– 20 –
Pechschwarz.
Um mich herum herrschte tiefste Dunkelheit.
Ich schloss wieder die Augen.
Aber – hatte ich überhaupt meine Augen geöffnet?
Ich konnte nicht klar denken.
Warum konnte ich nichts sehen?
Und wieso lag ich hier – wo war ich überhaupt?
Im hintersten Winkel meines Bewusstseins, das ebenfalls in tiefster Dunkelheit lag, flackerte meine Erinnerung wie ein kleines Licht auf, wie der Scheinwerfer eines herannahenden Zuges. Das Licht wurde rasend schnell größer und leuchtete gnadenlos grell mein Bewusstsein aus. Die Erinnerung an das, was geschehen war, überrollte mich, als ob der Zug alle Haltesignale ignoriert und mich mit voller Wucht erfasst hätte.
Der Schmerz, der mich erfasste, flammte in mir auf und setzte den Tunnel in Brand. Die Dunkelheit um mich herum verwandelte sich in ein loderndes Feuermeer.
Inmitten der lodernden Flammen sah ich Annas Gesicht. Sie schaute mich mit unbewegtem Gesichtsausdruck an.
»Anna!« Ich fuhr hoch, wollte aufspringen, wollte zu ihr hin.
Erneut hielten mich Hände fest. Genau wie vorher … als …
»Anna!«, stieß ich tonlos hervor. »Wo ist Anna? Was ist mit ihr?«
»Er ist wach«, sagte eine Frauenstimme.
»Ich sag dem Arzt Bescheid«, erwiderte eine zweite Stimme.
»Ganz ruhig, Herr de Fries«, sagte die angenehm warme Stimme einer Frau, während ihre Hände mich niederdrückten. »Sie müssen liegen blieben. Ganz ruhig, der Arzt kommt sofort.«
Ich versuchte, meine Augen zu öffnen, und wusste im selben Moment, dass ich blind war. Etwas Weiches lag auf meinen Augen, sodass ich meine Lider nicht öffnen konnte.
Wie lange ich schon blind war und ob ich es bleiben würde – keine Ahnung.
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was mit mir los war, weshalb ich nichts sehen konnte und wie lange dieser Zustand andauern würde: ob ein, zwei Tage, ein paar Wochen oder Monate – oder für immer.
Aber egal, was mit mir war – das Wichtigste war Anna!
»Was ist mit Anna?«, wiederholte ich. »Was ist mit ihr?«
»Der Arzt ist auf dem Weg«, sagte die Frau. »Ich bin Schwester Lena. Sie sind im Krankenhaus.«
Ich tastete nach den Händen, die mich sanft niederdrückten. »Sagen Sie mir bitte, was mit Anna ist.«
»Pscht«, machte Schwester Lena und entwand sich meinem Griff. »Bleiben Sie ruhig liegen. Sie haben einen Augenverband.«
Wieso habe ich einen Augenverband?
, dachte ich und erinnerte mich gleichzeitig an das letzte Bild, das ich gesehen hatte, bevor es schwarz um mich herum wurde: die lodernde Feuerwand aus Kerosin, die Manfreds Flugzeug einhüllte.
»Ich gebe Ihnen noch etwas zur Beruhigung«, sagte die Krankenschwester. »Entspannen Sie sich.«
Mich überkam ein wunderbar leichtes Leck-mich-am-Arsch-Gefühl. Um mich herum blieb es dunkel, sodass ich gar nicht sagen konnte, ob ich gerade wach war oder wegdöste.
»Herr de Fries.«
»Mmh«, machte ich unwillig, ich wollte weiterschlafen.
»Hören Sie mich, Herr de Fries?« Wieder spürte ich Hände, diesmal waren sie weder zart noch rücksichtsvoll, sondern fummelten in meinem Gesicht herum. »Wachen Sie mal langsam auf.«
Es dauerte einen Moment, bis ich der Aufforderung der nervenden Stimme Folge leisten konnte.
