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Mackensens Worte klangen noch immer in meinen Ohren, als ich mich auf dem schmalen Bett des kleinen Dachzimmers im Bismarck-Blick ausstreckte. Motte hatte auf dem Boden vor dem Minibett Quartier bezogen, sodass das Zimmer ausgefüllt war.
Ich lag auf dem Rücken und schaute durch das schmale Dachfenster über mir in den Nachthimmel. Fahles Mondlicht fiel ins Zimmer und tauchte den winzigen Raum in geisterhaftes Licht.
Ich war am Abend nach Albrechts Verhaftung und meiner Festnahme in Tamaras gemütliche Pension zurückgekehrt, in der ich mit Anna unwiederbringliche Stunden verbracht hatte. Mackensen hatte mich laufen lassen. Keine Ahnung, ob er mich als entlastet sah oder mich mit einem Thyras-Vater-Bonus bedacht hatte. Es war mir aber auch vollkommen egal. Meinetwegen hätte er mich auch einsperren und den Schlüssel wegwerfen können.
Ohne ein Wort zu verlieren, drückte mir Tamara den Schlüssel für das Minizimmer unterm Dach in die Hand, das so klein war, dass es für Normalgäste nicht zu vermieten war. Sie wusste, dass ich es nicht über mich brachte, in dem Zimmer zu übernachten, das ich mit Anna bewohnt hatte.
Tamaras Dachzimmer war so winzig, dass ich mit den Fingerspitzen beide Seitenwände gleichzeitig berühren konnte, wenn ich die Arme ausstreckte. Das Mobiliar war spartanisch: Ein kleiner Schreibtisch mit einem Holzstuhl stand unter dem handtuchbreiten Fenster, das Richtung Strand hinausging und sicherlich bei Tageslicht einen fantastischen Ausblick auf das Meer bot. In einer kleinen Wandnische befand sich der Einbauschrank, in den bestenfalls ein paar Unterhosen und Socken hineinpassten. Das Bett unter der Dachschräge war Marke Eigenbau und so kurz, dass ich nur mit angezogenen Beinen drin liegen konnte.
Aber obwohl das Zimmer winzig war, entfaltete es seinen Zauber, als ich noch einmal aufstand und das Dachfenster öffnete: Nur das leise Rauschen der Brandung war zu hören, untermalt von Mottes Schnarchen, der es sich nun gnädigerweise vor dem Bett bequem gemacht hatte und fast den ganzen Fußboden ausfüllte, als er sich ausstreckte. Ich tat es ihm nach und ließ mich wieder auf die harte Matratze fallen.
Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so verzweifelt und alleine gefühlt wie in dieser Nacht. Ich vermisste Anna so sehr, dass es mir körperlich wehtat, an sie zu denken. Aber ich musste ständig an sie denken: Ihr Lachen, ihre Augen … ich wusste nicht, wie ich jemals über ihren Tod hinwegkommen sollte.
Die ganze Nacht lag ich regungslos auf dem viel zu kurzen Bett und lauschte in die Stille hinein. Erst als sich der Morgen mit einem schmalen Streifen am Horizont ankündigte, fielen mir die Augen zu.
Mottes Schnaufen weckte mich am Morgen.
Verschlafen und vollkommen zerknautscht blinzelte ich in das helle Sonnenlicht, das durchs Dachfenster auf mich fiel. Mühsam und mit schmerzenden Knochen wälzte ich mich auf die Seite.
Motte hockte vor dem Bett und sah mich mit seinen dunklen Augen traurig an. Der Dicke vermisste Anna ebenso wie ich und spürte ganz genau, wie es mir ging.
»Jetzt sind wir beide wieder alleine«, sagte ich und fuhr ihm über den Kopf. »Unsere Anna kommt nicht wieder.«
Motte stieß einen schweren Seufzer aus, er trauerte ebenso wie ich um Anna und würde auch seine Zeit brauchen, um darüber hinwegzukommen, dass sie nicht mehr da war.
Ob wir wollten oder nicht, das Leben ging einfach weiter.
Langsam quälte ich mich aus dem Bett. Meine Morgentoilette beschränkte sich auf ein paar Handvoll Wasser, die ich mir in dem kleinen Bad draußen auf dem Flur ins Gesicht klatschte, bevor ich mit Motte runter zum Frühstück ging.
Tamara hatte gerade eine große Pfanne Rührei mit Schinken auf dem Herd, als ich die Küchentür aufdrückte.
