– 19 –
Der Anblick des verlassenen Zimmers versetzte mir einen Stich ins Herz.
Auch wenn ich keinen Grund hatte, an Tamaras Worten zu zweifeln, war ich sofort zu dem Zimmer gehastet, in dem Anna und ich noch am Vortag sehr glückliche Stunden miteinander verbracht hatten.
Meine Hände zitterten leicht, als ich den Schlüssel ins Schloss schob.
Was war das denn?
Mein Blick blieb am Türrahmen auf Höhe der Türklinke hängen, wo Kratzspuren und abgesplittertes Holz rund um das Schloss eine deutliche Sprache sprachen. Leifs Begleiter hatte Wort gehalten, wenn ich die Spuren richtig deutete.
Vorsichtig drehte ich den Schlüssel, der zunächst hakte, bevor er sich mit einem metallischen Klacken im Schloss drehen ließ.
Da hat jemand dran rumgefummelt , stellte ich fest.
Vorsichtig drückte ich die Tür auf.
Kissen und Decke auf meiner Seite des Doppelbetts waren noch immer zerwühlt, auf Annas Seite ordentlich zusammengelegt. Die Ablage am Waschbecken bot ein ähnliches Bild. Meine Waschutensilien standen auf der Seite, wo ich sie hingestellt hatte. Annas Seite war leer. Den Blick in den Kleiderschrank sparte ich mir, denn die Botschaft war klar.
Anna hatte ihre Sachen gepackt und unseren Romantikurlaub beendet.
Betroffen setzte ich mich auf die Bettkante und starrte auf Annas zusammengelegtes Bettzeug. Als ich die Augen abwandte, weil mich der Anblick des verlassenen Bettes schmerzte, sah ich den Zettel, der an meiner Nachttischlampe lehnte.
Jan , stand in säuberlicher Schrift auf dem weißen Papier.
Ich griff nach dem Brief und faltete ihn auseinander.
Jan,
es macht mich sehr traurig, Dir diese Zeilen schreiben zu müssen.
Ich mache Dir auch keine Vorwürfe, denn ich kenne Dich gut genug, um zu wissen, dass Du tun musst, was Dir Dein Gefühl sagt. Und wenn Dein Gefühl Dir sagt, dass Du die ganze Nacht bei Deiner Ex-Freundin verbringen musst, dann musst Du das tun.
Aber ohne mich!
Ich bin sicher, dass es gute Gründe gab, die Dich haben vergessen lassen, dass ich hier die ganze Nacht auf Dich gewartet habe.
Ich fliege jetzt heim.
Anna
PS: Die Polizei war da und hat den Pfeil abgeholt.
Betroffen ließ ich Annas Brief sinken und faltete ihn langsam wieder zusammen. Mir war klar, dass sie meine Nachricht nicht abgehört hatte. Denn sonst hätte sie nicht diesen Brief geschrieben.
Sie hatte ja recht mit dem, was sie empfand. Zwar war der Sachverhalt ein anderer, aber das wusste sie nicht. Es tat mir so leid, Anna in dem Glauben gelassen zu haben, die Nacht bei Traute verbracht zu haben, und ich bereute es jetzt, gestern Abend nicht erst zu Anna hochgegangen, sondern stattdessen direkt Leif und dem Kerl mit der Kapuze hinterhergejagt zu sein.
Gut , dachte ich. Das kann ich nicht mehr ungeschehen machen. Aber ich kann dir erklären, wo ich die Nacht verbracht habe.
Als ich die Zimmertür ins Schloss drückte, fiel mein Blick noch einmal auf das abgesplitterte Holz. Den Versuch hättet ihr euch sparen können, ihr Idioten!, dachte ich. Den Pfeil hat die Polizei.
Die Strecke zum Flugplatz legte ich in Rekordzeit zurück.
Motte hatte es vorgezogen, sich im Schatten seinem Schönheitsschlaf zu widmen, sodass ich ihn ruhigen Gewissens in Tamaras Obhut zurückließ.
