– 21 –
»Phil«, presste Manfred heraus und nickte mit hochrotem Kopf. »Ja, ich glaube, dass es Philipp ist, der die Maschinen manipuliert hat.«
»Wie hat er das gemacht?«, hakte ich sofort ein.
»Ich bin nicht sicher …« Er schüttelte den Kopf. »Beim Inselhüpper steht noch das Gutachten aus.«
»Aber du hast eine Vermutung!«, fuhr ich ihn an. »Nach deiner Notlandung hat deine Co-Pilotin von Problemen mit den Tanks gesprochen.«
»Hat sie das?«, ächzte Manfred.
»Hat sie!«, stellte ich klar. »Also. Was war mit den Tanks?«
»Na, ich hatte schon beim geraden Reiseflug gemerkt, dass etwas nicht stimmte.«
»Was ist das, ein gerader Reiseflug?«, wollte ich wissen.
»Na, wenn du weder steigst noch sinkst, sondern mit deiner Reisegeschwindigkeit waagerecht auf dem künstlichen Horizont liegst«, erklärte Manfred, für einen Moment wieder ganz Fluglehrer.
»Verstehe«, drängte ich ungeduldig. »Und was stimmte nicht?«
»Der Motor stotterte, beziehungsweise die Motorenleistung war nicht konstant, sondern setzte ein paarmal kurzfristig aus, bis …«
Jemand drückte die Türklinke hinunter. Als sich die Tür nicht öffnen ließ, ertönte ein lautes Klopfen.
»Hallo!«, rief eine weibliche Stimme entrüstet. »Was ist denn da drinnen los? Machen Sie sofort die Tür auf!«
Ich warf einen besorgten Blick auf meine Gürtel-Handtuchkonstruktion. Im Augenblick hielt meine improvisierte Blockade. Aber sicherlich nicht sehr lange, wenn jemand kraftvoll von draußen an der Tür zerren würde. Was aber im Moment niemand tat.
Die Frau auf dem Gang, bei der es sich wahrscheinlich um eine Krankenschwester handelte, beschränkte sich darauf, an der Türklinke zu rütteln und gleichzeitig gegen das Holz zu klopfen.
»Also, der Motor setzte aus und du musstest notlanden«, griff ich Manfreds Worte auf.
Manfred antwortete nicht, sondern sah erwartungsvoll zur Tür, gegen die zunehmend heftig geklopft wurde.
»Kümmere dich nicht um die Tür«, befahl ich und verlagerte mein Körpergewicht stärker auf meinen Ellbogen, der auf Manfreds Brust lag. »Warum hat der Motor ausgesetzt, war was mit der Benzinpumpe?«
Manfred gab ein röchelndes Stöhnen von sich, als mein Gewicht ihm die Luft aus der Lunge presste. Bevor er wieder einen Hustenanfall bekam, nahm ich den Druck leicht weg, damit er antworten konnte.
»Kerosin«, keuchte er. »Flugzeuge fliegen mit Kerosin, nicht mit Benzin.«
»Klugscheißer!«, erwiderte ich barsch. »War was mit der Pumpe?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Der Inselhüpper ist auch eine Cessna, so eine, wie du geflogen bist. Die haben keine Treibstoffpumpe.«
»Sondern?«
»Die Triebwerke laufen durch ein Gravity-System«, erklärte er. »Das ist reine Schwerkraft. Die Tanks sind so hoch angebracht, dass der Treibstoff keine Pumpe braucht, sondern durch die normale Schwerkraft zu den Triebwerken läuft.«
»Und wieso kann es da Probleme geben?«, fragte ich. »Die Schwerkraft hat ja wohl kaum ausgesetzt.«
Manfred grinste schief. »Nee, wohl kaum. Wenn aber etwas mit der Tankbelüftung nicht stimmt, dann kann es kritisch werden. Wenn der ablaufende Treibstoff nicht durch Volumen, also Luft ersetzt wird, kann das Triebwerk aussetzen.«
Eine Horrorvorstellung.
Mir lief es kalt den Rücken hinunter, als ich mir vorstellte, dass solch ein verhältnismäßig kleiner Defekt ein Flugzeug abstürzen lassen kann. Da lag ich mit meiner Flugangst wohl doch nicht so ganz falsch.
Ich hatte immer gedacht, dass die lebensnotwendigen Elemente in einem Flugzeug doppelt vorhanden oder gesichert waren.
»Wie kann so etwas passieren?«, fragte ich deshalb. »Es kann doch nicht sein, dass durch eine solch simple Störung gleich ein Flugzeug vom Himmel fällt.«
Manfred zuckte kurz mit der freien Schulter, die ich nicht mit meinem Gewicht blockiert hatte. »Tut’s ja auch nicht«, behauptete er. »Die Belüftung kann vereisen oder sonst wie mechanisch blockiert sein. Aber das ist auch kein großes Problem. Man hat ja noch die Check Valves, also die Rückschlagklappen, damit Luft hinein-, aber kein Treibstoff rausläuft, und dann natürlich auch noch die Notventile in den Tankdeckeln.«
Draußen vor der Tür wurden Stimmen laut. Zu der Frau hatte sich eine weitere hinzugesellt. Beide diskutierten laut, wie man denn nun die Tür aufbekäme.
