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»Man darf zwar auf Juist einreisen, aber es ist ungewiss, wann von dort wieder eine Maschine zurückfliegt«, sagte der Mann hinter dem Abflugschalter zu mir und zuckte zur Entschuldigung mit den Schultern.
»Wer sagt Ihnen denn, dass ich zurückfliegen will?«, entgegnete ich kurz angebunden und legte meine Kreditkarte auf den Tresen.
»Ich wollte es ja nur gesagt haben«, erwiderte der Mann mit dem weißen Kurzarmhemd und machte ein beleidigtes Gesicht. »Wir müssen unsere Fluggäste ja schließlich informieren.«
»Das haben Sie nun getan«, erwiderte ich und nahm Ticket und Plastikkarte an mich, um beides achtlos in meine Hosentasche zu stopfen.
Ich stand in der Wartehalle des Flughafens Norden-Norddeich und hatte gerade erfahren, dass nach wie vor niemand Juist verlassen durfte. Traute hatte nicht zu viel versprochen, als sie mir sagte, dass sie die Insel hatte dichtmachen lassen. Der Fährverkehr war eingestellt worden, nur die Inselflieger mit Urlaubern, die nachweislich eine Unterkunft auf Juist gebucht hatten, durften anreisen. Und die Insel verlassen durften natürlich Patienten mit dem Rettungshubschrauber, so wie ich, als man mich in die Klinik verfrachtet hatte. Der Rückflug war ebenfalls einfach, denn da meine Buchung im Bismarck-Blick noch gültig war, bekam ich problemlos mein Ticket.
Ich ging zurück durch die gläserne Automatiktür und trat an das rot-weiße Absperrgitter.
Gedankenverloren schaute ich aufs Flugfeld.
Hinten links betankte gerade ein Pilot seine blau-weiße Britten-Norman Islander. Dafür war er auf eine Stehleiter geklettert und betankte das Flugzeug wie an einer Autotankstelle mit einer Zapfpistole und einem Schlauch, der zu einer normalen Zapfsäule führte, die seitlich am Flugfeld stand. Rechts von mir waren in einer Wartezone zwei weitere blau-weiße Inselflieger der FLN geparkt. Auf dem Rollfeld gegenüber dem Eingang zum Flughafengebäude checkte der Pilot seine Maschine, während ein Flughafenmitarbeiter den Rollwagen mit dem Gepäck heranschob. Wenn das Gepäck verladen war, würde meine Maschine in wenigen Minuten starten.
Eigentlich sollte man meinen, dass ich aufgrund meiner Flugangst und des Absturzes der Cessna, in der Anna tödlich verunglückt war, nie wieder einen Fuß in ein Flugzeug gesetzt hätte.
Dass ich es doch tat, hatte einen ganz simplen Grund: In mir loderte der kalte Hass auf den Mörder von Anna, auf den Mann, der zudem nicht nur meine Liebe, sondern auch Trautes Liebe auf dem Gewissen hatte, da er Milan Siebrandt mit einem tödlichen Pfeil vom Himmel geschossen hatte; der Mann, der skrupellos und eiskalt, ohne Rücksicht auf das Leben Unschuldiger aus Geldgier zweimal Flugzeuge manipuliert hatte, um Manfred Bendix zu töten und seine Lebensversicherung zu kassieren – Philipp Albrecht.
Ich konnte natürlich nicht ausschließen, dass Manfred mit seiner Vermutung falschlag, es sei sein Geschäftspartner gewesen, der nacheinander beide Maschinen sabotiert und mit der letzten Sabotage den Absturz der Cessna und damit Annas Tod verschuldet hatte. Aber ich glaubte weder an den großen Unbekannten noch an Zufälle, sondern daran, dass es noch immer die elementarsten Motive waren, die einen Menschen zum Mörder werden ließen: Habgier und Hass.
Wenn Hass einen Menschen zum Mörder werden lässt, dann galt das auch für mich.
Dieser Gedanke machte mir einen Moment lang Sorgen. Angst verspürte ich im Moment ebenso wenig wie Trauer. Alle meine Gefühle waren wie abgeschaltet, tot und spielten keine Rolle.
Nur der Hass auf den Mörder trieb mich voran.
Philipp Albrecht war für mich der Hauptverdächtige. Und ich war fest entschlossen, ihn zur Strecke zu bringen.
Die Lautsprecherstimme, die meinen Flug aufrief und die Fluggäste aufforderte, sich zum Ausgang A Richtung Rollfeld zu begeben, riss mich aus meinen Gedanken. Mechanisch setzte ich mich in Bewegung und reihte mich in die kleine Schlange der Urlauber ein, die bereits an der Automatiktür warteten, welche zum Rollfeld führte.
Ich nahm als Letzter auf der mittleren Sitzbank Platz und schnallte mir den Bauchgurt um, wie der Pilot uns angewiesen hatte. Wie damals bei meinem ersten Flug nach Juist mit einem Inselflieger mit Manfred, als ich in einem Mordfall ermittelt hatte, konnte ich jeden Handgriff des Piloten beobachten, was mich aber nicht interessierte.
Ich starrte lieber nach draußen, wo in der Abendsonne ein paar geschäftige Rebhühner über die Startbahn stolzierten und Insekten aufpickten. Die Maschine rollte immer schneller über den grauen Asphalt und hob dann ab. Rasch gewann sie an Höhe, und ich konnte unter mir den Strand von Norddeich erkennen, der ins Grau des Watts überging, da wir gerade ablaufendes Wasser hatten. Kaum hatte die Maschine ihre Reisehöhe erreicht, als der Pilot auch schon wieder die Landung einleitete, da vor uns bereits Juist auftauchte. Der Inselflieger ging tiefer und flog eine leichte Kurve, um im direkten Anflug auf die mir mittlerweile gut bekannte Landebahn einzuschweben.
Während des Sinkflugs blickte ich hinunter auf den Strand, auf dem plötzlich die Absturzstelle der Cessna auftauchte. Der Schock traf mich erneut wie eine Riesenfaust, und mich durchlief eine heißkalte Woge, mir blieb die Luft weg und ich krallte meine Finger in die Oberschenkel. Es traf mich völlig unvorbereitet, ich hatte nicht daran gedacht, dass ich von hier oben die Absturzstelle sehen würde. Aber auch wenn ich das bedacht hätte, wäre ich geflogen. Die Fähren fuhren derzeit nicht, es blieb also nur der Inselflieger. Doch bei der Anreise über das Wasser wäre der Schock vielleicht nicht so groß gewesen.