»Moin«, sagte ich mit verwaschener Stimme, meine Zunge fühlte sich an wie eine alte Socke.
»Wir setzen Sie mal etwas auf«, sagte eine junge Frau burschikos.
Geräuschlos fuhr das Kopfteil meines Bettes hoch, bis ich mich mit meinem Oberkörper in einer aufrechten Position befand. Jemand schob mir ein Kissen hinter den Kopf.
»Trinken Sie einen Schluck«, forderte die Stimme mich auf.
An meinen Lippen verspürte ich das bekannte Gefühl eines Strohhalms. Dieser hier war aus Plastik. Meine Zunge, die sich schwer wie nach einem Saufgelage anfühlte, tastete nach dem Plastikröhrchen.
Mühsam nahm ich einen Schluck.
Der lauwarme Kamillentee schmeckte nicht besonders gut, aber ich war dankbar für jeden Tropfen Flüssigkeit. Gierig saugte ich an dem Strohhalm.
»Nicht so viel auf einmal«, mahnte mich die Stimme, die ich jetzt als eine andere Frauenstimme als die der Krankenschwester erkannte.
»Ich bin Frau Doktor Hansen«, sagte die Stimme. »Ich bin die Stationsärztin hier.«
»Wo genau bin ich?«, wollte ich wissen.
»Sie sind noch in der Unfallchirurgie in Emden«, lautete die Antwort. »Der Rettungshubschrauber hat sie hergebracht. Sie waren eine Zeit lang bewusstlos. Gleich kommt ein Kollege vom Augenzentrum und schaut sich ihre Augen an. Aber keine Angst, es scheint nichts Schlimmes zu sein. Aber Sie haben Verbrennungen an den Augenbrauen und Wimpern wie im ganzen Gesicht. In solchen Fällen stellen wir erst einmal die Augen ruhig, bis ein Facharzt sich das ansieht.«
»Was ist mit Anna?«, fragte ich erneut.
Die Unfallärztin zögerte einen Moment, bevor sie antwortete. »Bei dem Flugzeugabsturz heute Morgen ist eine Frau ums Leben gekommen. Ihre Identität muss erst noch von der Gerichtsmedizin …«
Den Rest hörte ich nicht mehr.
Obwohl ich gewusst hatte, dass Anna noch in dem Flugzeug war, hatte ich mich bis zu diesem Moment an die Hoffnung geklammert, dass sie es vielleicht noch geschafft hatte, das Wrack zu verlassen, bevor es in Flammen aufging. Diese Hoffnung hatten die Worte der Unfallärztin unwiderruflich zerstört.
Anna war tot.
Mich brachte der Schmerz fast um den Verstand. Ich hatte das Gefühl, als wäre gerade mein Herz in tausend Scherben zersprungen. Der Schmerz war nicht auszuhalten.
Nie wieder würde ich in ihre Augen sehen, ihre Lippen küssen und sie umarmen. Nie wieder würden wir zusammen lachen …
Ich stieß einen dumpfen Laut aus und wandte den Kopf ab. Ich spürte, wie mein Augenverband nass von meinen lautlosen Tränen wurde.
Erneut hielten mich Hände fest, als ich versuchte aufzustehen.
Die Unfallärztin sagte etwas zu der Krankenschwester, worauf ich erneut schläfrig, aber auch ruhiger wurde.
»So ist es gut«, hörte ich.
Blind starrte ich in die Dunkelheit. Ob ich die Augen geöffnet oder geschlossen hatte, spielte keine Rolle. Nichts spielte mehr eine Rolle.
Anna war tot.
Es war meine Schuld, dass Anna tot war!
Wäre ich nicht los, um Traute zur Seite zu stehen, wäre ich nicht in die Verpflichtung geraten, auf Leif aufzupassen. Die nächtliche Verfolgung hätte ebenso wenig stattgefunden wie meine Zwangsübernachtung in der Aussichtshütte. Statt dass Anna mit dem ersten möglichen Flieger die Insel verlassen hätte, wären wir eng umschlungen bis weit in den Vormittag hinein im Bett geblieben, und ich hätte vielleicht den Mut aufgebracht, sie zu fragen, ob sie mich heiraten wollte.