»Lass ihn ruhig schlafen«, hatte sie gutmütig gesagt. »Ich wecke ihn nur zu den Mahlzeiten auf.«
Am Kutschenparkplatz umkurvte ich mit einem abenteuerlichen Ausweichmanöver zwei Kinder, die gedankenlos ihre Rollkoffer quer über die Zufahrtsstraße schoben.
Ich unterdrückte einen Fluch und trat umso kräftiger in die Pedale.
Da ich die Flugplatzstraße wie im Tiefflug entlangdüste, dauerte es nur etwa die Hälfte der Zeit wie sonst, bis ich ziemlich außer Atem mein Fahrrad wieder an die bunt bemalte Mauer der Flugplatzeinfahrt lehnte. Ein blauer Hummer schien mich spöttisch von der Wand herab anzugrienen. Ich ließ das Rad einfach fallen, da es mir im Moment vollkommen egal war, ob irgendjemand den Drahtesel klauen würde oder nicht.
Mit schnellen Schritten hastete ich zu dem niedrigen Gebäude, in dem sich die Abfertigung befand. Die Passagiere der folgenden zwei FLN-Flüge warteten bereits auf ihre Abfertigung, während sich diejenigen, die ihr Gepäck schon aufgegeben hatten, im abgetrennten Außenbereich des Flugplatzes aufhielten und die Zeit nutzten, um ihr Gesicht noch einmal in die Sonne zu recken. Zwei kleine Mädchen waren damit beschäftigt, ihre Taschen auszuleeren und neu zu packen. Ihre Mutter machte einen sehr genervten Eindruck in Anbetracht des bunten Durcheinanders von Sandschaufel, Teddybär und Haarspangen, das um die beiden verstreut lag. So hatte jeder seine Probleme.
Mein Problem jedoch war gerade riesengroß – Anna!
Wo war sie?
Mich überkam plötzlich eine unerklärliche Unruhe, die immer stärker wurde. Ich zwang mich, durchzuatmen. Es war alles in Ordnung. Ich musste nur in Ruhe mit Anna über die vergangene Nacht reden, ihr erklären, was geschehen war. Sie würde mich verstehen.
Aber dafür musste ich Anna erst einmal finden!
Langsam ging ich das Abfertigungsgebäude ab, in dessen Ankunftsbereich mehrere Urlauber auf ihren Koffern saßen und leise vor sich hin schnarchten.
Wo war Anna?
Meine innere Unruhe wuchs. Ich wusste nicht, wieso.
Nachdem ich zweimal die Urlauber gecheckt hatte, die im Außenbereich auf ihren Flug warteten, drückte ich mich an der Abfertigungshalle vorbei und schaute durch das Fenster in den Bereich, in dem die Fluggäste bei schlechtem Wetter auf ihren Abflug warteten.
Weit und breit keine Spur von Anna.
»Verdammt noch mal! Wo ist sie?«
Ohne auf die Kommentare der Fluggäste zu reagieren, die mich darauf hinwiesen, dass das Ende der Schlange ein Stück weiter hinten sei, schritt ich energisch vorwärts.
»Moin!«, grüßte ich höflich, während ich mich an einer Familie vorbeidrängelte, deren Vater zur Belustigung der Kinder, die ihn umringten, Hasenohren aus Kunststoff aufgesetzt hatte und mich entrüstet ansah.
»’tschuldigung«, sagte ich hastig und sah die Schalterschaffende eindringlich an. »Das ist jetzt mal ein Notfall. Ich suche … eine Frau.«
»Ihre Frau?« Die Flugplatzmitarbeiterin sah mich neugierig an. »Sie suchen Ihre Frau?«
Ich zögerte einen Sekundenbruchteil und nickte dann entschieden. »Ja, meine Frau! Können Sie mir helfen?«
»Wie lautet denn der Name Ihrer Frau?«
»Harms«, antworte ich. »Anna Harms.«
»Also, Herr Harms …« Silvi van Dens, als welche das Namensschild die Flugplatzmitarbeiterin auswies, schüttelte leicht den Kopf, während sie auf den Bildschirm ihres Terminals sah. »Eine Frau Harms … nein … kann ich leider nicht finden … außerdem gehen bis auf Weiteres keine Flüge.« Sie tippte noch zweimal auf ihrer Tastatur herum, hob dann den Kopf und sah mich verständnisvoll an. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen. Außerdem steht Ihre Frau gar nicht auf unseren Passagierlisten.«
»Dauert das noch lange?«, mischte sich der Mann mit den Hasenohren hinter mir nun forsch ein.