Das Flugzeugwrack war bereits abtransportiert worden. Nur die tiefe Furche im Sand und im Gras, die die Maschine bei ihrem Absturz gezogen hatte, und der große schwarze Fleck, wo das ausgelaufene Kerosin explodiert und verbrannt war, zeugten noch von dem Unglück.
Glücklicherweise ging der Inselflieger so schnell tiefer, dass ich die Absturzstelle nicht mehr sehen musste. Auch wenn es nur ein paar Sekunden gewesen waren, hatte der Anblick ausgereicht, um mich ziemlich aus der Fassung zu bringen.
Als das Flugzeug gelandet war und der Pilot die Türen geöffnet hatte, wankte ich grußlos zum Absperrgitter, wo ich mich erbrach. Ein paar Fluggäste, die hinter mir hergeschlendert kamen, schlugen einen Bogen um mich.
Mein Innerstes schien sich umzustülpen und ich ging vor Schmerz in die Knie. Zudem hatte ich kaum etwas gegessen, sodass sich mein Magen redlich abmühte, etwas loszuwerden, was ihm aber nur in Form von etwas Gallenflüssigkeit gelang.
Stöhnend rappelte ich mich wieder auf die Beine und wankte den Weg Richtung Flugplatzrestaurant und Kutschenparkplatz entlang. Als ich an den Fahrradständern des Restaurants vorbeikam, fiel mir ein unverschlossenes Damenfahrrad auf, was mir wie gerufen kam.
Mit einem kurzen Seitenblick vergewisserte ich mich, dass mich niemand beobachtete, dann schwang ich mich auf den Sattel und machte mich schleunigst aus dem Staub.
Wenn diese Geschichte hier vorbei war, hatte ich einiges gutzumachen. Im Moment zählte aber nur für mich, so schnell wie möglich Philipp Albrecht gegenüberzustehen.
Tief über den Lenker gebeugt, radelte ich die Flugplatzstraße entlang. An der Abzweigung, die zum Bismarck-Blick führte, warf ich einen Blick zum Haus hoch und dachte an meinen treuen Motte, der sich mittlerweile sicherlich fragen würde, wo ich abgeblieben war. Der Dicke musste sich aber noch etwas gedulden, bis ich ihn abholen würde.
Der Piratenpfad ging in Loog gleich von der Hammerseestraße ab und führte Richtung Strand, wo er nach etwa einhundert Metern in einen Sandweg überging, der mit einem Holzsteg ausgelegt war.
Das Ferienhaus, in dem laut Manfreds Angaben Philipp Albrecht mit seiner Frau und Leif wohnte, lag direkt am Piratenpfad gegenüber dem Gelände eines Fuhrbetriebs.
Hätte ich jetzt am Strand gesessen, hätte ich wahrscheinlich einen wunderschönen Sonnenuntergang beobachten können, dafür sprach der rot glühende Schein der sinkenden Sonne, der über dem Dünengras leuchtete und das Gras in Brand zu setzen schien.
Ich wusste nicht, ob ich jemals wieder einen Sonnenuntergang betrachten konnte, ohne im tiefsten Schmerz an Anna zu denken. Ohne daran zu denken, was ich ihr hatte sagen wollen, mich aber nicht zu sagen getraut hatte. Wie nichtig erschien mir jetzt meine Angst ihr gegenüber, meine Gefühle zuzulassen und auszusprechen. In dem Moment, wo ich längst wusste, was ich für sie empfand, und sie endlich fragen wollte, ob sie mich heiraten würde, war es bereits zu spät gewesen.
Das Schicksal hatte mir meine Frage auf grausame Weise unbeantwortet gelassen.
Mit unbewegtem Gesicht bog ich in den Piratenpfad ein.
Langsam radelte ich an einer Hecke vorbei, durch die hindurch ich in einen gepflegten Garten schauen konnte. Nach etwa zwanzig Metern schloss sich das Ferienhaus an. Das kleine Backsteinhaus sah sehr gemütlich aus: Butzenscheiben, eine friesenblaue Eingangstür und Beete mit Wildblumen und Stockrosen beidseits des Eingangs.
Ohne den Kopf zu drehen und scheinbar uninteressiert radelte ich an dem Haus vorbei. Nach ein paar Metern bog ich in eine Rechtskurve ein, die im weiteren Verlauf in einen Sandweg mündete. Das Backsteinhaus verschwand hinter der Kurve und ich hielt kurz danach das Rad an und ließ es achtlos ins Gras fallen.
Die Sonne musste gerade ins Meer gefallen sein, denn die Dämmerung setzte ein, und ich hatte das Gefühl, dass es ziemlich schnell abendkühl wurde, wobei es auch an meiner Anspannung liegen konnte, dass ich zunehmend fröstelte und sich an meinen Armen und Beinen Gänsehaut bildete.
Langsam ging ich den Weg zurück Richtung Haus. Vor der Gartenpforte blieb ich stehen. Mein Blick glitt über die weiß lackierten Fensterrahmen mit ihren kleinen Butzenscheiben hinüber zu einem Rosenbogen, hinter dem der Garten lag.
Ich legte die Hand auf die Klinke und drückte die Pforte auf. Sie war unverschlossen.
Neben der Eingangstür standen zwei Fahrräder auf ihren Ständern, eins davon war kleiner als das andere. Bei dem kleineren Fahrrad handelte es sich höchstwahrscheinlich um das Rad von Leif.
Vorsichtig stieg ich die drei Eingangsstufen hoch und blieb vor der Holztür mit dem rautenförmigen kleinen Sichtfenster in Kopfhöhe stehen. Ich schirmte meine Augen mit der Hand ab und spähte hindurch.
Das Erste, das mir auffiel, waren die Kleidungsstücke, die im Innern des Hauses im Flur auf dem gefliesten Boden lagen. Auf den zweiten Blick bemerkte ich die Glassplitter auf den Fliesen, was mich in Alarmbereitschaft versetzte. Wenn jemandem Glas hinunterfällt, ist es das Natürlichste, die Splitter unverzüglich aufzufegen, damit sich niemand daran verletzt.
Wer das unterlässt, hat offenbar etwas Wichtigeres zu tun.
Aber was?, dachte ich. Was ist wichtiger, als zerbrochenes Glas im Durchgang eines Hauses aufzusammeln, wenn man zu Hause ist und nicht versehentlich hineintreten will?
Beunruhigt drückte ich meine Nase gegen das kleine Fenster, konnte aber nicht mehr erkennen, als ich bereits gesehen hatte.
Ich hätte natürlich auch klopfen können. Tat ich aber nicht.
