hinterherzurufen oder Fragen zu stellen, die er mir ohnehin nicht beantwortet hätte. Er hatte alles gesagt, was aus seiner Sicht nötig war.
Die Tür schlug mit einem halblauten Klappen zu.
Ich atmete schwer aus.
Noch immer pumpte mein Körper Adrenalin durch meine Adern. Da aber die akute Gefahr vorüber war, spürte ich, wie mein Puls langsam ruhiger wurde. Mit dem Absinken des Adrenalinspiegels meldeten sich zunehmend meine Schmerzen zurück. In meinem Rücken machte sich eine ungute Prellung bemerkbar und mein Schädel pochte wie kurz vorm Zerspringen. Meine Lippen brannten, als hätte ich mir mit einem Bund Brennnesseln die Zähne geputzt.
Ich brauchte dringend Urlaub vom Urlaub.
Draußen entfernten sich Schritte.
Ich war allein.
Versuchsweise, aber eher halbherzig, da ich wusste, wie fest der Kerl sie gezogen hatte, zerrte ich an meinen Hand- und Fußfesseln. Sie gaben nicht nach, wie ich schon vermutet hatte.
Stattdessen gab ich nach.
Gegen die Fesselung hatte ich keine Chance. Es war besser, meine Kräfte zu sparen, als sinnlos Energien zu verpulvern, die mir außer Schürf- und Schnittwunden an Hand- und Fußgelenken nichts einbrachten.
Ich versuchte, meinen Kopf halbwegs bequem abzulegen, und konnte mir lebhaft vorstellen, was mein Physiotherapeut Hannes mir bei meinem nächsten Besuch erzählen würde, wenn er mir meinen Hals wieder einrenken musste.
Bleierne Müdigkeit und eine dumpfe Mattigkeit überkamen mich.
Was Anna jetzt wohl tat? Noch mit Tamara feiern? Vielleicht lag sie auch schon seit Stunden schlaflos im Bett und wartete auf mich.
Es tat mir sehr leid, Anna zu beunruhigen. Wenn nicht jetzt, dann spätestens, wenn sie morgen früh aufwachte und ich nicht neben ihr lag.
Wenn mich morgen früh oder wann auch immer jemand fand und befreite, würde mich mein erster Weg zu Anna führen. Ich würde sie in meine Arme nehmen und ihr endlich sagen, was ich ihr schon die ganze Zeit sagen wollte und nicht konnte.
Die nächsten Stunden waren für mich nicht sehr bequem. Ich verbrachte sie mit verbundenen Augen und schmerzenden Gliedern auf dem harten Boden und lauschte in die Dunkelheit hinein, in der mich die leisen Geräusche der Nacht immer wieder in einen unruhigen Halbschlaf fallen ließen. Kaum war ich eingenickt, schreckte ich hoch und wurde von den strammen Fesseln schmerzhaft an meine Situation erinnert. Ich hatte einen Mordshunger. Schlimmer aber war der quälende Durst. Meine Lippen brannten noch immer höllisch von dem Entfernen des Klebebands und meine Zunge lag mir wie ein Fremdkörper im Mund.
Erst im Morgengrauen schlief ich trotz meiner unbequemen Lage ein.
Plötzlich schreckte mich eine Stimme auf. Panik ergriff mich, da ich wegen des Tuchs, das mir der Mann umgebunden hatte, nicht sehen konnte. Ich brauchte einen Moment, mich zu orientieren, dann wusste ich wieder, was geschehen war.
Erneut hörte ich die Stimme.
»He!«, wollte ich laut rufen, brachte aber nur ein Krächzen hervor, mein Hals war vollkommen ausgedörrt.
»Nee, da brauchen wir nicht reinzugehen«, sagte ein Mann, der sich direkt vor dem Fenster befinden musste. »Da steht nur eine Bank drin wie die hier draußen. Das machen wir beim nächsten Mal. Wir wollen doch jetzt los zu unserer Wattwanderung, da müssen wir im Zeitplan bleiben. Ich wollte euch nur mal von hier oben Norderney zeigen. Da drüben …« Die Stimme entfernte sich.
Wahrscheinlich handelte es sich bei dem Mann um einen Wattführer, der von der Wattseite aus eine Gruppe nach Norderney führen wollte.
