Tag 12

An dem es um eine Schießerei, einen herausgerissenen Fußnagel und um die Frage geht, was eigentlich männlich ist

Lieber Maxim, woher die Mode des Rasierens kommt, wolltest du ja wissen. Ob sich dahinter eine gesellschaftliche Entwicklung verbirgt. Wäre ich ein weiser Feuilletonist mit Lockenfrisur und kurzen, dünnen Beinen, würde ich sagen: Die sexuelle Sozialisierung der Jugend durch die Pornografie steckt dahinter. Ich würde sagen, dass die Sichtbarkeit des männlichen Genitales die Intimästhetik der Nullerjahre definiert, befeuert durch die Finanzkrise und den Zusammenbruch der kapitalisch-sozialen Intimästhetik, dass die Intimrasur den Gestaltungsimperativ einer neuen Körperlichkeit bildet, eine Schönheitsnorm, deren Wurzeln in der christlich-jüdisch-abendländischen Kultur liegen.

Erstaunlich finde ich, dass du Männlichkeit über Haare definierst, also Körperhaare. Du sprichst vom Verlust der Männlichkeit, als würde sie bei einer Rasur von dir abfallen und im Abfluss der Duschkabine versickern.

Warum? Was ist für dich Männlichkeit? Was war das Männlichste, was du jemals getan hast?

aw:

Lieber Jochen, du fragst, was Männlichkeit für mich ist. Gute Frage. Wahrscheinlich müsste ich das beantworten können. Frage einen Gynäkologen nach der Gynäkologie oder einen Friedensforscher nach dem Frieden, und sie werden eine Menge zu erzählen haben. Aber was wissen Männer wie ich von der Männlichkeit? Wenn ich darüber nachdenke, fallen mir nur Klischees ein. Ich denke an wortkarge Grübler, an schwitzende Muskelprotze. An Bier, an Fußball. An derbe Sprüche und Testosteron. Und gleichzeitig wäre ich auch gern ein männlicher Mann, mit allem Drum und Dran.

re:

Mit allem Drum und Dran?

aw:

Na ja, ein männlicher Mann ist einer, der sich gut in der Natur orientieren kann. Einer, der seine Familie beschützen kann. Ein männlicher Mann hat alles im Griff. Er kann ein Auto reparieren, eine Wand mauern, eine Angelroute bauen, dreißig Meter weit tauchen und einen Hasen mit den bloßen Händen fangen. Clint Eastwood ist ein sehr männlicher Mann.

Mein Vater eigentlich auch. Wenn ich als Kind mit meinem Vater in der Dämmerung durch einen Wald lief, fühlte ich mich absolut sicher. Einmal waren wir in der Schorfheide und wollten Wildschweine beobachten. Und plötzlich standen die Wildschweine um uns herum. Mein Vater flüsterte: »Mach genau das, was ich mache«, und lief laut brüllend auf die Viecher zu. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Ich kam nicht von der Stelle. Die Wildschweine rannten weg und mein Vater lachte ihnen hinterher. Es war ein lautes, triumphierendes Lachen. Das Lachen eines Mannes.

Bis heute zögert mein Vater nicht, fremden Leuten ins Gesicht zu schlagen, wenn er in Streit gerät. Einmal hat er sich mit irgendeinem Typen auf der Straße angeschrien. Der andere kam ihm zu nahe, hat ihn, glaube ich, an der Schulter angefasst. Da hat mein Vater den Typen am Kragen gepackt, ihm zweimal in die Fresse gehauen, und der Typ ist weggerannt.

»Im Zweifel immer zuerst zuschlagen«, hat mein Vater mir gesagt.

Welcher Vater sagt denn heute noch so was zu seinen Kindern?

re:

Ist dein Vater ein Vorbild für dich?

aw:

Ich glaube, dass mein Vater mein Männerbild geprägt hat. Auch in anderer Hinsicht. Bei uns zu Hause hat er gekocht, abgewaschen und geputzt. Und er hat mit mir geschmust, als ich klein war. Geschmust und getobt. An meine Mutter habe ich in dieser Beziehung kaum eine Erinnerung.

Neulich sagte mein Vater, Catherine würde ihn an meine Mutter erinnern. »Du hast auch so eine Prinzessin geheiratet«, sagte er. »Der Vorteil an solchen Frauen ist, dass du dich neben ihnen sehr männlich fühlst. Der Nachteil ist, dass du immer zu tun hast.« Es kann sein, dass er recht hat. Catherine ist eine sehr weibliche Frau. Das heißt, sie ist schön und weich und zart. Und sie muss nicht alles selber machen. Dinge, die mit Schmutz und Kraft zu tun haben, überlässt sie mir. Sie sagt dann: »Dafür brauche ich meinen starken Mann.« Und obwohl sie mich auf unfassbar dreiste Art benutzt, finde ich es toll.

