KAPITEL 19

Zeit zu schweigen, zu lauschen, in sich zu gehen.
Nur wer die Ruhe beherrscht, kann die Wunder noch sehen,
die der Geist der Weihnacht den Menschen schenkt.
Auch wenn so mancher anderes denkt.

 Verfasser unbekannt 

DAVID

Der Chor hatte sich aufgestellt, die Kirche war gerammelt voll, Davina war endlich erfolgreich von ihrem neuen Handy losgeeist. Sie hakte sich bei mir ein und beugte sich zu mir herüber. »Pops?«

Ich stöhnte auf. »Du sollst mich doch nicht immer so nennen.«

Sie grinste. »Vielleicht lädst du sie einfach mal auf einen Kaffee ein. Oder du reparierst ihren Rechner ganz schnell und bringst ihn ihr. Als Weihnachtsgeschenk.«

Ich antwortete meiner Tochter, dass ich mir das mit dem Rechner auch schon überlegt hätte, doch meine Worte wurden durch die ersten Takte des Eröffnungsliedes übertönt.

 

***

 

MONA

Ein schweigsames Grüppchen von fünf Leuten und einem Jack Russel schlich durch den Park. Alle waren in sich gekehrt. Selbst der Hund trottete trüb durch die verschneite Landschaft und hob nur hier und da ein Bein.

Die Worte meiner Mutter vorhin hatten etwas in mir ausgelöst. Eine Gefühlswelle aus Wut, Enttäuschung, Verwirrung und Traurigkeit, die jetzt bei jedem Schritt über mich hinweg schwappte.

Wenn Leon dich wirklich geliebt hätte …

Immer und immer wieder ging mir dieser Satz bis ins Mark. Bislang hatte ich meiner Schwester die Schuld an der ganzen Misere gegeben, aber vielleicht hatte Mutter recht. Vielleicht war ich nicht die Richtige für ihn oder Leon nicht der Richtige für mich. Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, hat er mich doch nach der ersten Verliebtheit oft nur gestört, weshalb ich froh war, dass er mit Lisa losgezogen war. Dann konnte ich in Ruhe an meinen Romanen arbeiten, die eigentlich doch keinen Raum für ein echtes Leben ließen. Je mehr ich arbeitete, desto besser lief es, desto mehr wollte ich nicht nur schreiben, sondern musste es vertragsbedingt auch. Ein Teufelskreis, durch den ich zu einem Einsiedlerautorenkrebs mutiert war, der sogar beinahe Heiligabend verpasst hätte.

Ich hing mir seufzend die Leine um den Hals, um meine Hände tief in den Jackentaschen vergraben zu können. Es war ziemlich kalt und meine Finger fingen langsam an zu kribbeln. Für das nächste Jahr nahm ich mir vor, wieder etwas mehr aus mir herauszukommen und ins echte Leben zurückzufinden. Das mit dem Lebensmittelabo und dem Online-Banking ließe ich besser bleiben, denn an sich war es ja gut so, einen Grund zu haben das Haus zu verlassen. Und die Cyberkriminalität war wirklich nicht zu verachten. Ich musste schon wieder ein bisschen grinsen. Während ich meine tauben Finger in den Jackentaschen aufwärmte, ertastete ich dabei mit der rechten Hand ein zusammengeknülltes Stück Papier. Neugierig holte ich es hervor und besah mir den Zettel genauer. Es war der Zettel, den mir der schwarze Obdachlose vor dem Supermarkt zugesteckt hatte. Allerdings handelte es sich nicht um Obdachlosenwerbung wie vermutet, sondern um eine Einladung zum offenen Weihnachtsgospel in der neuapostolischen Kirche nur zwei Straßen von hier entfernt. Das Konzert war sogar kostenlos und begann laut dem Zettel um halb acht. Schnell warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Zwanzig nach sieben. Ein Madrigalchor war das zwar nicht, aber vielleicht trotzdem ganz nett. Wenn wir uns sputen würden, könnten wir es sogar noch pünktlich schaffen.

»Stopp!«, schrie ich in die Stille hinein. Meine Stimme hallte durch den Park.

Alle blieben abrupt stehen und drehten sich überrascht zu mir um. »Wir müssen hier lang.« Ich zeigte mit dem Arm nach links.

»Was ist los?« Meine Mutter sah mich fragend an. »Haben wir uns etwa verlaufen?«

»Nein, aber ich habe womöglich noch eine Überraschung für euch. Also los jetzt. Hopp, hopp.« Ich klatschte zweimal in die Hände. »Schließlich ist Weihnachten nur einmal im Jahr.«

 

***

 

DAVID

Während des ersten Liedes rotierte mein Gehirn. Wenn ich ihren Rechner reparieren und ihn zu ihr nach Hause bringen würde, wäre das doch recht unverfänglich. Immerhin war sie meine Kundin und hatte mir den Auftrag dazu erteilt. Aber was, wenn sie sich nachher belästigt fühlte und dies mündlich weitertrug? Womöglich hielt sie mich noch für einen Stalker. Das konnte für meinen Laden auch schlecht sein. Ach, Quatsch. Vermutlich würde sie mir eher um den Hals fallen. Vor allem, wenn ich ihr Manuskript retten würde. Hoffentlich war die Festplatte noch in Ordnung. Aber was wenn das Manuskript nicht zu retten wäre? Würde sie dann nicht das negative Erlebnis mit mir verbinden?