Wenn ich Albrecht gegenüberstand, wollte ich das Überraschungsmoment auf meiner Seite wissen.
Ich löste mich von der Tür und ging mit leisen Schritten Richtung Rosenbogen. Vorsichtig warf ich einen Blick in den Garten. Es war niemand zu sehen.
Der Garten machte einen sehr gepflegten Eindruck. Neben einem hübsch in Weiß-Blau lackierten Geräteschuppen, dessen Tür einen Spalt offen stand, befand sich noch ein zweites Holzhäuschen auf dem Grundstück, in dem ich eine Sauna vermutete. Auf der Rückseite des Backsteingebäudes standen eine gemütlich aussehende Sitzgruppe aus Teakholz mit einem großen Tisch sowie zwei Sonnenliegen. Mitten im Gras war ein Rasensprenger platziert, der die beiden Liegen unter Wasser setzte. Da hatte jemand beim Anstellen des Sprengers nicht aufgepasst.
Ich ließ den Rasensprenger seine Arbeit machen und wandte mich der Terrassentür zu, die weit offen stand.
Wer sagt’s denn!, dachte ich zufrieden und näherte mich behutsam der Tür.
Mir war bewusst, dass ich Hausfriedensbruch beging. Aber das war mir vollkommen schnuppe.
Aufmerksam sah ich mich im Wohnzimmer um. Der Raum war gemütlich eingerichtet: ein übergroßes graues Cordsofa mit zwei hellblauen Sesseln davor; eine Frühstücksecke am Fenster mit vier Sitzplätzen; und eine großzügige Anrichte, hinter deren gläsernen Vitrinentüren ich diverses Geschirr erkannte.
Als ich die Diele betrat, knirschten einige Glassplitter unter meinen Sohlen.
Sofort blieb ich stehen und lauschte.
Kein Laut war zu hören. Mein Blick ging durch die Diele und blieb an einem schmalen metallenen Schrank hängen, der neben einer großen hölzernen Piratentruhe stand und dessen Tür halb offen war. Ich kannte diese Art von Schränken und ich befürchtete nichts Gutes.
Mit wenigen Schritten schlich ich zu dem Schrank und zog die Tür ganz auf.
Meine Befürchtungen bestätigten sich in dem Moment, als ich erkannte, was in dem hellgrauen Metallschrank aufbewahrt wurde – Waffen!
Philipp Albrecht war nicht nur Unternehmer, Fallschirmspringer, Saboteur und mutmaßlicher Mörder, sondern auch ganz offenkundig Jäger und im Besitz scharfer Waffen.
Es war ein relativ kleiner Schrank und er bot nicht mehr Platz als für drei Langwaffen, sprich großkalibrige Gewehre, sowie ein paar Schubladen für Munition und Kleinkram wie Reinigungsutensilien. Die Halterungen für die Gewehre waren leer. Zwei Halterungen sahen unbenutzt aus, die Metallbügel waren umgelegt und wiesen keinerlei Gebrauchsspuren auf. Schnell untersuchte ich den Schrank und stellte fest, dass er ziemlich neu sein musste. Der Metallbügel der mittleren Halterung war nicht arretiert, und eine aufgerissene Patronenpackung vermittelte den Eindruck, als hätte es jemand sehr eilig gehabt, sich mit ausreichender Munition zu versorgen. Nach dem, was ich gerade vor mir sah, konnte ich davon ausgehen, dass Philipp Albrecht hier im Haus oder auf dem Gelände mit einer scharfen Flinte durch die Gegend lief.
Das ist nicht gut!, dachte ich. Wo ist der Junge? Sein Fahrrad steht vor dem Haus!
»Hey, du kleines Genie!«, ertönte plötzlich eine barsche Männerstimme so laut, dass ich zusammenzuckte und einen Satz zurück machte.
Glas knirschte unter meinen Füßen. Ich hielt die Luft an.
»Wo bist du?« Die Stimme kam aus dem Obergeschoss.
Vorsichtig hob ich den rechten Fuß und schob geräuschlos ein paar Splitter zur Seite, dann machte ich einen Schritt Richtung Treppe.
Es war vollkommener Wahnsinn, was ich gerade tat.
Ich hielt Albrecht für den potenziellen Mörder von Anna, und alles sprach dafür, dass er im oberen Stockwerk gerade eine geladene Flinte bei sich trug. Und ich hatte nichts Besseres zu tun, als ihm nachzuschleichen?
War ich vollkommen verrückt geworden?
Die simple Antwort lautete – es war mir egal, was mit mir geschah. Ich wollte Annas Mörder! Um jeden Preis!
»Egal wie!«, flüsterte ich. »Ich hole dich!«
Schnell streifte ich meine Bootsschuhe ab, obgleich sie von Haus aus keine nennenswerten Geräusche machten. Dennoch wollte ich auf Nummer sicher gehen. Ob ich mir einen Splitter in den Fuß trat, war mir völlig egal.
Vollkommen geräuschlos stieg ich die Stufen hinauf.
Oben angekommen, blieb ich stehen und lauschte in Richtung eines Ganges, von dem mehrere Zimmer abgingen.
Erneut ertönte die Stimme.
»Wo bist du, Leif?«, fragte mit süffisanter Stimme der Mann, von dem ich mir sicher war, dass es sich um Philipp Albrecht handelte. »Dein Dad möchte mit dir reden.«
Plötzlich hörte ich Schritte, die sich von der Gangseite näherten. Ich drückte mich an die Wand.
Etwas kratzte auf dem Laminatboden. Albrecht musste sich im Erdgeschoss ein paar Splitter in die Sohlen getreten haben, die jetzt auf dem Boden ein hässliches Kratzen verursachten.
Und etwas drückte in meinen Rücken. Mit der rechten Hand griff ich nach hinten und bekam einen Türknauf zu fassen. Eine Schranktür. Ein Einbauschrank.
Geistesgegenwärtig drehte ich mit einer schnellen Handbewegung den Knauf und zog die Tür eines Lamellenschranks auf. Ebenso schnell war ich in dem Schrank verschwunden. Mit angehaltenem Atem lauschte ich auf die Schritte, die den Gang entlangkamen.
»Wo bist du, kleines hochbegabtes Arschloch?«
Wie in Zeitlupe knirschten Schritte an dem Wandschrank vorbei.
»Dein Dad liebt dich«, säuselte Albrecht, den ich durch die Lamellen des Wandschranks hindurch erkannte. »O ja, und wie sehr er dich liebt«, fügte die Stimme kaum hörbar im Flüsterton hinzu. »Kniend und von hinten.«
Mir wurde fast schlecht, als ich Albrecht diese Worte flüstern hörte.