»Moin, ihr beiden«, begrüßte sie uns und zog die Pfanne vom Herd, während sie mich prüfend musterte. »Ihr kommt genau richtig. Frühstück ist fertig.«
»Moin, Tamara«, grüßte ich und zog mir einen Stuhl heran. »Für mich bitte nur einen Kaffee.«
Tamara sah mich verblüfft an. »Nichts sonst heute?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nur Kaffee bitte.«
Tamara stellte mir eine Tasse und eine Thermoskanne auf den Tisch. »Magst du nichts essen?«
Wieder schüttelte ich den Kopf, während ich den dampfenden Kaffee in die Tasse goss.
Tamara legte mir ihre Hand auf die Schulter. »Ich weiß, was du gerade durchmachst, Jan«, sagte sie sanft. »Es können dich jetzt auch keine Worte trösten, darum versuche ich es erst gar nicht. Du sollst nur wissen, wenn ich dir irgendwie helfen kann, bin ich für dich da.«
Auch wenn Tamara sagte, dass sie mich nicht trösten könne, tat mir ihre Anteilnahme gut.
»Danke, Tamara«, sagte ich mit einem Kloß im Hals und legte meine Hand auf ihre. »Das ist lieb von dir.«
Tamara wandte sich ab und begann am Herd zu werkeln. Ich trank schweigend den Kaffee und versuchte, den leeren Stuhl nicht zu sehen, auf dem Anna mir immer gegenübergesessen hatte.
Es gelang mir nicht. In mir stiegen Bilder der letzten Tage auf: Anna im Café Baumann’s, Annas glücklicher Blick, als wir verschwitzt nebeneinander im Bett lagen, Anna … Anna … ich hielt es nicht mehr aus!
Abrupt setzte ich die Tasse mit einem lauten Geräusch ab. Kaffee schwappte auf die Untertasse.
»Ich bin mal oben«, sagte ich hastig und schob den Stuhl zurück.
Motte hob den Kopf von seinem Futternapf und sah mich fragend an.
»Bleib hier«, sagte ich zu ihm. »Ich hole dich gleich ab.«
Schnell verließ ich die Küche und hastete den Gang entlang. Ich musste hier weg, ich hielt es im Bismarck-Blick nicht mehr aus. Als ich an der Tür zu dem Zimmer vorbeikam, das Anna und ich bewohnt hatten, zögerte ich einen Moment, schloss kurz die Augen und drückte dann mit Schwung die Klinke hinunter.
Das Zimmer sah noch genauso aus, wie ich es zurückgelassen hatte, um Anna zurückzuholen. Anna hatte ja ihre Sachen mitgenommen, weil sie die Insel verlassen wollte. So schnell ich konnte, packte ich meine Sachen zusammen. Ich wollte nur weg von hier.
Meine Verabschiedung von Tamara war herzlich, aber knapp.
Wir umarmten uns wortlos, dann schwang ich mich auf das geklaute Damenfahrrad, das noch immer am Fahrradständer lehnte, und machte mich auf zum Hafen. Ich wollte die erste Fähre erwischen.
Motte trottete gemächlich hinter mir her.
Die Polizei hatte die Fährverbindung wieder freigegeben. Dementsprechend viele Urlauber, deren Fähren ausgefallen waren, hatten sich bereits um den Fähranleger versammelt und warteten geduldig, bis sich die Kasse öffnete. Ich reihte mich in die Schlange ein und wartete ungeduldig, bis ich endlich an der Reihe war und mein Ticket kaufen konnte.
Mit der üblichen Betriebsamkeit füllte sich die Fähre: Urlauber, Einheimische, die Besorgungen an Land machen mussten, Handwerker und ein paar Tagesausflügler, die durch Trautes Sperrung auf Juist gestrandet waren und schnellstmöglich zurück aufs Festland wollten.
Ich stieg die Metalltreppe zum Oberdeck hinauf und suchte mir ein ruhiges Eckchen, von wo aus ich zum Hafen hinüberschauen konnte. Motte sprang an der Reling hoch, legte seine Pfoten darauf und den Kopf auf die Vorderbeine. Gemeinsam schauten wir zum Hafen hinüber, während die Fähre langsam ablegte, gefolgt von einer schnittigen Jacht, die versuchte, sich ziemlich dicht an der Frisia vorbeizudrücken.