»Und wieso musstest du dann notlanden, wenn du Klappen, Ventile und allen möglichen anderen Kram an Bord hattest? Jetzt rede doch endlich!«
Mir lief die Zeit davon. Noch hielt meine Blockade, aber nicht mehr lange.
»Weil …«, Manfred machte eine vielsagende Pause, bevor er weitersprach, nachdem ich mich wieder auf ihn aufstützte, »… möglicherweise jemand ebendiese Notklappen manuell blockiert hat.«
»Und das geht einfach so?« Ungläubig sah ich ihn an.
Manfreds Gesicht war mittlerweile puterrot angelaufen, weil ich ihm schwer auf der Brust lag. Ich nahm wieder etwas Gewicht weg, was ihn hörbar nach Luft schnappen ließ.
»Im Grund ja. Wenn man etwas Bescheid weiß …« Wieder machte er ein paar schnelle Atemzüge. »Etwas Dreck drauf, Lehm oder Schlick. Trocknen lassen. Fertig. Oder Sekundenkleber. Das geht immer.«
»Aber ich denke, der Pilot macht vorm Abflug einen Check und schaut sich die Maschine ganz genau an.«
»Alles eine Frage des Timings«, keuchte Manfred angestrengt. »Wenn ich die Maschine gecheckt habe, ist sie startklar. Das bleibt sie üblicherweise auch, wenn ich noch mal pinkeln muss.«
»Das heißt, du hast die Maschine gecheckt und bist dann zum Klo gegangen?«
»Das ist die Natur«, ächzte Manfred. »Da machste nix.«
»Und in der Zeit konnte jeder, der Lust verspürte, an deiner Maschine herummanipulieren?«
Manfred antwortete mit einem gequälten Stöhnen.
Annas Tod war eine Tragödie. Und doch war es lediglich ein Zufall gewesen, dass sie in der manipulierten Maschine gesessen hatte. Und natürlich der Umstand, dass sie dachte, ich sei die ganze Nacht bei Traute gewesen. Wäre ich nicht zu Traute gefahren, hätte sie mich nicht bitten können, ein Auge auf Leif zu werfen. Wäre ich dieser Bitte nicht nachgekommen, hätte es den Überfall auf mich nicht gegeben, und ich hätte die Nacht gemeinsam mit Anna verbracht.
Hätte, wenn und aber …,
dachte ich verbittert.
Der klassische kausale Zusammenhang. Fahre ich fünf Minuten später mit dem Auto los, fahre ich nicht den Menschen tot, der mir vors Auto gelaufen wäre, wenn ich pünktlich losgefahren wäre.
Mit Mühe riss ich mich von diesen Gedanken los und sah erneut zur Tür, an der wieder laut geklopft wurde. Zu den beiden Frauen war eine Männerstimme hinzugekommen. Jetzt wurde es richtig eng.
»Warum verdächtigst du deinen Geschäftspartner?«, wechselte ich das Thema.
Manfred klappte den Mund zu. Durch das zunehmende Gehämmere an der Tür witterte er Morgenluft und schaltete um auf störrisch.
»Im Grund ganz einfach.« Wie beiläufig zuckte ich mit den Schultern, als wäre das, was ich gerade sagte, so simpel wie alltäglich. »Philipp, Milan und du wart Geschäftspartner. Milan, der erfolgreiche Sonnyboy mit dem florierenden Reiseportal, Philipp Albrecht, der gewiefte Geschäftsmann, und du, der alte Fluglehrerhase, mit seinen zwei Maschinen.«
Ich ließ meine Worte auf Manfred wirken und beobachtete seine Reaktion, die der eines ertappten Schülers glich, der während einer Klassenarbeit beim Spicken erwischt worden war.
»Dummerweise läuft das Reiseportal nicht so gut, wie Milan euch glauben machen wollte. Es lief sogar so schlecht,
dass er Traute um Geld anpumpen musste«, ließ ich einen Versuchsballon steigen, um Manfred aus der Reserve zu locken.
Der stierte dumpf vor sich hin und lauschte zur Tür hinüber.
»Hallo!«, rief jetzt eine energische Männerstimme. »Wenn Sie nicht sofort die Tür öffnen, brechen wir sie auf. Das gibt Ärger!«
»Und du warst mit einem Investor verabredet, der in die Inselfluglinie einsteigen sollte«, ließ ich den zweiten Versuchsballon von der Leine.
»Wird er auch noch!« Plötzlich kam Leben in Manfred, so als hätte der reine Gedanke an einen Investor als geschäftlichen Lebensretter ihm neuen Kampfgeist eingehaucht.
Mit der freien Hand schlug er nach mir.