»Komm her, mein Junge.« Albrechts Stimme klang widerlich künstlich und süß, als er nach Leif rief.
Philipp Albrecht war ein Päderast! Widerlich! Ich hätte mich schütteln können.
Es gab für mich nichts Widerlicheres als Männer, die sich an kleinen Jungs oder Mädchen vergriffen. Das war für mich auch der Grund gewesen, während meiner aktiven Zeit als Anwalt grundsätzlich die Verteidigung gut situierter Herren abzulehnen, die bei mir um juristischen Beistand baten, weil gegen sie eine Anklage wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern lief.
Ich schob den üblen Gedanken an Kinderschändung weg und konzentrierte mich auf die Schritte im Gang, die sich gerade von der Schranktür entfernten. Das leiser werdende Geräusch verriet mir, dass Albrecht die Stufen zum Erdgeschoss hinunterstieg.
Langsam und geräuschlos ließ ich meinen Atem entweichen. »Pfft«, machte ich leise und entspannte mich für den Moment. Vorsichtig drückte ich zentimeterweise die Schranktür auf.
Der Gang vor mir war leer. Albrecht war verschwunden.
Wenn ich nicht weitestgehend emotionskataton gewesen wäre, hätte ich vor lauter Aufregung am ganzen Körper gezittert. So aber betrachtete ich den vor mir liegenden Gang mit nüchternem Interesse.
Eine Etage unter mir hörte ich Schritte knirschen.
Annas Mörder, Philipp Albrecht, auf der Suche nach seinem Sohn – mit einem scharfen Gewehr im Anschlag.
»Leif, mein Junge.« Albrechts Stimme hatte einen zynischen Klang angenommen. »Was ist denn mit deinen hochgelobten kommunikativen Fähigkeiten? Warum sagst du nichts? Machst du dir gerade in deine hochbegabte Hose?«
Geräuschlos schob ich mich aus dem Einbauschrank und setzte ebenso geräuschfrei meine bloßen Fußsohlen auf die Fliesen. Mit lang gestrecktem Hals spähte ich über das Treppengeländer. Von Albrecht war nichts zu sehen.
Schnell huschte ich die Stufen hinunter.
Am Fuß der Treppe angekommen, warf ich einen raschen Blick in die Runde. Auch hier war niemand zu sehen.
Leise knirschten Glassplitter unter meinen Füßen. Das Geräusch tönte mir in der Stille unnatürlich laut in den Ohren.
Wie angewurzelt blieb ich stehen. Angestrengt lauschte ich. Kein Laut war zu hören.
Entweder hatte Albrecht eine Geduld wie ein Aborigine oder Nerven wie Drahtseile, oder aber er befand sich nicht mehr im Haus.
Als sich auch in den nächsten Minuten nichts im Haus rührte, ging ich davon aus, dass er es verlassen haben musste, obwohl ich keine Tür hatte klappen hören. Womit aber nicht die Frage beantwortet war, wo sich Leif befand.
Auch in der Küche war niemand.
Auf der Arbeitsplatte standen ein großes Glas mit einer ekelhaft süßen Nugatcreme und ein aufgerissenes Paket Toastbrot: das typische Frühstück eines Zehnjährigen, wie ich fand. Das klebrig verschmierte Messer lag auf dem Boden. Ein paar braune Nugatschlieren zeugten davon, dass das Messer nicht abgelegt, sondern quer durch die Küche geschleudert worden war.
Im Messerblock befand sich eine chromblitzende Armada feinst geschliffener Küchenmesser. Als ambitionierter Hobbykoch erkannte ich die scharfen japanischen Messer, von denen Rita Albrecht gesprochen hatte, auf den ersten Blick.
Geräuschlos zog ich ein schmales Tranchiermesser aus dem Messerblock.
Ich krieg dich!, dachte ich hasserfüllt und umklammerte den Griff des Messers. Und wenn du dich wehrst, wäre ich nicht traurig. Gib mir einen Grund, dich zu töten!
Dass ich ein Leben lang als Strafverteidiger und Anwalt auf der richtigen Seite des Gesetzes gestanden hatte, spielte seit Annas Tod für mich keine Rolle mehr. Zumindest jetzt, in diesem Moment, wo Annas Mörder irgendwo in diesem totenstillen Haus herumschlich. Offenbar kann jeder Mensch töten, wenn er nur einen entsprechenden Grund hat – oder das, was er dafür hält.
Mit dem Tranchiermesser in der Hand trat ich durch die noch immer weit offen stehende Terrassentür in den Garten hinaus.
Lautlos ging ich über den gepflegten Rasen, wobei ich darauf achtete, immer die Hecke im Rücken zu haben. Ich hatte keine Lust, ein zweites Mal hinterrücks angesprungen zu werden.
Außer dem gelegentlichen Gekreische einiger gelangweilter Schwarzkopfmöwen über mir war nichts zu hören, bis plötzlich eine Stimme leise zischte. »Jan!«
Erschrocken zuckte ich zusammen.
»Hier!«, ertönte die Stimme erneut.
Mit dem Messer in der Hand und jederzeit zum Angriff bereit, sah ich mich suchend um.
Die Tür der Sauna schob sich einen Spaltweit auf.
»Leif?« Argwöhnisch beäugte ich das blasse Gesicht im Türspalt.
»Komm hierher, Jan. Schnell!«
Das bleiche Gesicht gehörte tatsächlich dem Zehnjährigen, um den ich mir größte Sorgen gemacht hatte. Vollkommen zu Unrecht, wie sich gerade herausstellte. Der Junge konnte offenbar sehr gut auf sich selber aufpassen.
»Was ist hier los?«, platzte es aus mir heraus, als ich mich auf dem Boden der Sauna wiederfand und ich Leifs blasses Gesicht sah.
»Nun, sagen wir mal so …«, begann der Zehnjährige umständlich mit der Art von Erklärung, die ich gar nicht hören wollte.
»Hör auf, so geschwollen zu reden!«, fuhr ich ihn schroff an. »Was ist hier los?«
»Mein Stiefvater will mich vergewaltigen und dann umbringen. Oder umgekehrt. Bei der Reihenfolge bin ich mir noch im Unklaren«, sagte der Zehnjährige ohne Umschweife.