Wahrscheinlich wollte er seiner Familie jetzt zeigen, dass er sich zu wehren wusste, wenn sich jemand bei ihm vordrängelte.
»Sorry, bin gleich so weit. Das ist gerade sehr wichtig«, sagte ich über meine Schulter hinweg, ohne mich umzudrehen.
»Wieso gehen keine Flüge?«, fragte ich irritiert, doch im selben Moment fiel mir ein, dass Traute am Abend zuvor gesagt hatte, sie habe die Insel wegen des Mordfalls dichtgemacht.
»Wegen des Unglücks gestern«, antwortete die Mitarbeiterin.
Ich nickte. »Verstehe.«
»Wie sieht Ihre Frau aus und wann wollte sie denn fliegen?« Mitfühlend sah mich Silvi van Dens an; wahrscheinlich war ich nicht der erste Mann, der hier seine Frau suchte, weil sie ihm abhandengekommen war.
»Ich weiß nicht genau, wann sie fliegen wollte …«, ich zuckte mit den Schultern, »… aber ich schätze, dass sie gleich mit der ersten Maschine nach Norddeich wollte.«
»Und wie sieht Ihre Frau aus?«
»Groß, schlank, lange rote Haare …«
»Ach, die Rothaarige«, erwiderte Silvi van Dens spontan. »Ja, die war …«
»Also, ich find das jetzt nicht gut!«, sagte der Hase hinter mir und legte mir die Hand auf meine Schulter. »Sie haben sich vorgedrängelt und …«
Gereizt fuhr ich zu ihm herum. »Ich habe mich bereits entschuldigt. Es ist wichtig und ich bin gleich fertig.«
»Mag ja sein«, erwiderte er oberlehrerhaft. »Aber wir müssen uns alle an Regeln halten. Sie können doch nicht einfach …«
»Doch. Kann ich und hab ich!«, platzte mir der Kragen. »Wenn es Ihnen zu lange dauert, gehen Sie doch ein paar Ostereier verstecken. Im Moment fliegt sowieso keine Maschine. Und jetzt nehmen Sie Ihre Hand von meiner Schulter!«
»Also, hören Sie mal …«
»Sofort!«, sagte ich scharf.
Seine blassblauen Augen bekamen einen furchtsamen Ausdruck, als er in meinem Blick las, dass es mir bitterernst war und er besser meinem Wunsch nachkam.
Die Hand verschwand.
»Papa. Was hat der Mann?«, rief das kleine Mädchen, das neben ihm stand.
»Pscht!«, machte Hasenohr und wich meinem Blick aus. »Der Mann hat’s eilig.«
Ich schoss noch einen warnenden Blick auf ihn ab und drehte mich wieder zu der jungen Frau hinter dem Abfertigungstresen um.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich, weil ich selber wusste, dass ich mich gerade nicht von meiner besten Seite zeigte, aber auch ich hatte nur Nerven, und die letzte Nacht und Annas Verschwinden setzten mir mehr zu, als ich wahrhaben wollte. »Ja, sie hat rote Haare, eine Löwenmähne.«
»Die Dame war heute Morgen hier«, nickte Silvi van Dens. »Gleich als wir öffneten. Sie wollte mit der Maschine nach Norddeich. Aber die Flüge sind bis zum Nachmittag alle ausgebucht – sofern sie überhaupt fliegen. Im Moment hat die Polizei alle Flüge gestoppt, und wir warten darauf, dass es normal weitergehen kann.«
»Und dann?«, drängte ich ungeduldig, ohne darauf zu hören, was mir die Frau hinterm Schalter gerade sagte. Ich wollte nur wissen, ob sie Anna gesehen hatte.