Ich wich aus, wurde aber von seiner Handkante schmerzhaft am Ohr getroffen. Bevor ich mich zur Wehr setzen konnte, sah ich aus den Augenwinkeln, wie sich die Tür um ein paar Zentimeter öffnete.
Es konnte sich jetzt nur noch um Sekunden handeln, bis das Pflegepersonal im Zimmer stand und es den von der Männerstimme angekündigten Ärger gab.
Ich stieß mich schwungvoll mit dem Ellbogen von Manfreds Brustkorb ab. Mein Verhör konnte ich an dieser Stelle getrost abbrechen. Von Manfred kam ohnehin nichts mehr, dafür war er einfach zu störrisch. Außerdem wollte er nicht gänzlich mit der Sprache herausrücken.
Auch wenn ich ihm jedes Wort einzeln aus der Nase hatte ziehen müssen und er sich wand wie ein Aal auf dem Trockenen, formte sich für mich ein Bild: drei Geschäftspartner, große Pläne, dünne Kapitaldecke, ein naiver Manfred, der sich mit seinen beiden Flugzeugen in eine vermeintlich größere Geschäftsidee einbrachte und feststellen musste, dass ihm der Wind von vorne um die Nase wehte.
Mordmotive sind in aller Regel nicht so anspruchsvoll, wie es uns Krimischreiber und Filmemacher glauben machen wollen. Die meisten Morde geschehen aus Habgier, Hass, Eifersucht, Rache …
Die Mordversuche an Manfred hatten wohl die Habgier als Motiv.
»Bist du eigentlich gut versichert?«, fragte ich unvermittelt.
Manfred hustete vor Schreck. »Du meinst … meine Lebensversicherung?«
»Na klar«, antwortete ich mit süffisantem Lächeln. »So eine Aktion muss sich doch lohnen. Den einen schießt man in der Luft ab, den anderen lässt man mit dem eigenen Flugzeug abstürzen.« Ich lachte bitter. »Dumm nur, dass eine Unbeteiligte sterben musste – Anna. Also sag schon! Wie hoch!«
Manfred sah mich begriffsstutzig an. »Wie hoch? Wie hoch was?«
»Wie hoch bist du versichert?«
Seine Augen verengten sich schlagartig, als ich das für ihn Unaussprechliche aussprach.
»Du meinst …«
Ich gebe zu, dass es ziemlich bösartig von mir war, als ich entgegnete: »Du bist wahrscheinlich tot mehr wert als lebend.«
Manfred wechselte die Farbe, sagte aber nichts. Zu groß war der Schreck der Erkenntnis, dass jemand sehr dringend und nachdrücklich seinen Tod wollte.
»Ihr drei wolltet gemeinsam eine Airline aufmachen.« Ich pfiff leise durch die Zähne. »Aber finanziell bekommt ihr nicht die Kurve. Dich bringt deine Notlandung schon an den Rand der Pleite …«
»Nur wegen der Investoren!«, widersprach Manfred hastig.
»Schon klar«, sagte ich spöttisch. »Welcher Investor gibt einem Bruchpiloten, der innerhalb von zwei Tagen mit seinen Maschinen abgeschmiert ist, schon Geld für eine Airline?
Würden deine beiden Crashs publik werden, würde sich euer Investor schnellstens zurückziehen. Aber dafür ist es jetzt ohnehin zu spät. Dein letzter Crash war wohl auch dein letzter, was eine Airline betrifft.«
Manfred presste die Lippen zusammen.
»Komm!«, forderte ich ihn auf. »Raus damit. Wie hoch ist deine Summe bei der Lebensversicherung und wann wurde die Police erneuert?«
Verunsichert drückte Manfred sich in seinen Kissen hoch.
»Als Pilot zweieinhalb…« Er brach ab, bleich im Gesicht.
»Und privat?«, bohrte ich nach.
»Privat …« Er verzog säuerlich das Gesicht, als sei ihm gerade klar geworden, dass ich recht hatte, als ich salopp meinte, dass er tot mehr wert sei als lebend. Aber meine Aussage traf den Kern und das wusste er.
»Eins Komma fünf«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen.
»Gratuliere, Manfred«, ätzte ich sarkastisch. »Dann bist du tot vier Millionen wert. Das sind genau vier Millionen Gründe, dich mit deinem verschuldeten Flugzeug abstürzen zu lassen. Wer ist denn eigentlich Nutznießer deiner Lebensversicherung? Ich tippe mal auf Siebrandt und Albrecht. Und davon ist nur noch einer übrig.«
Entgeistert sah Manfred mich an. Ich hatte ins Schwarze getroffen.
»Es sind schon Leute für weniger gestorben«, sagte ich sarkastisch und ging zur Tür, an der die Stimmen mittlerweile einen Entschluss gefasst hatten. »Wo in Loog wohnt eigentlich dein Geschäftsfreund?«
»Im Piratenpfad«, gab Manfred bereitwillig Auskunft.