Ich starrte den Jungen entgeistert an. Mit einer solch unverblümten Antwort hatte ich nun überhaupt nicht gerechnet. »Ähm«, sagte ich vollkommen baff. »Äh, du bist gerade mal zehn.«
»Na und?« Scheinbar abgebrüht zuckte Leif mit den Schultern. »Alt genug, um von seinem Stiefvater …«
Mit einem Knall schlug die Saunatür gegen die Wand.
»Ach, da bist du!«, dröhnte eine tiefe Männerstimme.
Ein hässliches metallisches Geräusch erklang, als Albrecht sein Gewehr durchlud und die dunkle Mündung drohend auf mich richtete.
»Hau ab, Leif!«, brüllte ich und rammte dem Päderasten das japanische Tranchiermesser in den Unterschenkel, während ich seitlich unter dem Gewehrlauf wegtauchte. »Lauf! Los!«
Albrecht heulte schmerzerfüllt auf.
Flink wie ein Wiesel huschte Leif davon.
Donnernd löste sich ein Schuss aus Albrechts Flinte. Der Knall dröhnte noch schmerzhaft in meinen Ohren, als das Projektil bereits das Dach der Hütte durchschlagen hatte.
Der scharfe Geruch von Karbid legte sich auf meine Schleimhäute und brannte mir in den Augen.
Halb blind tastete ich mit fahrigen Händen meine Arme und Beine ab. Nichts, keine Einschusslöcher, kein Blut, keine Knochensplitter.
Überrascht blinzelte ich Richtung Tür, wo sich Philipp Albrecht halb in der Hocke an den Türrahmen gelehnt hatte, während er mit schmerzverzerrtem Gesicht sein Gewehr durchlud.
»Albrecht!«, fuhr ich ihn scharf an. »Nehmen Sie die Flinte runter!«
Er warf mir einen verächtlichen Blick zu.
»Albrecht!«
Langsam hob er die Waffe und visierte mich an.
»Sie waren das vorhin, der durchs Haus geschlichen ist«, sagte er, während er sein rechtes Auge zukniff, um mich besser ins Visier zu nehmen.
»Die Terrassentür stand offen«, erklärte ich.
»Und da spazieren Sie einfach ins Haus hinein und belauschen mich, wie ich mit meinem Sohn spreche?«
Jetzt war mir klar, dass Albrecht mich erschießen würde.
Ich war Ohrenzeuge seiner perversen Neigung geworden. Wahrscheinlich war er gerade im Begriff gewesen, Leif zu missbrauchen, als ich ihm in die Quere gekommen war.
Aber Herrgott, dafür erschießt man doch niemanden , ging es mir durch den Kopf. Hatten nicht mehr als genug Pädophile ihren Kopf aus der Schlinge gezogen, ohne jemanden umzubringen? Beispiele dafür gab’s genug, man brauchte sich nur Meldungen über Politiker oder Kirchenfürsten anzuschauen, die ungeschoren davongekommen waren.
»Ich habe gerufen …« Langsam nahm ich meine Hände hoch. »Sorry. Ich bin einfach reingelatscht. Ja. Aber gehört habe ich nichts. Es war ja niemand da«, log ich. »Und jetzt nehmen Sie bitte die Waffe runter.«
»Ich habe aber auch nichts gehört«, entgegnete Albrecht ironisch. »Und als Sie mir plötzlich gegenüberstanden … habe ich Sie für einen Einbrecher gehalten.«
Langsam krümmte sich sein Finger um den Abzugshahn seiner Flinte. Die dunkle Gewehrmündung sah mich unheilvoll an.
Ein scharfes Sirren ertönte. Ein Schlag, ein Aufschrei.
Mit zitterndem Schaft nagelte der gelbe Pfeil Albrechts Schusshand am hölzernen Schaft des Gewehrkolbens fest. Durch die Wucht des Aufschlags taumelte Albrecht, sodass das Projektil, das mir gegolten hatte, ebenfalls in die Holzdecke einschlug.
Vollkommen überrascht starrte ich den Pfeil an, der wie aus dem Nichts heraus Albrechts Hand durchbohrt und mir das Leben gerettet hatte.
Albrecht kann also nicht der Bogenschütze sein! , schoss mir die glasharte Erkenntnis durch den Kopf. Bevor ich weitere Schlüsse ziehen konnte, fuhr Leifs Vater mit einem gequälten Aufschrei herum und verschwand aus der Türöffnung.
Ich wusste nicht, wer mich vor dem tödlichen Schuss gerettet hatte. Es war mir aber auch völlig egal.
Ich wollte Annas Mörder. Und das war Philipp Albrecht!
Dass Albrecht nicht der Bogenschütze sein konnte, war mir jetzt klar, aber auch im Moment völlig egal. Für mich zählte im Moment alleine die Tatsache, dass Albrecht das Flugzeug sabotiert hatte und für Annas Tod verantwortlich war.
So schnell ich konnte, rappelte ich mich auf meine Knie. Ich stützte mich an der Holzwand der Sauna ab und tapste ins Freie.
Leif war ebenso wie sein Stiefvater verschwunden.
Mit einem Blick in die Runde vergewisserte ich mich, dass Albrecht sich nicht im Garten aufhielt. Vermutlich war er durch den Rosenbogen verschwunden. Ich war umsichtig genug, bevor ich ihm nachstürmte, einen Blick in den Schuppen zu werfen.
Als ich eine langstielige Axt an der Rückwand stecken sah, wusste ich, dass es eine gute Entscheidung gewesen war. Mit beiden Händen griff ich nach ihr und hebelte sie aus dem Holz.
Ich wiegte das schwere Werkzeug in der Hand. Albrecht war natürlich mit seinem Gewehr im Vorteil, aber das Gewicht der Axt lag beruhigend in meiner Hand und ich fühlte mich nicht wehrlos. Aber ich wäre Albrecht auch mit leeren Händen gefolgt. Mein Hass auf Annas Mörder loderte heiß.
Entschlossen umklammerte ich den hölzernen Stiel der schweren Axt, dann setzte ich Albrecht nach.
Mit schnellen Schritten lief ich den Piratenpfad entlang, durchquerte die Kurve und ließ das gemütlich wirkende Backsteingebäude hinter mir.
Über mir kreischten die Möwen im Wind der Abenddämmerung. Links und rechts von mir rauschte der Strandhafer in der Abendbrise. Vor mir hastete Annas Mörder durch die hereinbrechende Dämmerung.
Als plötzlich die Aussichtsplattform » Dree Water Utkiek « auftauchte, zu der ein hölzerner Steg führte, wollte ich schon daran vorbeieilen. Mir war klar, dass Albrecht nicht die schöne Aussicht genießen würde. Doch in diesem Moment sah ich auf dem Holz dunkelrote Blutflecken leuchten.