»Ich weiß nicht.« Silvi van Dens zuckte bedauernd mit den Achseln. »Ich habe sie draußen noch mit dem Chef reden sehen. Dann war sie verschwunden.«
»Chef?« Beunruhigt sah ich sie an. »Was denn für ein Chef?«
»Herr Bendix«, antwortete sie. »Unser Geschäftsführer, hier vom Flugplatz.«
»Manfred«, sagte ich wenig begeistert, denn mir war sofort klar, dass Anna mit ihm geflogen sein musste, wenn sie die Insel auf dem schnellsten Weg hatte verlassen wollen. »Tja, dann danke, Sie haben mir sehr geholfen.«
Ich wandte mich zum Gehen.
»Viel Glück!«, rief Silvi van Dens mir nach.
Der Mann mit den Hasenohren sah mich beleidigt an, als ich an ihm vorbei Richtung Ausgang ging. Ich ignorierte ihn.
Draußen vor dem Abfertigungsgebäude ging ich ein paar Schritte Richtung Rollfeld, blieb dann aber am Absperrgitter stehen, als eine blau-weiße zweimotorige Britten-Norman Islander mit dröhnenden Motoren angerollt kam. Die Maschine rollte aus und kam zum Stehen, wahrscheinlich wartete sie auf die Starterlaubnis aus dem Tower hinter mir.
Wenige Sekunden später erhielt der Inselflieger seine Starterlaubnis und setzte sich wieder in Bewegung. Die Triebwerke röhrten laut auf, als der Pilot die Drehzahl erhöhte. Die Maschine fuhr die Landebahn entlang. Als die Maschine an mir vorbeirollte, konnte ich die Gesichter der Passagiere sehen. Anna war nicht darunter.
Wieso war jetzt ein Inselflieger gestartet, wo doch niemand von Juist abreisen durfte?
Ratlos lehnte ich mich mit den Unterarmen auf das Absperrgitter.
»Und jetzt?«, murmelte ich.
Ich griff in die Seitentasche meiner Hose und zog mein Handy heraus.
»Der Teilnehmer ist zurzeit nicht …« Mit einem Daumendruck beendete ich meinen Anruf.
Anna hatte ihr Handy abgeschaltet, noch nicht einmal ihre Mailbox sprang an.
Erneut stellte sich mir die Frage, was ich nun tun sollte.
Anna war sicherlich von Manfred nach Norddeich mitgenommen worden, sonst wäre sie mir auf dem Weg hierher begegnet oder ich hätte sie hier auf dem Flugplatz angetroffen. Im Flugplatzrestaurant »Sale e Pepe « konnte sie nicht sein, weil das erst in einer halben Stunde öffnete.
Erneut ertönte das dumpfe Brummen von Flugzeugmotoren.
Von links schob sich eine silberne Cessna in mein Blickfeld.
Als hätte jemand das Absperrgitter unter Strom gesetzt, fuhr ich zusammen. Das Flugzeug war mir wohlbekannt.
Manfreds Skydive! Die Maschine, in der er uns seinen Herzanfall vorgetäuscht hatte.
Ebenso wie der Inselflieger blieb die Cessna auf der Rollbahn stehen und wartete auf ihre Starterlaubnis, die anscheinend auch unmittelbar darauf kam. Der 230 PS starke Motor röhrte auf, die Maschine beschleunigte.
Ich reckte den Hals und versuchte, die Passagiere in der Kanzel auszumachen.
Dann sah ich Anna, die aus dem Fenster sah.
Unsere Blicke begegneten sich.
Mein Arm fuhr hoch und ich winkte aufgeregt. Mit traurigen Augen schaute Anna mich an. Dann verschwand sie schon wieder aus meinem Blickfeld. Die Cessna rollte langsam die Startbahn entlang.
Bedrückt ließ ich den Arm sinken.