Wer weiß, wie lange ich auf meine Befreiung warten musste, wenn diese Leute verschwanden.
Ich begann mit den Füßen auf den Boden zu trommeln, was wegen der strammen Verzurrung kaum möglich war. Gleichzeitig versuchte ich, noch mal laut zu rufen, und es gelang mir tatsächlich besser als beim ersten Mal. Allerdings war ich nicht laut genug, da die Gruppe sich entfernt hatte.
Erschöpft von meinem heftigen Gezappel, ließ ich meinen Kopf wieder auf den harten Holzboden sinken.
Verdammt, dachte ich verzweifelt. Das wäre die Chance gewesen. Wer weiß, wann wieder jemand hier auftaucht. Ich hoffte nur, dass das möglichst bald sein würde.
»Patrick!«, rief eine Frauenstimme aus der Ferne. »Lass das und komm jetzt her!«
Glücklicherweise hörte Patrick nicht auf seine Mutter. Quietschend öffnete sich die Tür.
Der Junge erlebte den Schreck seines Lebens. »Hier liegt ein Toter!«, kreischte er mit hoher Stimme, bevor ich mich bemerkbar machen konnte.
Die Tür klappte wieder zu. Lautes Fußgetrappel entfernte sich über die Holzdielen.
Erleichtert atmete ich auf. Egal, ob der Junge mich für lebend oder tot gehalten hatte, jemand aus der Gruppe würde jetzt nach dem Rechten schauen.
Es dauerte nicht lange, bis genau das passierte, was ich mir erhofft hatte. Es näherten sich schwere Schritte, die einen Moment vor der Tür verharrten.
Erneut öffnete sich die Tür.
»Jemand zu Hause?«, ließ sich eine vorsichtige Männerstimme von der Eingangstür her vernehmen.
»Moin«, krächzte ich.
»Moin«, erwiderte der Mann erstaunt und kam näher. »Für ’ne Leiche sehen Sie aber erstaunlich lebendig aus.«
Der Mann hockte sich neben mich und begann herumzukramen.
»Da hat dich aber jemand gut verschnürt, das bekomme ich so nicht auf«, stellte er fest. »Aber ich hab ein Taschenmesser dabei … irgendwo …«
»Was ist los?« Erneut quietschte die Tür. »Ach Gott, da liegt ja wirklich einer!«
Während der Neuankömmling sich an meiner Augenbinde zu schaffen machte, hatte der andere sein Taschenmesser gefunden und säbelte an den Fesseln herum.
»Autsch.« Das Sonnenlicht biss mir schmerzhaft in die Augen, als meine Retter mir den Schal abgenommen hatten. »Oh, ist das hell.«
Es dauerte einen Moment, bis ich halbwegs sehen konnte. Ich nutzte die Zeit und rieb mir die schmerzenden Handgelenke.
»Ich bin Freddy, der Wattführer«, stellte sich der hagere Mann mit dem wettergegerbten Gesicht und dem Lachgrübchen am Kinn vor und sah mich besorgt an. »Alles in Ordnung?«
»Ja.« Ich nickte matt. »Ja, alles in Ordnung. Vielen Dank für eure Hilfe.«
»Wir hätten dich ja schlecht so liegen lassen können«, entgegnete der Wattführer trocken. »Wie heißt du?«
»Jan«, antwortete ich mit rauer Stimme. »Jan de Fries.«
»Und wo wohnst du, Jan?«
»Im Bismarck-Blick.«
»Ach, bei Tamara.« Abschätzend musterte der Wattführer mich.
»Ja, leider konnte ich gestern nicht an ihrer Geburtstagsfeier teilnehmen, aber …« Ein trockener Hustenanfall unterbrach mich.
»Tim«, stellte sich der zweite Mann vor und löste eine metallene Trinkflasche von seinem Rucksack, die dort an einem Karabinerhaken baumelte. »Sie sollten etwas trinken.«
Diese Aufforderung ließ ich mir nicht zweimal machen. Dankbar griff ich nach der Trinkflasche und setzte sie an meine wunden, aufgerissenen Lippen. In großen Schlucken leerte ich die Flasche zur Hälfte und setzte sie nur ab, weil ich nach Luft schnappen musste. Noch nie hatte lauwarmer Kräutertee so gut geschmeckt.