Ehrlich gesagt machte ich mir gerade viel zu viele Gedanken. Und vielleicht steigerte ich mich da auch in etwas hinein. Das kommt davon, wenn man seine Liebesprobleme entweder mit einer Pubertierenden oder einem versoffenen Dauersingle bespricht. Es war wohl Zeit, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.

Mona Seidel war zwar nett und ich trotz allem überzeugt davon, dass es irgendwie Schicksal gewesen sein musste. Denn wie in aller Welt ist es möglich, einem völlig fremden Menschen innerhalb von 24 Stunden zweimal zu begegnen? Wie hoch war da statistisch gesehen die Wahrscheinlichkeit? Dennoch glaubte ich, ich machte mir etwas vor. Sicher hatte sie einen Freund und wollte überhaupt nichts von mir wissen. Und was die Statistik betraf: In der Ausbildung zum IT-Techniker hatte ich immer schon Probleme damit gehabt. Vielleicht interpretierte ich in die zwei Treffen viel zu viel hinein. Zumindest mathematisch gesehen.

Seufzend versuchte ich, mich auf den tollen Gesang zu konzentrieren. Doch wirklich mitreißen konnte mich Oh Happy Day heute nicht, weil mir die ganze Zeit Mona Seidel im Kopf herum schwirrte.

 

***

 

MONA

»Wir sollen hier rein?« Lisa zog skeptisch ihre perfekt gezupften Augenbrauen hoch. War ja klar, dass sie so reagierte. Es war ja kein Konzert der New Yorker Philharmoniker.

»Ist das etwa unter deinem Niveau?«, konnte ich mir nicht verkneifen.

Opa Günther sagte lediglich: »Also ich find’s gut. Endlich mal was Neues. Wenn ich ehrlich bin, war ich das altertümliche Geleier sowieso schon lange leid. Ist doch jedes Jahr dasselbe.«

»Vati!«, empörte sich meine Mutter. »Altertümliches Geleier? Und wieso hast du das dann nicht schon viel eher gesagt?«

Opa hob die Schultern. »Ihr ward immer so begeistert und ich wollte euch nicht verletzen. Aber ich fände es schön, wenn wir in Zukunft auch mal was anderes machen. Vielleicht gehen wir mal ins Varieté oder zu Helene Fischer. Schließlich sollte ich die mir verbliebene Zeit noch nutzen.«

»Was meinst du mit verbliebene Zeit?«, hakte ich erschrocken nach. »Bist du etwa krank?«

Doch Opa grinste nur. »Quatsch. Aber ich bin schließlich nicht mehr der Jüngste und habe die meisten Weihnachten in meinem Leben schon gefeiert.«

Ich stutzte. Doch dann wurde mir klar – Opa hatte recht. »Apropos Varieté, Günther, kennste den? Sitzt ein Kaninchenpärchen im Varieté und sieht zu, wie der Zauberkünstler ein Karnickel nach dem anderen aus dem Hut zaubert. Da sagt sie zu ihrem Mann: Also ehrlich, da ist mir unsere Methode aber wesentlich lieber.« Papa lachte laut auf und haute sich auf die Schenkel. Wir alle stimmten in sein Gelächter mit ein. Wenn auch mehr aus Solidarität.

Mittlerweile waren bereits die ersten Klänge aus der Kirche zu hören, die vom Wind zu uns herübergeweht wurden.

»Was ist jetzt?«, fragte ich deshalb ungeduldig in die Runde. »Gospel oder nicht Gospel? Das ist hier die Frage!«

 

***

 

DAVID

Das leise Quietschen der Eingangstür war trotz des Gemurmels der Leute, die in der kurzen Gesangspause miteinander redeten, nicht zu überhören gewesen. Neugierig wandte ich mich um und sah ein Grüppchen von Menschen hereinkommen. Als Erste betrat eine dunkelhaarige Schönheit die Kirche, dahinter humpelte ein älterer Herr herein, gefolgt von einem Pärchen, die vom Alter her vermutlich auch gut meine Eltern sein könnten. Hinter dem Pärchen schummelte sich noch jemand herein. Eine kleine Person mit einem Hund auf dem Arm. Dunkelblond, offene schulterlange Haare, hübsches Gesicht. Etwas an der Frau kam mir bekannt vor. Und in diesem Moment durchzuckte es mich wie ein Stromschlag – nur viel schöner. Es war Mona Seidel. Mein Herz schlug einen Salto. So viel also zum Thema Statistik.

Der Chor begann das nächste Lied anzustimmen. Amazing Grace . Das Grüppchen rund um Mona Seidel nahm hastig in der hintersten Reihe platz. Sie ebenfalls. Der Hund, den sie auf ihrem Schoß hielt, war vermutlich ihr obligatorischer Schriftstellerhund. Nur einen Freund konnte ich weit und breit nicht ausmachen. Sollte mir das vielleicht was sagen?

Ich seufzte auf. Am liebsten wäre ich sofort hingelaufen, um Hallo zu sagen. Aber dazu musste ich leider bis Konzertende warten.

»Was ist, Pops? Stimmt was nicht?« Davina verrenkte sich den Hals und sah sich um.

Ich musste grinsen. »Nichts, mein Kind, alles in Ordnung. In bester Ordnung, um genau zu sein.«