Mir schossen jede Menge Fragen und Gedanken durch den Kopf: Im Moment konnte ich Anna telefonisch nicht erreichen. Sie war von mir enttäuscht, und ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie vorerst ihr Handy ausgeschaltet lassen würde. Ich würde erst wieder mit ihr sprechen können, wenn ich persönlich auf ihrem Hof vor ihr stand. Das allerdings würde noch dauern. Die Flüge waren bis auf Weiteres ausgesetzt. Und bevor ich überhaupt nach Norddeich fliegen würde, musste ich unbedingt zu Traute ins Hotel, um nachzuschauen, ob Leif aufgetaucht war. Von dieser Verantwortung sprachen mich auch die Geschehnisse der vergangenen Nacht nicht frei.
Aber wieso durfte Manfred starten?
Ich machte auf dem Absatz kehrt und lief im Laufschritt schräg über den Platz, hinter dem die Flugzeughalle lag, in der Philipp Albrecht und Manfred aneinandergeraten waren. Kurz darauf legte ich meinen Finger auf die Klingel und trat ungeduldig von einem Bein aufs andere, bis sich eine Stimme durch die Gegensprechanlage meldete.
»Ja, bitte?«
»Matthias Semper?«, fragte ich hastig.
»Ja, wer ist da?«
»Jan de Fries. Ich muss mal rein zu Ihnen.«
Kommentarlos schnarrte der Summer.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hastete ich die schmale Treppe hoch.
Der Fluglotse hatte sich mit seinem Drehstuhl herumgedreht und sah mich neugierig an.
»Moin«, begrüßte er mich. »Sie haben’s aber eilig.«
»Moin«, schnaufte ich leicht außer Atem. »Wieso darf Manfred starten?«
Aufmerksam musterte Matthias Semper mich, während ich den Hals reckte, um nach Manfreds Cessna zu sehen. Die Maschine bog gerade aus der Kurve auf die lang gezogene Startbahn ein.
»Weil …« Er schien zu überlegen, ob er mir meine Frage beantworten durfte, entschied sich dann aber dafür: »Manfred hat eine Sondergenehmigung.«
»Sondergenehmigung?«, wiederholte ich ungeduldig. »Von wem?«
»Von der Polizei«, antwortete er. »Eigentlich war im Flugplan ein Start von Philipp Albrecht vorgesehen. Der wurde aber gecancelt, weil die Polizei alles dicht gemacht hat. Manfred hat eine Sondergenehmigung bekommen, weil er den Gerichtsmediziner rüber nach Norddeich fliegen muss; der hatte in der ersten Maschine, die vorhin gestartet ist, keinen Platz mehr. Die war bereits voll mit Laborleuten, die hier mit ihren Untersuchungen fertig waren.«
»Und da hat er Anna mitgenommen«, stellte ich fest.
»Die Rothaarige?«
Ich nickte. »Genau.«
»Ja, ich hatte mich auch schon gewundert, dass er einen Passagier mitgenommen hat.« Der Fluglotse zuckte die Achseln. »Aber Manfred ist der Chef, dann wird’s schon seine Richtigkeit haben.«
Die Cessna hatte jetzt ihre Startgeschwindigkeit erreicht und hob im Steilflug von der Startbahn ab.
»Ich muss mit der Maschine sprechen!« Mit zwei schnellen Schritten stand ich neben dem Fluglotsen und setzte mich unaufgefordert in den leeren Drehstuhl neben ihm.
Entgeistert sah mich Matthias Semper an.
»Bitte!«, sagte ich eindringlich. »Es ist wichtig!«
Seine Augen musterten mich, dann nickte er langsam. Mit dem Daumen drückte er einen Knopf an dem Mikrofon, das er in der Hand hielt.
»Juist Tower an N-AK«, sagte er knapp.
»N-AK an Juist Tower«, kam prompt die Antwort. »Was gibt’s, Tower?«
»Juist Tower, N-AK, hier möchte jemand mit dir sprechen«, erwiderte der Fluglotse und hielt mir das Mikrofon vor den Mund, ohne es aus der Hand zu geben.
»N-AK, Juist Tower, wer denn?«
»Manfred«, sagte ich, ohne mich um die Funkdisziplin zu scheren. »Hier ist Jan.«
»N-AK, Juist Tower, Jan?« Manfreds Stimme klang verblüfft, als er antwortete.
