Ruhig sein,
nicht ärgern,
nicht kränken,
ist das allerbeste Schenken;
aber mit diesem Pfefferkuchen
will ich es noch mal versuchen.
– Theodor Fontane –
»Gott, das Handy ist super«, sagte mein Töchterchen begeistert. »Damit könnte ich sogar dein Auto öffnen.«
Wir zwei hatten uns auf den Weg zur neuapostolischen Kirche gemacht, wo es dieses Jahr ein Gospelkonzert gab. Bislang waren wir immer in der Kirche zum Gottesdienst gewesen, doch dieses Weihnachten wollte ich mal was anderes erleben.
Vor der Kirche auf dem Platz wimmelte es bereits vor Leuten, die alle zum Eingang strömten. Wenn wir noch einen guten Platz ergattern wollten, mussten wir uns endlich beeilen.
»Komm, Kind, ich will nicht ganz hinten auf den billigen Plätzen sitzen«, trieb ich Davina an.
Doch sie starrte nur auf ihr neues Telefon und wandelte wie ein Smombie durch die Gegend. »Pops, das Konzert ist doch kostenlos.«
Deshalb griff ich einfach wortlos zu ihrem Arm und bugsierte sie in Richtung Eingang.
Fünf Minuten später ließen wir uns auf die Holzbank sinken. Wir hatten vielleicht nicht mehr die Plätze in der ersten Reihe bekommen, saßen aber im guten Mittelfeld. Damit war ich vollkommen zufrieden. Vorne hatte sich bereits der Chor versammelt. Sie trugen allesamt blaue lange Roben und tuschelten wild durcheinander.
»Kannst du jetzt bitte dein Handy wegpacken?«, flüsterte ich Davina zu.
»Moment«, flüsterte sie zurück. »Wusstest du, dass Mona Seidel eine gefragte Bestsellerautorin ist?«
Ich nickte. »Klar, was meinst du, was ich gemacht habe, bevor ich dich abholen kam?«
Sie warf mir einen schnellen Seitenblick zu und grinste. »Gegoogelt?«
Ich nickte. »Aber nur kurz. Schließlich bin ich kein Stalker.«
Sie lachte auf und fummelte einfach weiter am Display herum. »Mist. Wo kann ich denn jetzt das Telefon auf lautlos stellen?«
Da fiel mir noch etwas ein. »Du sagtest, der Junge ist in deiner Badminton-AG. Hast du ihn mal gefragt, ob er dir einen Ball oder Schläger geben kann? Oder sich mit dir zusammen aufwärmen will?«
Ohne ihren Blick vom Display zu nehmen gab Davina zurück: »Pops, dann weiß er doch gleich, was los ist.«
Ausnahmsweise verdrehte ich die Augen. Versteh einer die Teenies.
***
Eine halbe Stunde später saßen alle vollgefressen sowie rundum zufrieden auf der Couch, schlürften Irish Coffee und lauschten den weihnachtlichen Klängen von Boney M.
»Wann machen wir eigentlich Bescherung? Vor oder nach dem Konzert?«, fragte Lisa zwischen zwei Liedern in die Runde. Dies war ein Punkt, an dem sich meine Familie nicht streng an irgendwelche Traditionen hielt.
Mein Herz klopfte los. Nun kam ich wirklich nicht mehr drum herum. Ach was soll’s. Lange wie die Katze um den heißen Brei schleichen, nützte ja auch nix. »Also, ich muss euch da was beichten.«
Umgehend fixierten mich acht Augenpaare stumm. Unter den ganzen neugierigen Blicken fühlte ich mich unwohl.
»Was, dass du womöglich einen Lieferservice mit dem Essen beauftragt hast?« Meine Schwester zwinkerte mir zu.
Ich ärgerte mich über ihren spitzfindigen Kommentar. Sie hatte mir bereits das Geschenkpapier unter die Nase gerieben – immerhin hatte ich noch goldenes Schleifenband drumgewickelt, nachdem ich die Geschenke in Zeitungspapier verpackt hatte. Oder die Hundehaare auf dem Boden – man glaubt es kaum, aber ich war in dem Chaos wirklich nicht mehr dazu gekommen, noch die Wohnung zu saugen. Aller »guten« Dingen waren drei und ich hatte große Lust, sie achtkant aus der Wohnung zu werfen. Konnte sie nicht wenigstens einmal einfach glauben, dass auch ich etwas auf die Reihe bekam? Das Essen war mir doch wirklich gut gelungen, wenn auch erst beim zweiten Mal, aber das wusste sie ja nicht.