Zu spät.
Jetzt war es zu spät für all das.
»Was ist mit den anderen beiden?«, brachte ich mühsam mit schwerer Zunge hervor.
»Den Kollegen Tillmann haben Sie ja in Sicherheit gebracht«, antwortete die Ärztin. »Dem geht’s wieder gut. Er ist schon wieder entlassen.«
»Und Bendix?«
»Der Pilot hat sich bei dem Absturz beide Beine gebrochen. Er ist auch hier in der Unfallchirurgie, er liegt nebenan ein Zimmer weiter.«
Bendix und Tillmann hatten den Absturz der Cessna überlebt. Nur Anna war gestorben.
Warum?,
schrie es in meinem Innern auf.
Warum gerade sie?
Diese Frage war unmoralisch, egoistisch und unfair! Niemand hat das Recht, ein Leben gegen ein anderes aufzuwiegen, geschweige denn jemandem den Tod zu wünschen. Und doch tat ich es.
Wäre doch jemand anders gestorben. Nur nicht Anna!
Meinetwegen hätte mein Angreifer mir einen Pfeil in den Kopf schießen können, wenn Anna nur nicht in dieses gottverdammte Flugzeug gestiegen wäre.
»Ruhen Sie sich noch einen Moment aus«, riet die Ärztin, und ich spürte, wie mich ein seliges Gefühl von Gleichgültigkeit überkam. Übergangslos glitt ich in einen traumlosen Schlaf.
»Herr de Fries!« Erneut weckte mich eine Stimme aus meiner Luftblase, die frei von Erinnerungen und Schmerz war.
Wieder reagierte ich ungehalten. Ich wollte nicht aufwachen. Nicht jetzt und nicht in der Zukunft.
Da die Unfallärztin, deren Namen ich im Schlaf vergessen hatte, zum einen nicht aufhörte, mich zu stören, und zum anderen offenbar die Infusion mit dem Beruhigungsmittel zugedreht hatte, wurde ich wach.
»Der Augenarzt ist da, Herr de Fries«, sagte sie, und ich spürte eine neue Hand an meinem Oberarm, diesmal größer und schwerer als die vorherigen.
»Mein Name ist Tokken«, stellte sich eine männliche Stimme vor. »Ich bin der Augenarzt.«
Ich nickte ergeben.
»Ich nehme Ihnen jetzt mal den Verband ab«, kündigte er an. »Keine Sorge, das tut nicht weh.«
Während der Augenarzt vorsichtig die ersten beiden Lagen Verbandmull abwickelte, wurde es zunehmend heller um mich herum.
Erleichtert atmete ich auf. Wenn ich Licht sehen konnte, war ich nicht blind.
»Jetzt noch die beiden Augenkompressen. Behalten Sie aber die Augen noch geschlossen«, befahl er mir.
Licht stach mir schmerzhaft durch beide Lider, als mir der Arzt wie angekündigt die Kompressen von den Augen nahm.
»Das sieht nicht schlecht aus«, stellte die Unfallärztin fest. »Ich hab’s ja schon gesehen, als Sie eingeliefert wurden, also ich
bin ganz zufrieden. Ein bisschen rot von den Verbrennungen und bunt von den stumpfen Einwirkungen, aber das wird gut abheilen. Ich glaube, es werden noch nicht einmal Brandnarben zurückbleiben. Sie haben einen Schutzengel gehabt.«
»Der hätte besser auf Anna aufgepasst«, erwiderte ich bitter.
Wortlos begann der Augenarzt mit seinem Teil der Untersuchung. Auch die Stationsärztin schwieg einen kurzen Moment und legte dann ihre schmale Hand auf meinen Handrücken.