Ich verharrte in der Bewegung, die Axt an der Hüfte, jederzeit bereit, zuzuschlagen.
Albrecht war verletzt. Der Pfeil hatte ihn entweder getroffen oder der Schütze hatte einen zweiten Pfeil auf Albrecht abgeschossen, den ich nicht wahrgenommen hatte.
Doch von dem Bogenschützen war weit und breit nichts zu sehen. Außerdem gab es hier keine höher gelegene Düne, von der aus er ein umfassendes Blickfeld gehabt hätte. Wollte der Schütze Albrecht erwischen, musste er hierherkommen – oder ihn mir überlassen.
Sekunden später kam ich zu dem öffentlichen Toilettenhäuschen am Utkiek. Mit wenigen Schritten stand ich an der Tür zu den Toiletten: links die Damen, rechts die Herren.
»Albrecht!«, rief ich in das Halbdunkel hinein. »Werfen Sie Ihre Flinte weg und kommen Sie raus. Oder wollen Sie in einem öffentlichen Klo zwischen Papierresten und Klosteinen sterben?«
»Anwalt?«, lautete die Antwort.
»Letzte Chance!«, rief ich. »Kommen Sie raus oder ich hole Sie!«
»Sind Sie nicht Trautes Ex, dieser Anwalt?«, rief Albrecht zurück. »Was wollen Sie überhaupt von mir?«, tönte es aus dem Halbdunkel.
»Sie haben zwei Menschen kaltblütig getötet.« Meine Stimme zitterte vor Wut. »Dafür werden Sie zahlen!«
»Sind Sie irre?« In Albrechts Stimme schwang echte Überraschung mit. »Was haben Sie denn genommen? Wen soll ich denn umgebracht haben?«
»Ich komme jetzt rein und hole dich!«, rief ich hasserfüllt.
»Und wenn ich jemanden umgebracht haben sollte, dann können Sie als Anwalt ja schlecht selber das Recht in die Hand nehmen. Sie haben doch einen Ehrenkodex, Anwaltskammer und so …«
»Verlass dich nicht drauf, Arschloch!«, knurrte ich und nahm die Axt in beide Hände, dann stapfte ich los.
Der erste Schuss verfehlte mich knapp.
Der zweite Schuss aus Albrechts Flinte streifte mich wie ein glühend heißer Peitschenhieb oberhalb der Hüfte. Ich verspürte keinen Schmerz, die Hüfte fühlte sich lediglich taub an, wie von einem auskeilenden Maultier getroffen.
Dann war ich bei ihm.
Philipp Albrecht sah nicht sehr vorteilhaft aus, wie er mit blutverschmierter Hose auf dem Boden des Damenklos zwischen Mülleimer und Waschbecken eingeklemmt hockte und fieberhaft seine Taschen nach Munition durchsuchte. Das Jagdgewehr lag auf seinem Unterarm. Im Schaft steckte noch ein Stück von dem Pfeil, der auch seine Hand durchbohrt hatte, offenbar hatte er den Pfeil abgebrochen. Seine verletzte Hand war ebenfalls blutverschmiert.
»Lass es sein!«, warnte ich ihn, aber er wollte nicht hören.
Während er ein neues Kurzmagazin, das er in seiner Tasche gefunden hatte, in die Waffe schob, holte ich mit der langstieligen Axt aus.
Mit voller Wucht hieb ich die Schneide des eisernen Axtblatts unter den Gewehrschaft, sodass sich ein Schuss löste und den Spiegel zertrümmerte.
Albrecht heulte voller Schmerzen auf. Glasscherben regneten auf uns herab. Das Gewehr polterte zu Boden.
Ich holte mit der Axt aus, denn vor mir auf dem nassen und fleckigen Boden der öffentlichen Bedürfnisstätte saß Annas Mörder – er hatte es verdient zu sterben.
Mit Schwung holte ich aus.
Bevor ich aber die Axt in das angstverzerrte Gesicht Philipp Albrechts niederfahren ließ, bremste ich abrupt ab. Wenige Zentimeter vor seiner schwitzenden Fratze kam die blitzende Schneide der Axt in der Luft zum Stillstand. Es war, wie wenn ein Film abrupt angehalten wurde. Nur das Axtblatt vibrierte kaum wahrnehmbar, da sich das Zittern meiner in der Luft verharrenden Hand auf das Metall übertrug.
Vor mir hockte Annas Mörder.
Wie gern wollte ich diesem Mörder und Kinderschänder mit seiner eigenen Axt den Schädel spalten. Ob ich dafür in den Knast kam, war mir völlig egal.
Und doch konnte ich es nicht.
Ich war nicht wie Albrecht oder all die anderen Schwerverbrecher, Mörder und Killer, mit denen ich es in all den Jahren zu tun gehabt hatte.
Ich war kein Mörder.
Ich war nur verzweifelt und fühlte mich so schrecklich alleine ohne Anna. Albrechts Tod hätte sie nicht wieder lebendig gemacht, mich aber auf die gleiche Stufe wie ihren Mörder gestellt.
»Hören Sie auf. Bitte, bitte hören Sie auf!«, wimmerte Albrecht voller Panik. »Ich hab niemanden umgebracht. Ich hab doch nur den Fallschirm ausgetauscht.«
»Fallschirm, was für einen Fallschirm?«, fragte ich tonlos, die Schneide der Axt noch immer vor seinem Gesicht.
»Den von Milan«, antwortete er hastig. »Oben vor dem Absprung.«
»Warum?«
»Weil …« Albrechts Stimme zitterte, und aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich zwischen seinen Beinen ein dunkler Fleck und dann eine Pfütze bildeten. Offenbar machte ich ihm wirklich Angst. »Weil … der mich umbringen will.«
»Blödsinn!«, sagte ich kalt.
»Nein. Nein!« Albrecht schüttelte aufgeregt den Kopf, während ihm Schweiß und Tränen übers Gesicht liefen. »Manfred und …!«
»Manfred? Was ist mit Manfred?«, unterbrach ich ihn schroff.
»Er will mich umbringen«, beeilte Albrecht sich, zu erklären. »Er will mir meine Frau wegnehmen. Ich weiß, dass die beiden was miteinander haben. Außerdem bin ich hoch versichert. Rita bekommt fast eine Million, wenn ich sterbe. Manfred bekommt dann alles. Und Milan hilft ihm dabei.«
Noch immer schwer atmend, stand ich breitbeinig vor Annas Mörder und sah auf den Rotz und Wasser heulenden Albrecht hinunter. Nichts war mehr von dem arroganten Siegertypen übrig geblieben, den ich auf dem Flugplatz kennengelernt hatte.