»Gib mir Anna!«, forderte ich ihn ohne Umschweife auf.
Einen kurzen Moment war nichts zu hören. Dann rauschte es im Lautsprecher.
»Hier ist Anna«, erklang ihre Stimme.
Manfred hatte Annas Mikrofon freigeschaltet.
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Endlich konnte ich mit ihr sprechen, wenn auch auf ziemlich ungewöhnliche Weise, noch dazu mit Zuhörern.
»Anna, nur kurz: Leif ist gestern Abend verschwunden. Ich bin ihm gefolgt und dann im Dunkeln niedergeschlagen worden. Ich lag die ganze Nacht gefesselt draußen im Vogelschutzgebiet. Erst heute Morgen hat mich ein Wattführer gefunden. Ich bin sofort zu dir, aber da warst du schon weg.« Da ich wusste, dass ich über Funk keine langen Erklärungen abgeben und auch kein Schwätzchen halten konnte, ratterte ich das Wesentliche runter, ohne Luft zu holen. Wichtig war, dass Anna wusste, dass ich nicht die ganze Nacht über bei Traute gewesen war, wie sie vermutete.
Ein paar Sekunden herrschte Funkstille. Nur das dumpfe Dröhnen der Cessna ertönte über den Lautsprecher, in das sich ein lautes Zischen mischte.
»Ich bin jetzt sehr erleichtert, Jan«, erklang plötzlich wieder Annas Stimme. »Ich habe gewusst, dass du mich nicht …« Wieder ertönte das laute Geräusch, das sich anhörte, als würde Dampf aus einem Überdruckventil abgelassen.
»N-AK, Juist Tower«, meldete sich Manfred mit ernster Stimme. »Wir haben ein Problem!«
»Juist Tower, N-AK, was für ein Problem?« Der Fluglotse war in seinem Stuhl hochgefahren und sah angestrengt durch die große Frontscheibe nach oben in den Himmel.
»Scheiße!«, rief Manfred laut und missachtete jegliche Funkdisziplin.
»Juist Tower, N-AK, was ist los?«
»Ich verliere an Höhe …«
»Juist Tower, N-AK, schaffen Sie es zurück zum Flugplatz?«
»Versuche es …« Manfreds Stimme ging in einem Durcheinander von Alarmtönen unter, die wahrscheinlich von seinen Armaturen stammten.
Während Matthias Semper über Funk dafür sorgte, dass die Landebahn frei blieb, und die Rettungskräfte alarmierte, war ich von meinem Sessel hochgesprungen. Angestrengt starrte ich durch die Frontscheibe hoch in den Himmel.
Dann sah ich die Maschine. Sie zog eine helle Rauchfahne hinter sich her.
»Das sieht nicht gut aus«, sagte der Fluglotse, der ebenfalls aufgestanden war und mit dem Mikrofon in der Hand neben mir stand.
Die Cessna kam aus südlicher Richtung zurück. Manfred hatte also die Kehrtwendung geschafft. Die Maschine verlor zunehmend an Höhe.
»Juist Tower, N-AK, ihr seid zu tief!«
»Ich kriege das Scheißding … nicht hoch. Ich muss runter!«, war das Letzte, was ich von Manfred hörte.
Die Maschine legte sich auf die Seite. Dann kippte sie über die Tragfläche ab.
»Juist Tower, N-AK, die Landebahn ist für …« Mit einem Ruck riss ich die Hand des Fluglotsen, in der er das Mikrofon hielt, zu mir heran.
Im Steilflug stürzte die Cessna ins Wattenmeer.
»Anna! Alles wird gut!«, rief ich und wusste im selben Moment, dass es das nicht werden würde. »Anna – ich liebe dich! Ich will dich heiraten!«
Ob Anna meine Worte gehört hatte, würde ich nie erfahren.
Ungläubig starrte ich auf die Stelle, an der die Maschine mit Anna vom Horizont verschwunden war.