»Was geschehen ist, ist geschehen.« Ihre Stimme war einfühlsam und strahlte große Ruhe aus, als sie auf meine Bemerkung antwortete. »Trauer und Schmerz erfüllen Sie jetzt. Sie haben das Gefühl, den Schmerz nicht aushalten zu können. Dieser Schmerz wird Sie noch lange begleiten, ebenso die Trauer. Sagen Sie trotzdem Ja zum Leben.«
Ich schwieg.
Ich konnte vor Trauer um Anna keinen klaren Gedanken fassen, der Schmerz hatte sich in jede Faser meines Körpers gefressen. Aber obwohl ich Schmerz und Trauer spürte, hatte ich noch nicht wirklich realisiert, dass es Anna nicht mehr geben sollte … dass sie tot und für immer weg sein sollte.
Ich hatte das Gefühl, als ob mein ganzes Leben aus der Bahn geworfen wurde. Aber gerade jetzt, wo ich nicht klar denken konnte, war es wichtig, zu versuchen, meine Gefühle in den Griff zu bekommen und mich zu konzentrieren.
Die Ärztin hatte recht. Es war richtig, Ja zum Leben zu sagen. Aber im Moment war mir nur eines wichtig – zu begreifen, wie das alles geschehen konnte. Denn sollte sich herausstellen, dass es einen Verantwortlichen, einen Schuldigen dafür gab, dann gnade ihm Gott.
Denn neben meinem Schmerz um Annas Tod spürte ich unbändigen Hass auf das Schicksal – oder auf denjenigen, der ihren Tod verschuldet hatte. Im Moment verstand ich nur
allzu gut, wie Menschen aus Rache selber zum Mörder werden konnten.
Die Aufforderung des Augenarztes, meine Lider zu heben, riss mich aus meinen – ja, ich gebe es zu – Rachegedanken, die ich hegte und die in dieser Form neu für mich waren. Aber ich hatte mich auch noch nie in einem solch emotionalen Ausnahmezustand befunden. Ich bezweifelte in diesem Moment, jemals darüber hinwegzukommen, dass ich Anna nicht aus dem brennenden Flugzeugwrack hatte retten können.
Ich folgte dem Arzt und öffnete langsam meine Augen zu Schlitzen und blinzelte vorsichtig. Der Arzt hatte zwar die Untersuchungslampe ausgeschaltet, doch bereits das Deckenlicht genügte, um ein schmerzhaftes Stechen in meinen Augen zu verursachen und sie zum Tränen zu bringen. Durch den Tränenschleier hindurch nahm ich verschwommen die Konturen zweier Personen wahr.
»Hier, nehmen Sie.« Die Ärztin drückte mir eine weiche Kompresse in die Hand.
Nachdem ich mir die Augen trocken getupft hatte, konnte ich die beiden Personen halbwegs erkennen.
»Können Sie uns sehen?«, fragte der Arzt, der mir gegenübersaß und mich durch seine schwarze Hornbrille hindurch aufmerksam musterte.
»Ja«, antwortete ich erleichtert. Es war schrecklich gewesen, aufzuwachen und nichts sehen zu können, noch nicht einmal zu wissen, ob man jemals wieder sehen konnte.
»Fein.« Zufrieden klopfte mir der junge Arzt auf den Unterarm. »Wir machen jetzt noch ein paar Tests. Wenn unser Chefarzt sich dann Ihre Befunde angeschaut hat, wird er entscheiden, ob Sie bei uns bleiben oder rüber ins Augenzentrum verlegt werden. Die haben dort auch Betten, das heißt, dass Sie direkt bei den Spezialisten stationär aufgenommen und behandelt werden können, sofern dies notwendig ist.«
»Wie wäre es, wenn Sie mich einfach entlassen?«, wollte ich wissen, denn auch wenn ich mich schlapp und gerädert fühlte, als hätte man mich gerade kielgeholt, brannte ich darauf, mich auf die Suche nach der Ursache des Flugzeugabsturzes zu machen.