»Na, das passt ja«, murmelte ich und legte meine Hand auf die Türklinke.
Bevor auf der anderen Seite der Tür Übereinstimmung herrschte, selbige einzutreten, handelte ich.
»Showtime!«, sagte ich ironisch und schlug mit der flachen Hand auf die Türklinke, die sofort die Tür aufspringen ließ.
Im Nu erschienen zwei in weiße Kasacks gekleidete Krankenschwestern und ein schlaksiger junger Mann in weißem Arztkittel.
»NOTFALL!«, brüllte ich und wies mit dem ausgestreckten Arm auf Manfred, der sich wachsbleich vor lauter Schreck unter seine Bettdecke verzog.
Die auf medizinische Notfälle jeglicher Art gedrillten Mitarbeiter stolperten in den Raum und reagierten sofort auf meinen Notfallruf und meinen ausgestreckten Arm, der Richtung Manfred wies. Bevor Manfred sich auch nur in einem zusammenhängenden Satz äußern konnte, nahm sich das Pflegeteam seiner an. Bis geklärt war, dass es sich bei Manfred um keinen medizinischen Notfall handelte, würde es einen Moment dauern.
Zeit genug für mich, zu verschwinden.
Der Gang lag leer vor mir, was ja auch kein Wunder war, da sich das Stationsteam gerade auf Manfred stürzte.
So schnell ich konnte, hastete ich den Gang entlang. Die Fahrstühle beachtete ich nicht, sondern zog die schwere Brandschutztür auf, die zum Treppenhaus führte. Während ich die Stufen hinunterlief, überlegte ich, was ich als Nächstes tun würde.
Im Erdgeschoss drückte ich die Metalltür auf und durchquerte die Eingangshalle, ohne mich allzu sehr zu beeilen, da ich keine Aufmerksamkeit erregen wollte. Ich hatte nicht vor, mich regulär entlassen zu lassen, da mir ein Besuch bei Philipp Albrecht auf den Nägeln brannte. Ich hatte noch keine Zeit gehabt, mir darüber klar zu werden, ob ich mir Manfreds Geschäftspartner als Mörder vorstellen konnte, aber wenn sich Manfreds Verdacht bestätigen würde, stand ich kurz davor, Annas Mörder gegenüberzutreten.
Seitlich des Eingangs vom Klinikum standen ein paar Patienten und offensichtliche Besucher an einer Raucherinsel und frönten ihrem Laster. Ich hätte jetzt ausnahmsweise auch eine Selbstgedrehte vertragen können.
Das helle Sonnenlicht stach mir schmerzhaft in die Augen.
Mit der flachen Hand schirmte ich es ab und setzte mich ein paar Schritte weiter auf eine kleine Mauer, um zu verschnaufen und ihnen Zeit zu gönnen, sich an die Helligkeit zu gewöhnen.
Aber ich brauchte auch einen Moment, um meine Gedanken zu ordnen und die neuen Erkenntnisse aus meinem Besuch bei Manfred zu sortieren und zu bewerten.
Offenbar hatte es eine Dreierkonstellation als Interessengemeinschaft gegeben: Manfred, Philipp Albrecht und Trautes Freund Milan, der wohl nur dem äußeren Anschein nach erfolgreich gewesen war und in Wirklichkeit ziemlich pleite gewesen sein musste und sich Geld von Traute geliehen hatte. Ich befürchtete, dass Traute von ihrem Geld keinen Cent wiedersehen würde.
Wenn meine Vermutung stimmte und sich die drei Geschäftspartner gegenseitig als Begünstigte im Falle eines Ablebens eingesetzt hatten, war das Motiv offensichtlich. Die Lebensversicherung würde im Fall von Milan Siebrandt höchstwahrscheinlich nicht zahlen, da es sich um einen ungeklärten Mordfall handelte. Da musste zuerst zweifelsfrei feststehen, dass der oder die Begünstigten nicht an der Tat beteiligt waren. Wäre Manfred bei dem Absturz seiner Cessna ums Leben gekommen, wäre sein Geschäftspartner Philipp Albrecht der alleinige Begünstigte gewesen. Vorausgesetzt natürlich, dass bei der Untersuchung durch das Luftfahrtbundesamt keine Manipulation nachgewiesen wurde. War dies der Fall, würde ebenfalls keine Versicherung zahlen.
Hm
, dachte ich.
Dann muss Albrecht ja das perfekte Verbrechen geplant haben, wenn er die Maschine manipuliert hat.
Wahrscheinlich hat er darauf spekuliert, dass die Maschine beim Aufprall explodiert, was ja dann auch der Fall war.
Bei dem Gedanken traf mich der Schmerz erneut mit voller Wucht. Ich schlug die Hände vors Gesicht und krümmte mich vor Verzweiflung zusammen.
Nein!,
dachte ich verzweifelt.