Trübsinnig kraulte ich Motte hinter den Ohren, während ich desinteressiert das rücksichtslose Manöver des Freizeitkapitäns auf der Jacht beobachtete.
Ich wusste nicht, ob ich jemals wieder nach Juist zurückkehren würde. Zu schmerzhaft war die Erinnerung an das Geschehene.
Mit einem Ruck wandte ich mich ab und drehte meiner einstigen Lieblingsinsel den Rücken zu. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und ließ meinen Blick über die Köpfe der Passagiere zum Bug der Fähre wandern.
In diesem Moment sah ich ihn!
Wie elektrisiert fuhr ich zusammen, als ich den gut aussehenden jungen Mann erkannte, den ich auf Rita Albrechts Fotos gesehen hatte.
Vince hatte eine große schwarze Reisetasche geschultert und stand auf der gegenüberliegenden Seite des Oberdecks.
Im selben Moment, als ich ihn erkannte, sah auch er mich.
Unsere Blicke kreuzten sich, und als ich in seine Augen sah, wusste und spürte ich, dass mir Annas Mörder und der von Milan gegenüberstand.
Vince Albrecht erwiderte meinen Blick.
Er wusste, wer ich war.
Und ich wusste, wer er war.
Ein schmales, wissendes Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab, als er mich ansah.
Spöttisch, ja fast überheblich musterte er mich, wohl wissend, dass ich ihm nichts anhaben konnte, ihm nichts beweisen konnte. Denn Annas Mörder war ja bereits gefasst, sein Vater – Philipp Albrecht.
Mit einem Griff streifte ich den Rucksack von meiner Schulter, in dem ich meine Sachen verstaut hatte – unter anderem auch den gelb-schwarzen Pfeil, den die Kripo am Tag nach der Untersuchung zurückgebracht und den Tamara mir gegeben hatte, als ich meine Sachen zusammenpackte.
Langsam zog ich den Karbonpfeil aus meinem Rucksack und hielt ihn hoch.
Vince’ Blick wurde starr, als er den Pfeil sah.
Er hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass ich das Beweisstück noch hatte, mit dem er an der bedauernswerten Möwe den Todesschuss an Milan Siebrandt geübt hatte. An dem Abend, als er mich wie einen Rollbraten verschnürt in der Aussichtshütte hatte liegen lassen, war er gemeinsam mit seinem Bruder in unser Zimmer im Bismarck-Blick eingebrochen. Die Spuren am Schloss und die Holzsplitter hatte ich gesehen. Er hatte ausreichend Zeit gehabt, das Zimmer und unsere Sachen komplett zu durchsuchen, aber den Pfeil hatte er nicht gefunden. Wahrscheinlich war er daraufhin davon ausgegangen, dass ich ihn weggeworfen hatte. Er hatte offenbar nicht die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass der Pfeil sich zu dem Zeitpunkt bei der Polizei befand. Und er konnte nicht wissen, dass mir der Pfeil nach der kriminaltechnischen Untersuchung zurückgegeben worden war.
Mit bösem Grinsen deutete ich mit meinem Zeigefinger zunächst auf Vince und danach auf den Pfeil, um dann meine Hände über Kreuz zu halten. Offensichtlich verstand er meine Geste, die mehr als deutlich war.
Sein Blick schien mich zu durchbohren, wie der Pfeil in meiner Hand die bedauernswerte Möwe aufgespießt hatte.
Plötzlich ertönte das Signalhorn der Fähre viermal kurz hintereinander. Später habe ich mir sagen lassen, dass dieses Signal bedeutet: Man kann mich nicht überholen . Aber intuitiv ahnte ich in diesem Moment, dass die Jacht, die ich eben noch beobachtet hatte, ein Manöver fuhr, das dem Kapitän der Frisia nicht gefiel.
Ich warf einen schnellen Blick in die Runde.
Alle Fahrgäste hatten sich auf der Steuerbordseite versammelt und reckten ihre Hälse nach dem Verkehrsrowdy. Niemand achtete auf Vince oder mich.
Das schien auch Vince bemerkt zu haben. Mit einer blitzschnellen Bewegung beugte er sich zu seiner dunklen Reisetasche hinunter und zog einen Bogen heraus. Gleichzeitig zog er mit der anderen Hand einen der gelb-schwarzen Pfeile, deren Treffsicherheit ich an der toten Möwe und Milan Siebrandt hatte feststellen müssen.