Langsam nahm ich die Axt herunter.
»Hübsche Geschichte«, sagte ich spöttisch. »Hat nur einen Haken. Manfred saß beide Male selber in der Maschine und Milan ist tot.«
»Ja klar«, haspelte Albrecht bereitwillig los. »Die beiden, Manfred und Milan, oder einer von ihnen, hat die Cessna manipuliert. Eigentlich wollte ich am Morgen mit der Maschine nach Norddeich fliegen.«
»Mit welcher Maschine?«, wollte ich wissen. »Die gelbe, mit der Manfred im Hafen notgelandet ist?«
Eifrig nickte Albrecht. »Ja, genau. Manfred wollte ursprünglich das Sicherheitstraining mit Rita mit seiner zweiten Maschine machen.«
»Und wieso haben sie dann die andere Maschine genommen?« Skeptisch sah ich Albrecht an.
»Es gab in der Vergangenheit schon ein paar Versuche, mir etwas zustoßen zu lassen, so eine Art verkappte Mordanschläge. So als hätten sie sich noch nicht richtig getraut. Zuerst hab ich’s nicht glauben wollen, war aber dann die ganze Zeit auf der Hut. Besonders als ich mitbekommen habe, dass zwischen Rita und Manfred was lief. Am Abend vor dem Pinch Hitter habe ich mir Ritas Nachrichten auf ihrem Handy durchgelesen.«
»Einfach so?«, spottete ich. »Hat sie keine PIN?«
»Doch, klar«, erwiderte Albrecht. »Aber Rita ist einfallslos: Geburtsdatum der Kinder, Todestag des Vaters – war nie ein Problem, ihre Passwörter rauszubekommen. War meist viel Schweinkram, was die beiden sich geschrieben haben.«
»Wieso haben Sie Ihre Frau nicht einfach auf ihr Verhältnis angesprochen?«
»Pfft«, machte er spöttisch, fast schon wieder ganz der Alte. »Wissen Sie, was ’ne Scheidung kostet? Außerdem wollte ich das Miststück dabei erwischen, wenn sie mit ihrem Stecher versucht, mich umzubringen. Und ich wollte wissen, ob Milan mit denen gemeinsame Sache machte. Für den nächsten Tag hatten sie was vor. Mir war klar, dass Manfred irgendetwas an der Maschine herumgefummelt hatte, mit der ich am nächsten Morgen nach Norddeich fliegen wollte. Deshalb war ich dann auch der Erste im Hangar. Und ich hatte recht: Zwei Spinde waren aufgebrochen, wahrscheinlich um später die Schuld auf den großen Unbekannten zu schieben. Und das Gravity System der Cessna hatte jemand manipuliert. Die Belüftungsklappen waren mit Sekundenkleber fast komplett zugekleistert worden, sodass man zwar noch starten, aber nicht weit kommen konnte.«
»Wissen Sie, was ich als Anwalt als Erstes gelernt habe?«, fragte ich Albrecht.
»Nee.« Albrecht sah mich verständnislos an. »Was denn?«
»Ich habe gelernt, dass eine Lüge umso glaubwürdiger klingt, wenn sie die Wahrheit enthält«, antwortete ich. »Genau das Gleiche hat mir Manfred auch erzählt: Gravity System, Lüftungsklappen und weshalb ein Flugzeug vom Himmel fällt, wenn es keinen Sprit mehr hat.« Ich hob die Axt, die ich noch immer umklammert hielt, leicht an. »Genauso war’s wahrscheinlich auch – nur mit dem Unterschied, dass Sie beide Maschinen manipuliert haben. Als es das erste Mal nicht klappte, haben Sie es ein zweites Mal probiert, direkt nachdem Manfred mit mir geflogen war und nachdem er die Maschine für den nächsten Tag abgestellt hatte.«
In mir stieg der Hass auf Annas Mörder wieder hoch, diesmal nicht lodernd heiß, sondern eiskalt. Wenn ich Albrecht schon nicht umbrachte, wollte ich zumindest, dass er für beide Morde lebenslänglich bekam.
»Nein. Nein, hören Sie mir doch zu.« Albrecht war der sich erneut aufbäumende Hass in meinen Augen nicht entgangen, und vorsichtshalber verlegte er sich wieder aufs Betteln. »Ich war das nicht!«
Ohne Vorwarnung schlug ich aus dem Handgelenk heraus mit der flachen Seite des Axtblatts gegen die Wand, woraufhin zwei Fliesen mit einem dumpfen Geräusch zerplatzten.
»Und wieso steigt Manfred mit seiner Geliebten in das Flugzeug, das er kurz vorher selber sabotiert hat? Für wie blöd halten Sie mich eigentlich?«, schnauzte ich ihn wütend an.
Erschrocken fuhr Albrecht zusammen und drückte sich noch tiefer in die Ecke neben dem Waschbecken. »Weil er musste«, sagte er schnell und wischte sich mit dem Ärmel den Rotz von der Nase. »Bei der Maschine, mit der Manfred an dem Morgen das Training mit Rita machen wollte, habe ich die Zündung lahmgelegt, die sprang nicht an. Als es dann morgens mit dem Flugbetrieb losging, hatte sich auch die ganze Meute versammelt.«
»Was denn für eine Meute?«, fragte ich knapp.
»Die Fallschirmspringer, die bei den Gruppensprüngen mitmachen. Die Truppe stand beieinander und hat sich darüber amüsiert, dass Manfreds Maschine nicht ansprang. Ich habe ihm dann angeboten, dass er die andere Cessna nimmt, sie gehört ja schließlich ihm. Ich habe ihm gesagt, dass ich meinen Flug verschiebe und stattdessen mit der Meute ein paar Sprünge absolviere. Er konnte mein Angebot nicht ablehnen, mit welchem Grund auch? Also hat er die Cessna genommen, die er selber manipuliert hat. Aber er ist kein großes Risiko eingegangen, er wusste ja, was los war und dass er gezwungen sein würde, eine Notlandung hinzulegen. Das war aber kein Problem für ihn, Manfred ist ein alter Buschpilot, der landet jeden Vogel.«
Während Albrecht mir die Geschichte von dem Flugzeugtausch erzählte, war er unauffällig zentimeterweise näher an sein Gewehr gerutscht, das noch immer eine Armlänge von ihm entfernt auf dem Boden lag. Als er vorschnellte und seine Hand nach der Flinte ausstreckte, kam ich ihm zuvor. Ich trat auf sein Handgelenk, das ein trockenes Knacken von sich gab, und bückte mich gleichzeitig nach dem Gewehr.