Das kann nicht sein. Anna! Tot …
Ich weiß nicht, wie lange ich so auf der Mauer gehockt hatte. Irgendwann beruhigte ich mich halbwegs und ließ die Hände sinken. Erneut stach mir die Helligkeit schmerzhaft in die Augen. Vorsichtig blinzelte ich und wischte mir mit dem Unterarm das Gesicht trocken.
Ich fühlte mich innerlich ausgebrannt, leer und erschöpft. Ein Leben ohne Anna konnte ich mir nicht vorstellen.
Schwerfällig stemmte ich mich von der Mauer hoch, als eine blonde Frau in einem grauen Jogginganzug aus dem Eingang kam und die Raucherinsel ansteuerte. Die Frau kam mir bekannt vor, allerdings konnte ich sie nicht zuordnen. Erst in dem Moment, als sie sich trotz des Sonnenscheins die Kapuze ihres Oberteils über den Kopf zog, erinnerte ich mich.
»Rita Albrecht!«, sagte ich leise.
Leifs Mutter und Manfreds komplizierter Beziehungsstatus, den ich jetzt verstand. Schließlich war sie mit Manfreds Geschäftspartner verheiratet.
Im selben Moment, als ich die Frau erkannte, durchfuhr mich ein heißer Schreck – Leif! Seit er an der Aussichtshütte verschwunden war, wusste ich nicht, wo er steckte. Dennoch war ich mir sicher, dass ihm nichts passiert war. Seinen Begleiter kannte er – und der hatte es nicht auf ihn abgesehen.
»Frau Albrecht«, sagte ich nun lauter.
Die Frau, die mir den Rücken zugewandt hatte, fuhr erschrocken zu mir herum. In ihren Augen lag ein leerer Ausdruck.
»Ja?« Ihre Stimme war ebenso ausdruckslos wie ihr leerer Blick, sie sog so heftig an ihrer Zigarette, dass die Spitze rot glühend knisterte.
»Ich bin ein Freund von Traute«, stellte ich mich vor, da ich an ihrem Blick sah, dass sie mich nicht erkannte. »Und ein Bekannter von Manfred.«
Ihr Blick blieb leer, kein Zeichen des Erkennens oder der Erinnerung.
»Mein Name ist Jan de Fries.«
»Und was wollen Sie von mir?«, fragte sie beinahe apathisch und lauschte dabei ihren Worten, als müsse sie sich vergewissern, dass sie diese auch tatsächlich laut ausgesprochen hatte.
Jetzt war es an mir, die Frau aufmerksam zu mustern. Sie war ja in die Klinik eingeliefert worden, nachdem sie nach Manfreds Notlandung plötzlich zusammengebrochen war. Das war aber nun auch schon eine Zeit lang her. Eigentlich hätte sie längst wieder entlassen sein müssen. Irgendetwas stimmte mit ihr nicht.
»Traute hatte mich gebeten, auf Leif aufzupassen, weil sie …« Ich zögerte einen Moment, weil ich schlecht sagen konnte, dass Traute sternhagelvoll gewesen war, und formulierte ihren Zustand etwas moderater: »… sie früh schlafen musste, weil sie ihre Augen nicht mehr aufhalten konnte.«
Rita Albrecht sah mich stumm an.
»Tja, und Leif hat sich noch mal die Jacke angezogen und das Hotel verlassen. Ich habe ihn noch gesucht, aber er war plötzlich verschwunden«, schilderte ich ihr eine abgespeckte Version der Ereignisse der vorhergegangenen Nacht, da ich sie nicht unnötig beunruhigen wollte.
Denn das wäre zwangsläufig geschehen, wenn ich ihr von meiner Verfolgung ihres Sohnes erzählt hätte, der sich in Begleitung eines Unbekannten auf der Insel herumgetrieben hatte, die dann mit einer durchfesselten Nacht geendet hatte
und der Tatsache, dass ich jetzt keine Ahnung hatte, wo sich Leif befand.
»Leif geht’s gut.«
Ich glaubte mich verhört zu haben. Verständnislos starrte ich das blasse Gesicht der Frau unter der Kapuze an. »Was haben Sie gesagt?«, fragte ich perplex.
»Leif geht’s gut.«
Ich hatte also doch richtig gehört.
Umständlich klopfte Rita Albrecht eine frische Zigarette aus der zerdrückten Packung, die sie sich aus der Tasche ihres Kapuzenshirts gezogen hatte, und zündete sie an der alten Kippe an.
»Haben Sie vielleicht auch eine für mich?« Ich deutete auf die Packung filterloser Zigaretten, die sie gerade wieder in ihrer Tasche verschwinden lassen wollte.
Die Frau hielt in ihrer Bewegung inne und warf mir einen Blick zu, in dem sich erstmals ein Zeichen des Erkennens abzeichnete.
»Eine Zigarette«, sagte ich. »Haben Sie vielleicht auch eine Zigarette für mich?«
Es dauerte einen Moment, bis Leben in ihre Bewegung kam. Langsam, fast widerwillig hob sie ihre Hand, deren Finger sich fest um die Packung geschlossen hatten, wie die Fänge eines Raubvogels, dem es nicht in den Sinn kommt, etwas von seiner Beute zu teilen.