»Hm«, machte der Augenarzt, während er mir einen kalten metallischen Gegenstand an den Augapfel drückte: »Wir müssen erst noch ein paar Sehtests machen. Dann schauen wir weiter.«
Nachdem die Ärzte ihre Untersuchungen beendet und sich auf den Weg zur Besprechung mit ihren Chefs gemacht hatten, lag ich in dem Krankenbett und starrte zur Decke, deren Fliesen ich immer schärfer wahrnahm. Konnte ich zuvor nur eine durchgängige milchig weiße Fläche erkennen, kristallisierten sich jetzt die einzelnen Platten und Fugen heraus.
Ich schloss die Augen und hörte mit wachsender Ungeduld dem Ticken der Wanduhr zu.
Wahrscheinlich machen alle gerade Mittagspause
, dachte ich nach ein paar Minuten verbittert und riskierte einen Blick auf die penetrant tickende Uhr an der Stirnwand mir gegenüber. Positiv überrascht stellte ich fest, dass ich nicht nur die Zeiger, sondern sogar die Ziffern erkannte.
Manfred liegt ein Zimmer weiter
, hatte die Stationsärztin gesagt.
Nur ein Zimmer weiter!
Ob er schon ansprechbar war? Ich musste schnellstens mit ihm sprechen.
Nur Manfred konnte mir sagen, was im Flugzeug passiert war, und er würde mir einige Fragen beantworten müssen. Besonders die Frage, wieso er binnen zweier Tage zweimal abgestürzt war.
Das war kein Zufall!
, dachte ich und verspürte noch dringender als nach seiner vorgetäuschten Herzattacke das dringende Bedürfnis, ihm auf den Zahn zu fühlen. Und zwar so
intensiv, dass ihm eine Wurzelbehandlung ohne Betäubung wie eine Wellnessanwendung vorgekommen wäre.
Natürlich würde erst eine technische Untersuchung des Luftfahrtbundesamtes die genaue Absturzursache feststellen. Aber genau genommen stand es schon jetzt für mich außer Frage, dass es sich um einen Mordanschlag gehandelt hatte. Immerhin hatte ich den Funkverkehr und Manfreds vergeblichen Versuch, die Maschine in der Luft zu halten, hautnah miterlebt, und mein Bauchgefühl hatte mich noch nie getrogen.
Bereits nach seiner ersten unfreiwilligen Notlandung hatte Manfred angedeutet, dass er sich denken konnte, welcher technische Defekt ihn zur Landung gezwungen hatte. Ich war nur nicht mehr dazu gekommen, nachzuhaken, weil seine Co-Pilotin Rita Albrecht kollabiert war.
Für mich lag die Vermutung nahe, dass der Täter es in beiden Fällen ausschließlich auf Manfred abgesehen hatte. Es konnte kein Zufall sein, dass Manfred binnen weniger Tage zu einer spektakulären Notlandung und einem Absturz gezwungen worden war.
Ich hob meinen Arm an und betrachtete die Braunüle an meiner Hand, die mit einem Pflaster fixiert war und von der ein durchsichtiger Infusionsschlauch zu einer Flasche mit Kochsalzlösung führte, die an einem verchromten Ständer hing. Ein zweiter Schlauch ging von einem leise summenden kleinen Gerät direkt zu einem Anschlussstück, das zu meiner Hand mit der Braunüle führte. Offenbar pumpte mir das Gerät irgendein Medikament in meine Adern. Spontan und ohne lange zu überlegen, unterbrach ich mit Daumen und Zeigefinger den Zufluss des Gerätes zu meiner Vene. Den Zeigefinger der anderen Hand legte ich auf einen hinter einer durchsichtigen Plastikfolie befindlichen Abschnitt des Infusionsschlauches und drückte zu. Die Betriebslampe des Geräts erlosch.
Langsam setzte ich mich auf.
Ich wartete, bis mein leichter Schwindelanfall abgeklungen war, und hob mühsam die Beine aus dem Bett. Etwas zittrig stellte ich mich auf die Füße, löste das Pflaster von meiner Hand und zog vorsichtig die Braunüle aus meiner Vene. Da ich den Perfusor ausgeschaltet hatte, fiel nur noch ein letzter Tropfen auf den Boden. Mit der Kompresse drückte ich auf die Einstichstelle, sodass ich nicht wieder eine Blutspur hinter mir herzog, wie damals, als ich mich schon einmal selber aus dem Krankenhaus entlassen hatte.