»Nein, dass ich euch Fertiggerichte vorgesetzt habe natürlich«, gab ich deshalb extra bissig zurück.
Meine Schwester rollte daraufhin gleich theatralisch mit den Augen. Ihre Art mir zu sagen, dass sie sich einen weiteren Kommentar wegen unserer Mutter nur schwer verkneifen konnte. Ich schluckte ebenfalls einen weiteren Kommentar herunter und holte tief Luft. Jetzt oder nie. »Ich habe leider keine Karten mehr für das Weihnachtskonzert bekommen.«
Lisa riss die Augen auf. »Was? Aber wir gehen doch jedes Jahr hin. Hast du etwa vergessen, welche zu besorgen?«
Leise seufzte ich auf. Schweigen fiel mir bei ihr wirklich schwer. Aber es war Heiligabend und ich wollte einfach nicht streiten. »Ich hatte erst gedacht, wir holen einfach Karten an der Abendkasse, aber dieses Jahr gibt es keine.«
»Ist ja mal wieder typisch«, legte meine Schwester gleich los. Wenn sie eine Schwäche an Menschen fand, konnte sie nicht umhin direkt gnadenlos das Messer hineinzustoßen und sogar ein paar Mal in der Wunde herumzustochern, wie ein Schürhaken im heißen Feuer. »Würdest du vielleicht mal eine To-do-Liste anlegen, so wie ich es dir ständig predige, würdest du auch nichts vergessen. Du solltest dir mal ein Beispiel an mir nehmen. In sechs Jahren Modelbusiness habe ich nicht ein einziges Mal auch nur eine Tube Make-up vergessen«, ätzte sie weiter. »Nur du kriegst es mal wieder nicht gebacken, innerhalb von zwölf Monaten fünf blöde Karten zu besorgen.«
»Mädchen, bitte«, jammerte meine Mutter. Mein Vater und mein Großvater tauschten nur Blicke aus.
Ich war bereits wütend von meinem Sessel aufgesprungen. Wieso war sie immer so darauf aus, mich mit ihr zu vergleichen? Und woher nahm sie das Recht, mich zu kritisieren – nach allem, was sie mir angetan hatte?
»Immerhin vergesse ich nicht, welche Männer für mich tabu sind, dafür brauche ich keine Liste«, bemerkte ich. »Ich glaube, ich will gar nicht wie du sein. Kurz gesagt, zwischen uns liegen Welten. Und das ist auch ganz gut so.« Angriffslustig stemmte ich die Hände in die Hüften. Lange genug hatte ich mir doch Lisas hochmütige Art gefallen lassen. »Zum Glück, denn zwei arrogante Models würde Mutti nämlich sicher nicht ertragen. Außerdem bin immer ich diejenige, die hier zu Hause ist und sich um den Rest der Familie kümmert, während du durch die Weltgeschichte jettest und nur dann kommst, wenn es dir passt.«
Lisa sprang nun ebenfalls auf. Provokant reckte sie ihr Kinn nach vorne. »Aber zwei alte Jungfern, die sich einigeln und die Wohnung lediglich virtuell verlassen, würde Mutti auch nicht ertragen. Und ich habe ihr zumindest was zu erzählen, wenn ich nach Hause komme.«
Ich sog scharf die Luft ein. »Wenn du mal kommst! Was für gewöhnlich nur an Weihnachten, Ostern oder Geburtstagen vorkommt, wo du anderen Leuten zu allem Überfluss noch die Freunde vor der Nase wegschnappst.« So das musste mal gesagt werden. Viel zu lange hatte ich doch wegen meiner Mutter gute Miene zum bösen Leonspiel gemacht.
»Mädchen, bitte«, jammerte meine Mutter wieder.
»Lass sie«, meinte Opa Günther ruhig.
»Immer raus damit, wenn’s keine Miete zahlt«, pflichtete mein Vater ihm bei und streichelte meiner Mutter beruhigend die Hand.
Und ja, jetzt reichte es mir. Lisa konnte sich doch nicht alles erlauben.
Meine Schwester schnaubte auf. »War ja klar, dass du das wieder ausgraben würdest. Anscheinend bist du über den Typen immer noch nicht hinweg.«
»Wieso hast du dir DEN TYPEN denn überhaupt gegriffen?«, echauffierte ich mich. Doch Lisa schwieg. Sie presste lediglich die Lippen aufeinander und schien sich nicht dazu äußern zu wollen.