Die glimmende Zigarette klebte ihr im Mundwinkel, ein dünner Rauchfaden kräuselte sich empor, sodass sie zum Schutz ihre Augen zu Schlitzen zusammenkniff, während sie mit beiden Händen umständlich eins der Nikotinstäbchen aus der zerdrückten Packung fummelte.
»Danke«, sagte ich, als sie mir eine leicht geknickte filterlose Zigarette entgegenstreckte.
Dankbar nahm ich das Stäbchen entgegen und schnupperte an dem aromatischen Tabak. Es war schon eine ganze Weile her, dass ich eine Zigarette geraucht hatte, aber heute war ich fast gierig danach, was in Anbetracht der Geschehnisse kein Wunder war.
Mit geschlossenen Augen nahm ich einen tiefen Zug und blies den Rauch geräuschvoll in den blauen Himmel, nachdem Rita Albrecht ebenso widerwillig, wie sie eine Zigarette herausgerückt hatte, ihr Feuerzeug für mich hatte aufflammen lassen.
Langsam öffnete ich die Augen. »Danke«, sagte ich nochmals und suchte ihren Blick. »Leif geht’s also gut.«
»Mmm«, machte sie und zupfte sich mit den Fingerspitzen einen Krümel Tabak von der Unterlippe, der dort kleben geblieben war, als sie den Glimmstängel aus dem Mund nahm, um eine neue Nikotinwolke in den Himmel zu blasen.
»Woher wissen Sie das?«
»Weil …«, sie blies den Rauch über meinen Kopf hinweg ins Blau, »… er mich angerufen hat.«
»Leif hat Sie angerufen?«, fragte ich ungläubig, weil ich mit einer solch profanen Erklärung nicht gerechnet hatte.
»Ja«, antwortete sie mit leicht gereiztem Unterton. »Was ist denn so komisch daran, wenn ein Sohn seine Mutter anruft?«
»Nix«, entgegnete ich äußerlich gelassen, aber innerlich dem Klang lauschend, mit dem mir der Stein von der Seele fiel. »Daran ist gar nix komisch.«
»Sag ich doch«, erwiderte sie schnippisch.
»Wo ist er denn?«, wollte ich wissen und versuchte sie gleichzeitig aus ihrer Reserve zu locken, was nicht schwer sein konnte, da ihre Befindlichkeit innerhalb kürzester Zeit von entrückt auf zunehmend gereizt gewechselt hatte. »Im Piratenpfad?«
»Woher wissen Sie denn, wo wir wohnen?« Ihre Augen waren vor Überraschung groß geworden, ihre Pupillen hingegen klein geblieben.
»Wieso sind Sie noch immer im Krankenhaus?«, wechselte ich unvermittelt das Thema, alte Anwaltstaktik. »Hat Sie das Pinch Hitter so sehr mitgenommen?«
An ihrem Blick war abzulesen, wie es in ihrem Kopf arbeitete, und mir wurde schlagartig klar, was mit ihr los war. Sie stand unter dem Einfluss starker Medikamente. Ich tippte auf hochpotente Psychopharmaka.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte ich besorgt, denn ich wollte sie nicht vorsätzlich verwirren, wenn sie sich in einem derart labilen Zustand befand.
Wie in Zeitlupe nickte Leifs Mutter. »Ja«, antwortete sie ebenso langsam.
»Leif ist also in Ihrer Ferienwohnung?«, stellte ich meine Frage erneut.
Wieder nickte sie.
»Und ihm geht’s gut?«, wollte ich wissen.
»Den Jungs geht’s gut.«
»Das freut mich«, sagte ich erleichtert darüber, dass es dem Jungen gut ging und Leif so rücksichtsvoll gewesen war, seine Mutter anzurufen, um ihr zu sagen, dass mit ihm alles in Ordnung war.
»Hm«, machte sie erneut und schnippte Asche von ihrer Zigarette achtlos auf den Boden.
Noch während die Asche zu Boden fiel, stutzte ich. Was hatte sie gesagt – »den Jungs«?
Na klar,
dachte ich grimmig, denn mir war längst klar, dass Leif mit seinem Bruder Vince unterwegs war. Ich ließ mir aber nichts anmerken, sondern rief mir ins Gedächtnis zurück, dass sie offensichtlich unter starkem Medikamenteneinfluss stand und ich sie in diesem Zustand nicht ins Kreuzverhör nehmen wollte.
»Und Ihnen geht’s auch wieder besser?«, fragte ich deshalb besorgt.
»Ja.« Ihre Stimme klang so blass wie die blassblaue Nikotinwolke, die sie aus der Tiefe ihrer Lunge über meinen Kopf hinweg in den Himmel blies. »Den Umständen …« Sie brach hilflos ab, weil ihr das nächste Wort nicht einfiel, um ihren Satz zu Ende zu bringen.