»Trinken Sie ruhig aus«, sagte der Mann. »Nur vielleicht mit einer Pause. Kann ich Sie mal anschauen? Ich bin Arzt.«
»Na klar …«, antwortete ich zwischen zwei Hustenanfällen. »Und danke für den Tee.«
»Gern, wenn’s schmeckt.« Der hilfsbereite Arzt beugte sich zu mir runter und unterzog mich einer kurzen, aber gründlichen Untersuchung.
»Sie haben so weit alles gut überstanden«, lautete seine Diagnose wenig später. »Ihr Wohltäter hat sie zwar sehr stramm gefesselt, aber es sind an den Gelenken nur ein paar Abdrücke zu sehen, das gibt sich wieder. Keine ernsteren Quetschungen. Vielleicht gibt’s noch einen blauen Fleck. Und die Hautläsionen an den Lippen heilen auch schnell wieder ab. Küssen sollten Sie aber heute besser nicht.«
»Schade, Doc«, flachste ich und ließ mir von ihm auf die Beine helfen. »Wie kann ich mich denn sonst bei Ihnen für den tollen Service bedanken?«
»Ihre Versichertenkarte reicht«, antwortete er trocken.
»So, Tim, wir müssen dann auch los«, mahnte Wattführer Freddy, der seine Gruppe über Patricks Fund und die Verzögerung unterrichtet hatte, während der Arzt mich untersuchte. »Wir sind schon knapp in der Zeit.«
Ich bedankte mich nochmals bei Tim, dessen Trinkflasche ich geleert hatte.
»Was dich nun anbelangt …«, meinte der Wattführer mit ernstem Gesicht zu mir, »… hab ich unseren Dorfsheriff anrufen müssen.«
»Bente Hecht«, entgegnete ich und zuckte mit den Schultern. »Ist schon recht. Muss ja alles seine Ordnung haben.«
»Tja.« Wattführer Freddy trat leicht verlegen von einem Bein aufs andere. »Nichts für ungut, aber das war nun wirklich kein Dummejungenstreich. Sieht für mich aus wie etwas …« Beklommen brach er ab.
»Wie etwas Kriminelles«, vervollständigte ich seinen Satz.
»Ja, genau.« Betrübt nickte er. »Also, ein Überfall war’s ja nun mal sicherlich. Das war dann schon das zweite Verbrechen in nur achtundvierzig Stunden auf der kleinen Insel. Und das hier bei uns auf Töwerland. So was ist in den letzten Jahren nicht passiert.«
Ich beruhigte ihn, zumindest hinsichtlich meiner Person. Auch wenn ich mich nicht ausweisen konnte, da ich keinerlei Papiere bei mir hatte, schien ihn schon die Erklärung zu beruhigen, dass ich Anwalt und ein Freund von Manfred Bendix war.
»Na, dann ist ja gut.« Erleichtert atmete Freddy auf. »Aber du musst dich heute noch beim Bente melden. Er will wissen, was hier vorgefallen ist.«
Nachdem ich ihm versichert hatte, dass ich das tun würde, brachen wir auf. Am Fuß des Anstiegs zur Aussichtshütte wartete schon ungeduldig die etwa dreißigköpfige Gruppe von Wanderern auf ihren Wattführer.
Neugierig beäugten mich die Ausflügler beim Näherkommen. Auf dem Holzgeländer saß ein etwa achtjähriger Junge und sah mich mit furchtsamen Augen an.
»Ich bitte die Verzögerung zu entschuldigen«, wandte ich mich an die Wattwanderer. »Ich befand mich gerade in einer etwas misslichen Lage, und Freddy und Tim waren so freundlich und haben mir geholfen. Und du, mein Junge …«, ich sah den Jungen auf dem Geländer an, »du bist sicherlich Patrick, oder?«
Schüchtern sah mich der Junge an, dafür antwortete seine Mutter. »Ja, das ist Patrick.«
»Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe«, sagte ich mit freundlichem Lächeln zu dem Jungen. »Du bist so etwas wie mein Lebensretter.«
»Ehrlich?« Das Gesicht des Jungen begann vor Verlegenheit und Stolz zu leuchten.