»Ja. Richtig. Wir haben einen Absturz.« Die Stimme des Fluglotsen drang wie durch eine Watteschicht an mein Ohr. »Südöstlich vom Flugplatz. Vermutlich ist die Maschine in Strandnähe ins Watt gestürzt, vielleicht auch auf den Strand. Das konnte ich vom Tower aus nicht sehen.«
Matthias Semper wechselte noch ein paar Worte mit der Rettungsstelle.
Wie in Zeitlupe drehte ich mich um und ging Richtung Treppe. Ich konnte nicht fassen, was geschehen war.
Anna war vor meinen Augen mit dem Flugzeug abgestürzt.
O mein Gott, dachte ich verzweifelt. Lass Anna den Absturz überlebt haben.
Ich stolperte die Stufen hinunter. Hinter mir rief der Fluglotse meinen Namen. Ich reagierte nicht.
Erst als ich vor dem Eingang stand und die Sonne mir in die Augen stach, realisierte ich, was geschehen war. Als würde jemand eine imaginäre große Käseglocke über mir wegheben, drang eine Woge von Empfindungen auf mich ein. Wind, Sonne, Umgebungsgeräusche und der Schmerz über das gerade Erlebte schwappten so gewaltig wie eine Sturzwelle in mein Bewusstsein, dass ich einen Moment zu taumeln begann.
Ich hielt abrupt die Luft an, riss die Augen weit auf und blieb stehen.
Es dauerte einen Moment, bis ich mich wieder gefasst hatte und atmen konnte, dann hielt mich nichts mehr. Die Verzweiflung ließ mich loslaufen. Ohne nachzudenken, rannte ich zu meinem Fahrrad und schob es im Laufschritt bis zum Absperrgitter, hob es darüber und schwang mich mit einem Satz selber über das Gitter. Dann radelte ich los.
Obwohl ich das Gefühl hatte, dass seit dem Geschehen im Tower eine Wahnsinnszeitspanne vergangen war, konnte das nicht sein, denn ich war, abgesehen von den Urlaubern, die auf ihren Flug warteten und das Geschehen am Himmel aufgeregt diskutierten, alleine auf dem Rollfeld.
Nach vorn über den Lenker gebeugt, trat ich wie ein Besessener in die Pedale und schoss quer über den Betonstreifen, der beide Rollbahnen miteinander verband. Erst der beginnende Rasen bremste mein Tempo ab. Auf dem Gras kam ich nicht ganz so schnell voran, ich schaltete ein paar Gänge höher und konnte meine Geschwindigkeit halbwegs beibehalten.
Ich kam an einer Doppelreihe auf dem Rasen abgestellter Sportflugzeuge vorbei und trat noch schneller in die Pedale, obwohl ich schon bedenklich zu keuchen begann. Nach etwa zwanzig Metern ging der kurz gehaltene Flugplatzrasen in höheres Gras über, wie es auf den Salzwiesen üblich ist.
Ich sprang vom Fahrrad ab und ließ es achtlos ins Gras fallen.
Im Laufschritt hetzte ich weiter über die Wiese. Glücklicherweise war ich in den letzten Wochen zu Hause mit Motte halbwegs regelmäßig den Deich entlanggejoggt, sodass ich die Strecke bis zur Absturzstelle zügig bewältigte.
Die Cessna war kurz vor der Uferbefestigung ins Watt gestürzt.
Durch die Wucht des Aufpralls hatte die Maschine eine Schneise in den Schlick gepflügt und war mit einer Tragfläche halb im Schlamm versunken. Die andere Tragfläche war abgebrochen, nur ein zerfetzter Stummel ragte in die Luft.
An der Uferböschung angekommen, rannte ich eine Schräge hinunter, die direkt ins Watt führte, wo die Cessna wie ein gestrandeter Wal lag.
Die Kanzel war zertrümmert, das Glas zersplittert.
In der Luft lag ein beißender Kerosingeruch. Seitlich der aufgerissenen Metallhülle der Maschine loderte Feuer.
Ein eisiger Schrecken durchfuhr mich. Ich wusste nicht, ob sich noch Kerosin in den Tanks der Cessna befand, konnte dies aber nicht ausschließen, womit akute Explosionsgefahr bestand. Und Anna befand sich in der abgestürzten Maschine!