»… entsprechend«, half ich ihr auf die Sprünge.
»Genau«, sagte sie mechanisch und nickte mehrfach, um ihre Worte zu unterstreichen.
»Ist Ihr Mann denn auch zu Hause?«, fragte ich in der Hoffnung, den Aufenthaltsort von Philipp Albrecht zu erfahren.
»Ich hoffe nicht.« Sie lachte böse, bis ein trockener Husten sie unterbrach.
Mit einer Handbewegung schnippte sie die Kippe ihrer Zigarette weg und traf zu meinem Erstaunen den großen Standaschenbecher, der in der Mitte der Raucherinsel befestigt war.
»Wieso hoffen Sie, nicht?«, fragte ich behutsam, denn ich brannte auf ein paar Zusatzinformationen.
Ohne auf meine Frage zu antworten, griff sie in die Tasche ihrer Jogginghose, holte ein Handy hervor und begann mit ihrem Finger auf dem Display herumzuwischen.
Endlich hatte sie gefunden, was sie gesucht hatte. Mit dem ausgestreckten Arm hielt sie mir das Telefon entgegen. »Und?«, fragte sie, diesmal deutlich provokanter. »Was sehen Sie hier?«
Erstaunt über ihren erneuten Stimmungswandel schaute ich auf das Display ihres Handys.
Eine gut gelaunte und blendend aussehende Rita Albrecht strahlte mich an, die von Leif und einem jungen Mann, den ich auf Mitte zwanzig schätzte, links und rechts umarmt wurde. Leif und ein gut aussehender junger Mann, vermutlich Leifs Bruder Vince, strahlten mit Rita Albrecht um die Wette. Im Hintergrund war ein weißes Segel zu sehen. Der
legeren Bootskleidung nach schien das Bild vor oder nach einem Segeltrip entstanden zu sein.
»Bin ich eine schlechte Mutter?« Von einer Sekunde auf die andere hatte ihre Stimme einen schrillen, hysterischen Klang angenommen.
»Wieso sollten Sie eine schlechte Mutter sein?«, fragte ich vollkommen irritiert über ihre abrupten Stimmungswechsel. »Dem Foto nach nicht.«
»Mein ganzer Stolz.« Ein versonnenes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie das Bild auf ihrem Handy betrachtete. »Es sind wahrhafte Engel, der eine hell und strahlend …«, sie hielt einen Moment inne, als müsse sie kurz überlegen, ob ihre Beschreibung zutraf, bevor sie stolz fortfuhr: »Der andere dunkel und überragend.«
»Ihre Söhne?«, fragte ich.
Wiederum meine Frage ignorierend, strich sie über das Handydisplay und schien weitere Fotos zu betrachten, die sie mir allerdings nicht zeigte. Neugierig reckte ich den Hals und sah über Kopf, wie ihr Finger eine Galerie von Schnappschüssen durchblätterte. Es waren Bilder, wie sie wohl jede stolze Mutter bei sich trägt: ein strahlender Leif, ein ernster junger Vince und eine gut aussehende Rita Albrecht, die zwar auf allen Aufnahmen, die ich erspähen konnte, in die Kamera strahlte, auf deren Gesicht jedoch stets ein unterschwellig ernster Ausdruck zu erkennen war – fast so, als würde sie eine tiefe Traurigkeit hinter einer strahlenden Maske verstecken.
Bei den Bildern handelte es sich meist um Urlaubsfotos, denen eine Serie von Fotos folgte, auf denen Leif trendige Freizeitkleidung und sein Bruder Anzug und Krawatte trug.
»Hey!«, sagte ich überrascht und deutete auf ein Bild, das die beiden Jungs, Rita und Philipp Albrecht vor einem kanariengelben Flugzeug zeigte, hinter dem ich die mir
wohlvertraute Flugzeughalle erkannte, in der Manfred mit seinem Geschäftspartner aneinandergeraten war. »Das ist doch …«
Mit einer schnellen Handbewegung ließ Rita Albrecht ihr Handy in der Tasche ihrer Kapuzenjacke verschwinden.
»Ich hatte schon ein Messer in der Hand.« Rita Albrechts gerade noch gedankenverlorene Stimme klang auf einmal nach gemütlicher Plauderrunde, es fehlte nur noch der Tee. »Ein Küchenmesser. Eins von diesen japanischen Teilen, die sind sündhaft teuer, aber …« Ihre Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen, langsam wie in Zeitlupe streckte sie ihren Arm aus und berührte mit ihrem Zeigefinger die Kuhle an meiner Kehle zwischen Adamsapfel und der Stelle, wo die Schlüsselbeine ins Brustbein übergingen.
Wie versteinert starrte ich sie an.
Ich verspürte keine Angst und wusste auch nicht, ob ich nach Annas Tod jemals wieder normale Empfindungen haben würde. In mir fühlte sich alles tot und abgestorben an, so auch mein natürliches Angstempfinden. Ich zuckte noch nicht einmal zusammen, als ihr Fingernagel meine Kehle berührte.