»Ganz sicher«, bekräftigte ich mein Lob. »Wenn du mich nicht gefunden hättest, hätte ich wahrscheinlich noch den ganzen Tag dort liegen müssen.«
Mit stolzgeschwellter Brust sprang Patrick von dem Geländer herunter und griff nach seinem Transformer-Rucksack. Seine Mutter lächelte mich dankbar über das Lob an.
Ich sah den Leuten zu, wie sie sich ihre Rucksäcke aufschnallten und losgingen. Patrick drehte sich noch ein paarmal um und winkte mir stolz zu. Ich winkte lächelnd zurück. Dann brach ich auf.
Anna würde sich mit Sicherheit Sorgen machen.
Etwas steif, aber umso entschlossener stapfte ich den Weg zurück. Es musste noch früh sein. Ein Blick auf mein Handy, das ich aus der Hosentasche zog, zeigte mir, dass ich mich noch immer in einem Funkloch befand.
Als ich den Flugplatz passierte, stand bereits die erste blau-weiße Maschine der Inselflieger mit laufenden Motoren auf dem Rollfeld und wartete auf die Startfreigabe. Wenn der Flugplatz schon seinen Betrieb aufgenommen hatte, musste es nach neun Uhr sein, denn wie ich aus eigener Erfahrung wusste, startete die erste Maschine nach Norddeich ungefähr um diese Zeit.
Ich beschleunigte meinen Schritt, als ich auf Höhe der Flugzeughalle Manfred Bendix auftauchen sah. Hatte ich ihn gestern noch hartnäckig gesucht, mangelte es mir im Moment an jeglicher Lust, mit ihm zu sprechen. Wir hatten sicherlich noch Klärungsbedarf, zumal ich nach dem Horrorflug keinerlei Ambitionen mehr hatte, ihm juristisch beizustehen.
Freundschaftsdienst ja!
Zu jeder Tages- und Nachtzeit!
Aber ich lasse mich nicht verarschen!
Nicht von Manfred und auch nicht von jemand anderem. Und sei es noch so gut gemeint. Das wollte ich Manfred direkt so sagen, nur heute Morgen nicht. Ich wollte schnellstmöglich zu Anna.
Mein Fahrrad stand noch genauso unberührt an der Mauer mit den blauen Fischmotiven, wie ich es in der Nacht abgestellt hatte. In jeder Großstadt wahrscheinlich undenkbar, aber hier auf Juist vollkommen normal.
Ich schwang mich auf den Sattel und fuhr los.
Die Morgensonne weckte meine Lebensgeister und ich hielt mein Gesicht freudig in die immer höher steigende Sonne. Doch es war nicht nur die Sonne, die mich an diesem Morgen mit neuen Lebensgeistern versorgte.
Obwohl mir von der Nacht, die ich gefesselt auf dem harten Boden verbringen musste, so ziemlich alle Knochen im Leib wehtaten, fühlte ich mich fit und geradezu hungrig nach Leben. Wahrscheinlich waren das die Nachwirkungen der Ungewissheit, die mich erfüllt hatte, als ich wehrlos und mit verbundenen Augen einem unbekannten Mann ausgeliefert gewesen war, den ich für einen kaltblütigen Mörder hielt.
Ich beschloss, künftig jedes Jahr am heutigen Datum einen zweiten Geburtstag zu feiern. Kurzum – ich war glücklich und heilfroh, noch in einem Stück am Leben zu sein.
Der Weg zum Bismarck-Blick tauchte vor mir auf und ich bog mit einem langen Schlenker in die Auffahrt ein. Nachdem ich das Fahrrad gegen einen Holzbalken gelehnt hatte, stiefelte ich die Treppen zur Pension hinauf.
Motte erhob sich sofort, als er mich hörte, und kam mir entgegen.
»Na, mein Dicker«, begrüßte ich ihn und hockte mich neben ihn.
Er schnüffelte an meinem Ohr, als ob er mir was zuflüstern wollte.
Ich wuschelte ihm durchs Fell. »Bin gleich wieder da«, versprach ich ihm und erhob mich. »Ich muss erst einmal zu Anna.«
Fast hätte ich Tamara übersehen, die im Strandkorb seitlich des Eingangs saß und an einer ihrer Papirossy zog. Der scharfe Zigarettengeruch hatte mich aufmerksam werden lassen und ich blieb neben dem Strandkorb stehen. In ihre Wolldecke eingewickelt, sah Tamara aus wie eine russische Grande Dame, die auf den Schlitten wartete, der sie zur Petersburger Schlittenfahrt abholte.