Mit einer fließenden Bewegung legte Annas Mörder den Pfeil an die Sehne und visierte mich an. Vince’ Griff nach der Mordwaffe, um die es sich handeln musste, und das Anlegen auf mich hatten nur Sekundenbruchteile gedauert.
Ich starrte auf die Spitze des Hochgeschwindigkeitspfeils, über dessen Schaft Annas Mörder mich anvisierte.
In diesem Moment schloss ich mit dem Leben ab.
Aber mein Leben war mir im Moment vollkommen egal.
Meinem treuen Hund nicht.
Unmittelbar bevor der Pfeil mit einer Geschwindigkeit von schätzungsweise hundert Stundenkilometern von der Sehne schnellte, sprang Motte mit einem gewaltigen Satz hoch und wurde einen Sekundenbruchteil darauf vom Pfeil getroffen.
Mottes Jaulen riss mich aus meiner Erstarrung.
Ich wirbelte zu ihm herum, der mit einem kläglichen Jaulen aufs Deck stürzte.
Mit wenigen Schritten war ich bei Motte und tastete ihn mit zitternden Händen ab. Erleichtert stellte ich fest, dass lediglich sein Ohr durchbohrt war, wobei das für den Dicken schon schmerzhaft genug war.
Ich strich Motte kurz übers Fell und richtete mich wieder auf.
Annas Mörder hatte bereits einen zweiten Pfeil angelegt und spannte die Sehne zum tödlichen Schuss auf mich – diesmal würde Motte mich nicht retten.
Wie hypnotisiert erwartete ich den tödlichen Pfeil.
In diesem Moment peitschte ein Schuss.
Vince Albrecht zuckte zusammen, als hätte ihn ein elektrischer Schlag getroffen. Auf seinem Gesicht zeichnete sich ein überraschter Ausdruck ab, als ein kleines rundes Loch auf seiner Stirn erschien, das vorher noch nicht dort zu sehen gewesen war.
Vince Albrecht schien nicht glauben zu können, dass er bereits tot war, während er noch auf seinen Beinen stand – und wurde eines Besseren belehrt.
Mit einer fast eleganten Bewegung drehte er sich um die eigene Achse, machte noch zwei Schritte und stolperte gegen die Reling. Durch die Wucht des Aufpralls stürzte er, ohne einen Laut von sich zu geben, rücklings über Bord.
Regungslos starrte ich auf die Stelle, wo noch einen Sekundenbruchteil zuvor Vince Albrecht gestanden hatte.
In Zeitlupe wandte ich meinen Kopf.
Am Treppenabgang stand regungslos Kommissar Mackensen, der noch immer seine Dienstwaffe in der Hand hatte, mit der er Annas Mörder gerade eine Kugel in den Kopf geschossen hatte.
Langsam ließ Mackensen seine Waffe sinken. In seinem Gesicht arbeitete es. Er hatte gerade einen Menschen erschossen, was ihn sichtlich bewegte. Er war doch nicht die coole Sau, die er immer zu sein schien.
Unsere Blicke begegneten sich.
Ich wusste gerade nicht, ob ich Mackensen wirklich dankbar sein sollte, dass er mich vor dem tödlichen Schuss bewahrt hatte. Nach Annas Tod spürte ich nur Schmerz und Verzweiflung in mir, und es war mir völlig egal, was mit mir geschah. Annas Mörder zur Strecke zu bringen, war das Einzige, das mir wichtig gewesen war. Und genau das hatte Mackensen gerade getan, um mich zu retten. Andererseits hieß, Annas Mörder zur Strecke zu bringen, nicht, dass ein junger Mann sein Leben verlieren sollte – egal, was er getan hatte. Vince Albrecht hatte für die Morde an Anna und Milan die Höchststrafe verdient – lebenslänglich. Nicht aber den Tod, auch wenn mein Leben gerettet wurde.
Deshalb nickte ich Mackensen nur wortlos zu, bevor ich mich zu Motte hinunterkniete, um zu sehen, wie es ihm ging.
Mackensen erwiderte ebenso wortlos meine Geste und verstaute seine Waffe unter seiner Lederjacke.
Motte würde überleben, der Pfeil hatte lediglich etwas Knorpel von seinem Ohr herausgerissen.
»Da machen wir dir einen Ohrring rein«, flüsterte ich dem Dicken ins Ohr und vergrub mein Gesicht in seinem zotteligen Fell.