Es war mir egal, was mit mir geschah. Das Einzige, was ich wollte, war, Annas Mörder zu stellen.
Mit ihrem Fingernagel, an dessen Rändern der rote Lack abgeblättert war, fuhr Rita Albrecht mir bedächtig die Kehle entlang.
»Mit einem guten Messer geht das so schnell … und es soll auch gar nicht wehtun.« Sie lächelte versonnen, ihre Stimme klang beinahe zärtlich, als sie mir imaginär die Kehle durchschnitt. »Nur das viele Blut ist natürlich eine Sauerei.«
»Wer ist der junge Mann neben Leif auf dem Foto?«, wiederholte ich meine Frage, die sie bisher nicht beantwortet hatte.
Ohnehin war mir längst klar, dass es sich um den älteren Bruder von Leif handelte. Als ich den ernst dreinblickenden Mann auf dem Foto neben Leif gesehen hatte, fühlte ich mich auch in meiner Vermutung bestätigt, dass er Leifs nächtlicher
Begleiter gewesen war. Und es lag ebenfalls auf der Hand, dass er derjenige war, der versucht hatte, den Pfeil aus dem Bismarck-Blick zu klauen.
»Finden Sie mich eigentlich attraktiv?«, wechselte Rita Albrecht vollkommen unerwartet das Thema und sah mich jetzt mit verhangenem Blick an.
Schweigend erwiderte ich ihren Blick.
»Philipp fand mich mal attraktiv.« Mit dem Fingernagel begann sie, die Naht meines Hemdes nachzuziehen. »Aber das ist lange her. Jetzt hat er andere Interessen, ganz andere Interessen.«
»Ist das Leifs Bruder auf dem Foto?« Ich ließ nicht locker.
»Sein Schutzengel«, lächelte sie versonnen. »Vince ist Leifs Schutzengel. Das war er schon immer, schon als Leif noch ein Baby war. Er hat immer auf seinen Bruder aufgepasst.«
»Macht er das heute auch noch?«, fragte ich, obwohl ich mir sicher war, dass Leifs Bruder genau das tat. »Ist er noch immer Leifs Schutzengel?«
»Ein dunkler Engel«, flüsterte sie halblaut.
»Ein dunkler Engel?«, wiederholte ich ebenso leise. »Was heißt das?«
Rita Albrechts Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Ein dunkler Engel würde auch töten!«, stieß sie hervor. »Dafür war ja auch das Messer.« Sie zog einen Flunsch und tippte mit ihrem abblätternden Fingernagel auf den Hemdknöpfen auf meiner Brust herum; meine Frage ignorierte sie, so als würde sie mit jemand anderem sprechen als mit mir, mit jemandem, den nur sie sehen und hören konnte.
»Was hat Ihr Mann getan, dass Sie ihn töten wollten?«, fragte ich mit unverblümter Direktheit, denn was sollten ihre Andeutungen und Aussagefragmente sonst bedeuten.
»Geben Sie zu …«, Rita Albrecht beugte sich vor, sodass ihr Gesicht dicht an meinem war und ich ihren starken
Nikotinatem riechen konnte, sie hatte deutlich mehr als nur ein paar Zigaretten geraucht, »Sie würden auch das Messer nehmen …«
Ich sah ihr tief in die Augen, die in diesem Moment einem schier endlosen Tunnel glichen. Ich hätte nur zu gern gewusst, was sich gerade im Dunkeln ihres Bewusstseins abspielte.
»Geben Sie’s zu!«, forderte sie mich auf und tippte mit dem Finger gegen mein Kinn. »Wenn Sie dem Mörder Ihrer Freundin gegenüberstehen würden, dann würden Sie auch ein Messer nehmen, stimmt’s? Eins von den ganz großen, von den besonders scharfen.«
Rita Albrechts Worte trafen mich mitten ins Herz. Durch meine Adern schien Quecksilber zu laufen, meine Hände waren eiskalt, Lippen und Fingerspitzen fühlten sich völlig taub an.
»Ich bin nicht umsonst auf Station 6, geschlossene Psychiatrie, untergebracht, die ich nur zweimal am Tag für zehn Minuten alleine zum Rauchen verlassen darf, wenn ich meinem Arzt weismachen kann, dass ich stabil genug bin, mich an meine Vereinbarung zu halten und mir nicht selber die Kehle aufzuschlitzen …« Mit jedem Wort wurde ihre Stimme zittriger; dann brach sie abrupt ab, ihr Blick wurde wieder leer, ihre Körperspannung löste sich wie Morgennebel über der See auf.
»Wo hält sich Ihr Mann gerade auf?«, fragte ich sie mit kalter, vollkommen emotionsloser Stimme.
Rita Albrechts Blick begann zu flattern.
»Ist er in Ihrem Ferienhaus. Im Piratenpfad?«
Ihre Pupillen weiteten sich, in ihre Augen traten Tränen.
»Ja.«