Auch heute hatte ich wieder lediglich ein Flügelhemd an.
Diesmal aber würde ich nicht mit nacktem Hintern durch den Krankenhausflur schleichen. Barfuß tapste ich über den kalten Linoleumboden zum Kleiderschrank. Meine Anziehsachen hingen fein säuberlich auf Kleiderbügeln im Schrank.
Ich knüllte mein Krankenhaushemd zusammen und warf es quer durch den Raum aufs Bett. So schnell es mir möglich war, zog ich meine eigenen Klamotten an. Auf dem Weg zur Tür kam ich am Waschbecken vorbei und warf einen Blick in den Spiegel.
Erschrocken zuckte ich zusammen, als ich mein Spiegelbild sah.
Ich sah aus, als wäre ich in der Mittagssonne Australiens am Whitehaven Beach eingeschlafen, ohne mich vorher einzucremen: knallrotes Hummergesicht mit Brandblasen, die mich wie ein Opfer der Beulenpest aussehen ließen. Ich glänzte wie eine Speckschwarte, da man mich in der Erstversorgung intensiv mit Brandsalbe eingeschmiert hatte. Rund um die Augen herum sah ich aus wie die große Ausgabe eines Nacktmulls, ohne Wimpern und mit abgesengten Augenbrauen.
Bereitwillig kehrte ich dem Monster im Spiegel den Rücken und ging zur Tür.
So leise ich es vermochte, drückte ich die Klinke hinunter, schob die graue Tür einen Spalt auf und lugte vorsichtig hinaus.
Keinesfalls wollte ich jemandem vom Pflegepersonal oder den Ärzten in die Arme laufen.
Der Gang zu meiner rechten Seite war leer. Links, am Gangende, stand ein metallener Essenswagen, dessen beide Türen offen standen. Offenbar war das Pflegepersonal mit der Verteilung fast fertig und versorgte gerade noch die Patienten im hintersten Zimmer mit einem Tablett.
Ich schob die Tür auf und trat auf den Gang hinaus.
Die Luft war erfüllt von den üblichen Krankenhausaromen: Desinfektions- und Reinigungsmittel, Kaffee- und Teegeruch aus der Stationsküche und der Geruch nach dem Mittagessen, das gerade verteilt wurde.
Es waren nur ein paar Schritte bis zum Nachbarzimmer.
Ohne anzuklopfen, drückte ich die Klinke hinunter und zog die Tür auf. Im Zimmer roch es nach Desinfektionsmitteln und Gulasch. Geräuschlos zog ich die Zimmertür hinter mir zu.
Manfred starrte mich ungläubig an. Die Hand mit der Gabel, auf der ein Stück Fleisch steckte, verharrte bewegungslos in der Luft, als sei er gerade zur Salzsäule erstarrt.
Wortlos durchquerte ich mit langsamen Schritten das Zimmer. Neben Manfreds Krankenbett blieb ich stehen.
Noch immer starrte er mich mit weit aufgerissenen Augen an.
Der Flugzeugabsturz hatte Manfred ganz schön mitgenommen: Beide Beine waren von den Füßen bis hoch zu den Oberschenkeln mit Gipsschienen ruhiggestellt. Zum Essen hatten die Schwestern das obere Bettteil hochgefahren und ihm den Tabletttisch essgerecht hingedreht. Auf Manfreds Stirn prangte eine gigantische Beule, und auch die tiefen Augenringe zeugten davon, dass er ziemlich angeschlagen war.
Mein Mitgefühl hielt sich dennoch in Grenzen. Manfred hatte unübersehbare Blessuren, aber er lebte.
Anna war tot.