»Danke, Jan.« Tamaras markantes Gesicht sah im warmen Licht der aufgehenden Morgensonne entspannt und zeitlos schön aus. Die Anzahl ihrer Lachfalten spielte überhaupt keine Rolle, sie sah einfach hinreißend aus. »Das ist lieb von dir.«
»Ich wäre gestern Abend gern zu deiner Geburtstagsfeier gekommen.« Entschuldigend hob ich die Hände. »Aber ich war leider verhindert.«
»Verhindert?« Tamara sah mich vielsagend an und blies eine nikotinblaue Wolke in den Morgenhimmel. »Schade. Du hast wirklich etwas verpasst. Es war eine wirklich wilde Sause. Einige der Leute kannte ich gar nicht, die hier herumliefen.«
Bedauernd hob ich die Schultern. »Es tut mir auch sehr leid, dass ich nicht bei deiner Party dabei war, aber ich war bei einer alten Freundin und …«
»Soso.« Erneut stieß Tamara eine blaue Wolke aus, diesmal in meine Richtung, womit sie offenbar ihre Missbilligung ausdrückte. »Eine alte Freundin …«
»Nicht so, wie du jetzt vielleicht denkst.«
»Was denke ich denn?« Mit einem undurchsichtigen Lächeln sah Tamara mich an.
Ich erwiderte ein paar Sekunden ihren Blick, bevor ich verstand, was sie meinte.
»Ich habe die Nacht nicht bei einer anderen Frau verbracht«, stellte ich unmissverständlich klar. »Anna ist die Frau, die ich liebe. Und die betrüge ich nicht. Nicht in der Vergangenheit, nicht in der Gegenwart und nicht in der Zukunft!« Ich sah ihr direkt in die Augen.
Eigentlich gab es keinen Grund für mein Statement, schließlich war Tamara unsere Pensionswirtin, die ich zwar sehr schätzte, der ich aber keinerlei Rechenschaft schuldig war. Und dennoch war es mir ein Anliegen, klar und unmissverständlich zu sagen, wie meine Gefühle für Anna waren. Außerdem mochte ich nicht den Verdacht im Raum stehen lassen, dass ich mich zu einer anderen Frau ins Bett legte, während Anna hier auf mich wartete.
»Ich glaube dir, Jan.« Tamaras raue Stimme klang an diesem frühen Morgen noch etwas weicher als gewohnt, was wahrscheinlich daran lag, dass die Papirossa ihre erste Morgenzigarette war. »Jetzt muss nur Anna dir auch noch glauben.«
»Was kein Problem sein sollte«, erwiderte ich zuversichtlich. »Ich geh jetzt hoch und wecke sie mit einem Kuss! Und dann frühstücken wir ausgiebig. Hast du frischen Kaffee?«
Tamaras Blick wurde dunkler. Sie nahm einen tiefen Zug aus ihrer russischen Pappröhre. Nachdem ihre Lungenbläschen vor Begeisterung applaudiert hatten, stieß sie eine nahezu durchsichtige Nikotinwolke aus. Der Rest ihres Inhalats verblieb als ein weiterer Schritt auf dem Weg der Asphaltierung ihrer Raucherlunge in derselben.
»Anna ist nicht mehr da.«
Verständnislos starrte ich Tamara an.
»Nicht mehr da – was heißt das?«
»Sie ist weg.«
»Weg?«, echote ich; noch immer hatte ich nicht kapiert, was Tamara meinte.
»Nun sei doch nicht so begriffsstutzig!«, seufzte Tamara und kniff das Pappröhrchen einer frischen Papirossa zu einem Mundstück zurecht. »Anna hat ihren Koffer gepackt und ist abgereist.«
Ich hörte Tamaras Worte, konnte aber den Sinn nicht realisieren.
Anna war abgereist? Aber wieso denn? Verständnislos schüttelte ich den Kopf.
»Sie hat heute Morgen ihren Koffer gepackt und hat sich von mir verabschiedet.«
»Wann?«, fragte ich entgeistert.
Anna war abgereist.