Wenige Meter vor mir lag ein menschlicher Körper.
Ich hastete zu der Stelle, wo einer der Passagiere lag. Beim Näherkommen sah ich, dass dies nicht Anna sein konnte. Bei der schlaksigen Gestalt, die auf dem Bauch lag und sich gerade aufrappelte und dabei an einen gestrandeten Albatros erinnerte, konnte es sich nur um eine Person handeln.
»Tillmann!«, rief ich und war mit ein paar Schritten bei dem schlammverschmierten Pathologen. »Mensch, Theo, wie geht’s dir?«
Ich packte den Gerichtsmediziner, den Manfred nach Norddeich hatte fliegen sollen, beim Arm und half ihm beim Aufstehen.
»Was ist denn passiert?« Tillmann sah mich erstaunt an. »War irgendwas mit …« Er stockte. »O Scheiße, wir sind abgestürzt.«
Während ich über Tillmanns Schulter hinweg auf das flackernde Feuer sah, überzeugte ich mich blitzschnell, dass er keine sichtbaren Verletzungen hatte, die einer Ersten Hilfe bedurften: Er war noch im Vollbesitz seiner Gliedmaßen, hatte keine Arterienverletzung und schaffte es, auf eigenen Beinen zu stehen. Ich konnte ihn sich selber überlassen.
Mit beiden Händen drückte ich ihn nieder.
»Setz dich!«, befahl ich. »Ich muss zur Maschine. Du bleibst hier sitzen. Klar?«
»Klar«, antwortete er brav und sah mich noch immer vollkommen verstört an. »Wo gehst du hin?«
»Bleib sitzen, Doc«, wiederholte ich. »Ich schau nach den anderen Passagieren. Du bist hier sicher. Warte, bis der Rettungsdienst kommt. Verstanden?«
Gehorsam nickte Tillmann. »Verstanden.«
Ich ließ ihn los und rannte, so schnell ich konnte, auf das Flugzeugwrack zu, dessen Backbordseite Richtung Festland wies und an der Flammen emporleckten.
»Anna!«, rief ich laut, als ich nur noch wenige Meter von der Maschine entfernt war und bis über beide Fußknöchel im weichen Schlick versank.
»Geh da nicht ran!«, rief eine Stimme seitlich von mir. »Das Ding explodiert gleich.«
Ich drehte den Kopf und sah zwei Männer, die auf mich zuhasteten und die offenbar ebenso wie ich vom Flugplatz her angerannt gekommen waren.
Ich ignorierte die beiden und stapfte weiter durch den Schlick auf das Flugzeug zu.
»Anna!«, brüllte ich erneut, erhielt aber keine Antwort.
Ich war nur noch etwa zwei Meter von der abgestürzten Cessna entfernt, als mit einem dumpfen Grollen einer ihrer Tanks explodierte.
Eine lodernde Feuerwand stieg senkrecht vor mir empor. Die Hitze versengte meine Wimpern, und ich schlug die Hände vors Gesicht, als vor meinen Augen eine Sonne zu explodieren schien.
Die Härchen an meinen Handrücken und Unterarmen schmolzen in Sekundenbruchteilen.
Ich merkte es nicht.
Ich merkte auch nicht, dass mich beide Helfer an den Armen packten und von der Maschine zurückrissen.
»Anna!«, brüllte ich verzweifelt und versuchte mich loszureißen.
Vergeblich.
Die Männer hielten mich fest und schleiften mich zurück, weg von dem brennenden Flugzeug. Weg von Anna.
Wozu auch sollte ich mich losreißen?
Das Flugzeug stand in Flammen, vor mir loderte eine glühende Flammenwand. In der abgestürzten Cessna konnte niemand mehr leben.
Fassungslos starrte ich in das Inferno. Eine grellrote Flammenzunge stieg in den Himmel. Ein dumpfer Knall ertönte. Der zweite Tank war explodiert.
Manfred war tot.
Anna war tot.