»Jan …« Die Hand mit der Gabel sank wenige Zentimeter und blieb dicht neben seinem Mund in der Luft stehen. »Mensch, du siehst aber scheiße aus.«
Offenbar brauchte Manfred nicht lange, um seine Überraschung zu verarbeiten. Sein Mund klappte auf und er schob sich die Gabel mit dem Gulaschstück in den Mund. Laut und vernehmlich begann er zu schmatzen.
»Wer will dich umbringen?«, kam ich direkt zur Sache.
»Grmpf …«, machte Manfred und hustete laut.
Mit der Gabel in der Hand griff er nach dem Glas Wasser, das neben seinem Teller stand, und nahm einen großen Schluck. Nachdem er noch zweimal gehustet hatte, fischte er ein neues Stück Fleisch von seinem Teller und steckte es sich in den Mund, anstatt mir eine Antwort zu geben.
»WER will dich UM-BRIN-GEN?«, wiederholte ich mit leiser Stimme, jede Silbe einzeln betonend.
Ich trat so nah an Manfreds Bett heran, dass er versuchte, mit seinem Oberkörper ein Stück von mir wegzurücken, was ihm nicht gelingen konnte, da seine Beine im Gipskorsett fixiert waren.
»Jan …«, sagte er beschwichtigend und wedelte mit der Gabel vor meinem Gesicht herum. »So kann man das nicht sagen. Es ist noch nicht klar, was die Absturzursache ist, und wir müssen …«
Mit einer kurzen Handbewegung schlug ich ihm die Gabel aus der Hand, die quer durch den Raum flog und klirrend gegen den Einbauschrank prallte.
Ungläubig starrte Manfred zuerst auf seine Hand und dann auf mich. »Also, Jan … du kannst doch nicht …«
»Manfred«, sagte ich mit nur mühsam unterdrückter Wut. »Und ob ich kann! Keine Spielchen mehr. Sag mir, wer dich umbringen will.«
»Du siehst das von deiner Warte aus«, wich er erneut aus. »Es steht doch noch gar nicht fest, ob …«
Mit einer Handbewegung fegte ich seinen Teller mitsamt Glas und Wasserflasche von seinem Tablett. Mit lautem Klirren zerbarsten Teller und Glas auf dem Fußboden. Die Reste von Manfreds Mittagessen verteilten sich quer durch den Raum.
Mir war klar, dass das Geschepper nicht unbemerkt geblieben war und es sich nur um eine Frage der Zeit handelte, bis jemand vom Pflegepersonal nach dem Rechten schauen würde.
Schnell schnappte ich mir den an der Wand hängenden Bademantel und zog den Gürtel aus den Schlaufen, den ich zu einer Zugschlinge knöpfte, die ich an der Türklinke befestigte. Da der Bademantelgürtel nicht ausreichte, schnappte ich mir noch die beiden Handtücher vom Waschbecken, das sich gleich neben der Tür befand und verknüpfte diese mit dem Gürtel. Das improvisierte Frotteeseil schlang ich um den Wasserhahn. Skeptisch beäugte ich meine Konstruktion, die sicherlich nicht lange halten würde, mir aber zumindest einen zusätzlichen Moment verschaffen würde, in dem ich Manfred auf den Zahn fühlen konnte.
Ich drehte mich zu Manfred um und ging wieder langsam auf sein Bett zu. Wortlos zog ich mit einem Ruck das Kabel des Notrufgeräts aus der Wand, das sich Manfred gerade hatte angeln wollen, als ich mit der Tür beschäftigt war.
Ich beugte mich über ihn und sah ihn kalt an. »Anna ist tot.«
»Jan …«, keuchte er ängstlich und wich in seine Kissen zurück. »Ich weiß, es tut mir leid …«
»Anna ist tot und du liegst hier und lässt es dir in aller Seelenruhe schmecken.« Ohne den Blick von Manfred abzuwenden, griff ich nach dem Joghurtbecher, der umgefallen war und an der Kante des Tabletttisches lag.
Aus dem Handgelenk heraus schleuderte ich Manfreds Nachtisch an die Fensterscheibe, wo der Plastikbecher zerplatzte und sein erdbeerfarbener Inhalt unappetitlich das Glas hinunterlief.