Wir beide standen uns nun auffordernd gegenüber und fixierten uns gegenseitig mit bösen Blicken. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die Erste mit Haareziehen, Kratzen, Beißen oder Spucken anfangen würde.
Meine Mutter sprang nun doch auf. »Mädchen, streitet euch bitte nicht. Und schon gar nicht wegen eines Kerls, der es wirklich nicht wert ist. Eigentlich wollten wir uns da alle raus halten, aber ehrlich gesagt war Leon alles andere als ein Mann mit Charakter, um den man sich streiten müsste.«
Ich warf meiner Mutter einen konsternierten Blick zu. »Ich soll Lisa also auch noch dankbar sein? Und warum habt ihr vorher nie etwas dazu gesagt? Ich bin immer davon ausgegangen, ihr mögt ihn!«
Mutter neigte den Kopf. »Na ja, mögen ist zu viel gesagt, er war halt dein Freund. Da hält man sich eben zurück.«
Mit einem empörten Zischlaut entwich die Luft aus meinen Lungen. »Ach so und deswegen hält man sich auch zurück, wenn die eine Tochter der anderen Tochter den Kerl ausspannt, oder was?«
Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Nein. Weil ihr eigentlich alt genug seid, das alleine und auch unter euch zu regeln. Aber stattdessen habt ihr euch um diesen Kerl gestritten, wie die Kesselflicker. Seit euch danach aus dem Weg gegangen und habt die Familie auseinandergerissen.« Sie seufzte auf. »Und jetzt fängt das Theater schon wieder an. Dabei ist doch Weihnachten. Das Fest der Liebe und Besinnlichkeit.« Mutter kam kopfschüttelnd auf uns zu. »Wenn Mona keine Karten mehr bekommen hat, dann ist das doch kein Beinbruch. Deswegen muss man sich nicht streiten. Wichtig ist, dass es uns allen gut geht, wir lecker gegessen haben und dankbar darüber sein können, ein angenehmes Leben zu führen.«
Schließlich mischte sich auch Opa ein. »Ich sehe das genauso. Leon war ein schmarotzendes Weichei, also sei froh, dass du ihn los bist und Weihnachten heißt auch mal darüber nachzudenken, wie es vielleicht anderen Menschen geht. Das wäre Leon doch nie in den Sinn gekommen.«
Paps erhob sich ebenfalls von seinem Sessel. »Stimmt. Bei Leon habe ich mich außerdem immer gefragt, wann er sich den Stock aus dem Hintern operieren lässt. Hat nie über meine Witze gelacht.« Er gackerte über seinen Kalauer, wurde aber gleich wieder ernst. »Und früher gab es zu Weihnachten nur was Besonderes zu essen, eine Kleinigkeit geschenkt, und man blieb mit der Familie schön zu Hause und spielte Gesellschaftsspiele.«
Offensichtlich hatte meine ganze Familie Leon nicht leiden können. Außer Lisa. Die ja sogar mit ihm ins Bett gehüpft war.
»Und wichtig ist, dass man sich der Familienbande bewusst wird«, griff meine Mutter Paps letzten Satz auf. »Trotz allem, was gewesen war, seid ihr Geschwister und solltet eigentlich zusammenhalten. Natürlich war es von Lisa nicht die feine englische Art, das habe ich ihr aber auch gesagt. Dennoch wenn Leon ein Charakterkerl gewesen wäre und dich wirklich geliebt hätte, hätte er sich gar nicht erst auf Lisa eingelassen. Deswegen hatte er dich nicht verdient. Er hat keine meiner beiden Töchter verdient.«
Meine Mutter lächelte mir besonnen zu und wischte sich ein Tränchen aus dem Augenwinkel. »In Ordnung?«
Fassungslos blickte ich von einem zum anderen. Das musste ich erst mal sacken lassen.
Paps stand auf und kam auf mich zu. »Vielleicht sollten wir einfach eine Runde mit dem Hund spazieren gehen, Bescherung machen und den Abend ruhig ausklingen lassen. Ende gut, alles gut?«
Ich nickte, auch wenn ich nicht das Gefühl hatte, dass alles schon wieder gut war. Opa Günther nickte auch. Lisa sagte säuerlich: »Okay, gehen wir eben nur mit dem Hund.« Immerhin waren wir uns einig, dass wir uns uneinig waren.