»Wie gesagt«, sagte ich mit kalter Stimme und richtete die Mündung auf seinen Kopf. »Hübsche Geschichte mit hohem Wahrheitsgehalt, aber nicht die ganze Wahrheit. Die Flugzeuge waren beide manipuliert, weder von Milan noch von Manfred. Sie waren es, der die Maschinen sabotiert hat – Sie haben Anna auf dem Gewissen.«
Albrecht rutschte noch weiter in die Ecke hinein und presste mit der blutverschmierten Hand die Hand, die unter meinem Fuß laut geknackt hatte, an seine Brust. »Nicht. Bitte nicht!«
»Eins noch«, setzte ich an wie Inspektor Columbo, wenn der Fall eigentlich schon abgeschlossen schien. »Warum haben Sie den Fallschirm ausgetauscht?«
»Weil …«, Albrechts Unterlippe begann zu zittern, »… weil ich Angst hatte, dass nicht nur das Flugzeug, mit dem ich fliegen wollte, sabotiert, sondern auch der Fallschirm präpariert war.«
»Nach dem Motto ›Doppelt hält besser‹?«, lachte ich böse. »Manfred manipuliert die Cessna und Milan Ihren Fallschirm? Hätte zumindest die Erfolgschance erhöht.«
»Das sag ich doch die ganze Zeit.« Jetzt liefen Albrecht Tränen übers Gesicht. »Nehmen Sie das Gewehr runter. Ich flehe Sie an!«
Erstaunlich, was die Mündung eines Jagdgewehrs aus einem Menschen macht, wenn er direkt hineinblickt.
»Haben die Farben der Fallschirme eigentlich eine Bedeutung?«, fragte ich, denn wenn dem so war, konnte es tatsächlich sein, dass der Mörder gar nicht Milan Siebrandt hatte töten wollen, sondern … Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Das wäre in diesem Mordanschlagsgeflecht dann die dritte Verwechslung gewesen. Oder mit anderen Worten: Albrecht war dem Tod dreimal von der Schippe gesprungen.
So was kann sich sogar ein Krimiautor erst nach dem dritten Whisky ausdenken – zu unglaubwürdig. Aber erfahrungsgemäß ist das Leben oftmals makabrer, als es sich die Fantasie ausmalen kann.
»Ja, klar«, antwortete Albrecht. »Bei den Gruppensprüngen muss sich jeder Springer mit seiner eigenen Farbe anmelden. Damit die Preisrichter bei Wettkämpfen die Springer auseinanderhalten können.«
Also doch . Grimmig nickte ich. Anna hatte mit ihrer Vermutung recht gehabt, anhand der Farbe der Fallschirme konnte der jeweilige Springer identifiziert werden.
Wenn Albrecht die Schirme vertauscht hatte, war Milan gar nicht das Ziel des Mörders gewesen, sondern Philipp Albrecht. Dann hätte er recht gehabt mit seinem Verdacht des Mordkomplotts gegen ihn, denn auch die denkbaren Motive von Rita Albrecht, Bendix und Milan waren stark genug, um einen Mord zu begehen: Albrechts Lebensversicherung für Milan und Manfred, Beseitigung des überflüssigen Ehemanns für Rita und Manfred – und: Rache für den Missbrauch von Leif für Rita. Jeder der drei hatte gewichtige Gründe, Philipp Albrecht tot sehen zu wollen.
»Oder … ein Motiv fehlt noch …«, flüsterte ich kaum hörbar mir selbst zu, während ich noch immer Albrechts rechtes Auge über Kimme und Korn anvisierte. »Albrecht muss sterben, damit Leif geschützt wird … der Schutzengel, der auch tötet …«
»Was flüstern Sie da?«, wimmerte Albrecht. »Sind Sie irre?«
Wenn Leifs Bruder Vince sich als Schutzengel seines Bruders fühlte und töten würde, um seinen Bruder zu schützen, wie seine Mutter Rita Albrecht mir gesagt hatte, konnte es Vince gewesen sein, dessen Mordanschläge auf seinen Stiefvater tatsächlich dreimal in die Hose gegangen waren. Der Vince, der einer der besten Schützen seines Jahrgangs in der Jobi gewesen war. Wie auch der Vince, der die Möwe abgeschossen hatte, als er seinem Stiefvater aufgelauert hatte, um ihm, der wehrlos am Fallschirm schwebte, einen Pfeil durch den Hals zu schießen. Zu Milans Unglück hatte es den Falschen getroffen.
»Waffe weg, de Fries!«, brüllte unvermittelt eine Männerstimme hinter mir. »Lassen Sie die Waffe fallen – sofort!«
Ich zuckte unmerklich zusammen.
Immer dann, wenn man ihn nicht brauchen kann, dachte ich zähneknirschend.
Dummerweise tauchte Kommissar Mackensen gerade heute im falschen Moment hier auf dem Damenklo auf. Ich hatte noch ein paar Fragen an Albrecht gehabt.
Erschossen jedoch hätte ich Albrecht nicht – mir war sehr klar geworden, dass ich weder Mörder noch Racheengel war.
Außerdem hatten Albrechts Erklärungen Zweifel in mir aufkommen lassen, ob er es wirklich gewesen war, der die Cessna manipuliert hatte.
»Ich sage es nicht noch einmal, de Fries!«, donnerte Mackensen in meine Gedankenflut hinein. »Nehmen Sie die Waffe runter!«
Mackensens Gebrüll schmerzte mir in den Ohren. Langsam senkte ich den Lauf des Jagdgewehrs.
»Ganz langsam«, sagte eine zweite Stimme, auf die ich gern verzichtet hätte, Mackensens Kollege Freud, der seinem Namen für gewöhnlich keine Ehre machte.
Langsam beugte ich mich zur Seite und legte die Flinte außerhalb der Reichweite Albrechts auf den Boden.
»Und nun?«, brummte ich.
»Und nun«, erwiderte Kommissar Mackensen gut gelaunt, »sind Sie hiermit festgenommen.«
»Der Arsch wollte mich umbringen!«, zeterte Albrecht lautstark los.
»Halten Sie den Mund«, befahl Mackensen knapp. »Sie sind auch verhaftet: Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, Handel mit verbotenem pornografischem Material, Körperverletzung, um nur einige der Straftaten zu nennen, deretwegen wir Sie in Haft nehmen.«