»Sie starb, als auch das zweite Flugzeug von dir innerhalb von zwei Tagen abstürzte. Jemand hat es auf dich abgesehen. Und dieser jemand ist Annas Mörder!« Ich beugte mich noch ein paar Zentimeter tiefer, sodass Manfred mir nicht mehr ausweichen konnte. »Du sagst mir jetzt, wer hinter dir her ist!«
Manfred presste die Lippen aufeinander. Sein Mund war ein schmaler Strich.
»Wer?« Meine Stimme klang scharf wie die Scherben des Geschirrs, das auf dem Boden lag.
»Ich muss da rauskommen …« Manfreds Stimme nahm einen flehenden Ton an. »Irgendwie … sonst bin ich erledigt.«
»Das bist du sowieso!«, entgegnete ich kalt. »Du hast bereits bei deiner ersten Notlandung gesagt, dass dich die Aktion ruinieren würde. Da frage ich mich natürlich, wieso. Und jetzt der Absturz. Es gab eine Tote. Anna!«
»Jan … versteh doch …«
»Nein. Ich verstehe nicht. Ich will auch gar nicht verstehen. Anna ist tot, und ich schwöre dir bei allem, was mir heilig ist: Ich zerre dich vors Gericht und verklage dich, bis du Blut spuckst! Dir wird nichts mehr bleiben. Ich ruiniere dich!«, flüsterte ich so dicht an seinem Ohr, dass er meinen Atem spüren musste.
Manfreds Körper spannte sich an. Mit beiden Händen versuchte er, die Bettdecke hochzuziehen, so als sei ihm ein böser Geist erschienen und er müsse sich nur unter der Bettdecke verstecken, damit ihn der Geist nicht sah.
Aber die Vogel-Strauß-Taktik half ihm heute nicht.
»Ich weiß es nicht«, sagte er dann mit leiser Stimme. »Ich … habe nur …«
»Wen hast du in Verdacht?«, zischte ich ihn an. »Raus damit!«
Manfred presste seinen Kopf ins Kissen, versuchte mir noch immer auszuweichen.
Meine Hand schnellte vor, mit hartem Griff packte ich ihn an der Gurgel. »Zum letzten Mal«, warnte ich ihn. »Raus damit. Ist es Albrecht, dein Kompagnon?«
»Lass mich los!« Manfred versuchte, sich meinem Griff zu entziehen, und begann zu keuchen. »Wieso weißt du …?«
»Weil er sehr besorgt darüber war, dass dein Gespräch im Flugplatzrestaurant erfolgreich war. Ich schätze mal, dass du dich tatsächlich mit einem Investor getroffen hast, genau wie Leif sagte. Und ich glaube, dass dein Geschäftspartner mit dem Ergebnis nicht zufrieden war. Schon vergessen, dass er dir an die Kehle gegangen ist, hinten in dem kleinen Büro im Hangar? So wie ich jetzt«, sagte ich, ohne meinen Griff an seiner Kehle zu lockern.
»Lass los«, schnaufte er mühsam. »Ich rede ja.«
»Na, denn.« Mit einem Ruck löste ich meinen Griff, stützte mich aber mit dem Ellbogen drohend auf seiner Brust ab.
Endlich hatte ich ihn so weit, dass er mit der Sprache herausrückte, da wollte ich ihm so wenig Spielraum wie möglich lassen. Jeden Moment konnte jemand vom Pflegepersonal hereinkommen. Und wenn nicht, was sollte ich sonst machen, um ihn zum Reden zu bringen? Obwohl ich voller Hass auf den Mörder war und die Wut auf Manfred und sein ständiges Herumlavieren in mir tobte, würde ich ihm keine Gewalt antun – so ein Mensch war ich nicht.
Glücklicherweise wusste Manfred das aber nicht, sondern schien mir im Moment so einiges zuzutrauen.
Gut so
, dachte ich.
Mach dir ruhig in die Hosen, aber rede endlich!