Du fragst, was das Männlichste ist, das ich je getan habe. Nun, ich habe eine zwölf Meter hohe Kiefer mit einer Axt gefällt. Und ich habe mir einen abgestorbenen Zehennagel mit einer Zange aus dem Nagelbett gerissen. Entscheide selbst, was männlicher ist.

re:

Lieber Maxim, einen Hasen mit bloßen Händen fangen, 30 Meter tauchen, eine Wand hochmauern, jemand, der sich gut in der Natur orientieren kann?

Wer soll das sein? Tarzan?

Ich habe mir bis heute, Mittwoch, 15. März, 14.15 Uhr, noch nie die Frage gestellt: Was ist männlich? Bin ich männlich?

Ich kann den Mann eigentlich nur geschlechtlich beschreiben. Jeder, der einen Penis hat, ist ein Mann, ergo auch männlich. Sollte ich männliche Eigenschaften aufzählen, würden mir Kraft, Mut, Schweigen, Rationalität, Machtwille, Beherrschtheit einfallen (ähnlich deiner Aufzählung), aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das vor allem in Filmen gesehen habe oder in Büchern gelesen. Ich glaube, es ist ein erfundenes Männerbild. So wie die Frau in der Pornografie ein erfundenes Frauenbild ist.

Denke ich an Freunde, an die Männer aus meiner Umgebung, fallen mir eher Unentschiedenheit, Zögerlichkeit, Empfindsamkeit, Bindungsschwäche, Verspieltheit, Jungenhaftigkeit, Unruhe, Zweifel und Eitelkeit ein. Ich halte das für die aktuelleren Männlichkeitsattribute, zumal ich auch keinen Mann kenne, der sich gut in der Natur orientieren kann.

aw:

Fühlst du dich denn wenigstens männlich, wenn du schon nicht darüber nachdenkst?

re:

Nee. Ich kann nicht besonders gut mathematisch oder geometrisch denken, mich nicht gut orientieren in Städten und interessiere mich nicht für Technik oder Schiffshebewerke oder Motoren oder das Tischlern oder das Häuserbauen oder Parkett. Ich lese nie den Wirtschaftsteil einer Zeitung, nie den Autoteil und nie den Immobilienteil. Ich rede gern mit Männern über Beziehungen und die Liebe. Ich schätze, damit habe ich in den vergangenen Jahren den Großteil meiner Freizeit verbracht: Nachts in einer Bar sitzen, umschwebt von Plänen, Enttäuschungen, Eroberungen, einer vagen Zukunft, Sex und Rum-Drinks.

Es ist eigentlich so wie in Sex and the City – nur mit Männern.

aw:

Ist dein Vater ein Vorbild als Mann?

re:

Mein Vater saß nie in Bars. Mein Vater war Zahnarzt, Ehemann, Vater. Er ist Jahrgang 1934 und der Chef der Familie. Ich habe meinen Vater oft müde erlebt, gehetzt, fleißig, diszipliniert. Mein Vater renovierte, tapezierte, beschnitt Bäume, baute ein Haus, deckte ein Dach, reparierte Heizungen. Ich hielt ihn für sehr stark. Jeden Abend sitzt er am Klavier im Wohnzimmer und spielt. Mein Vater hört ausschließlich klassische Musik, und ich bin mir nicht sicher, ob er jemals zu den Beatles tanzte oder den Stones oder zu Harry Belafonte, wenigstens meiner Mutter zu liebe.

Wir hatten früher auch einen Hund, der auf niemanden hörte und auf mich sowieso nicht – eigentlich hörte der Hund nur auf meinen Vater.

Mein Vater hatte Autorität bis hinein in die Tierwelt.

Mein Vater ist ein großer Kümmerer. Hatte man als Kind einen Wunsch – mein Vater hat ihn selten abgeschlagen. Er ist ein empfindsamer Mann, auch wenn er weniger redet als meine Mutter. Ungefähr 70 Prozent weniger. Manchmal, so habe ich den Eindruck, stört ihn das selbst, diese Zurückhaltung, diese Scheu, aber ich mag es ganz gerne. Er ist der aufrichtigste Mensch, den ich kenne. Und ich habe es sehr gemocht, wenn er mir abends, bevor ich einschlief, den Rücken streichelte. Mein Vater kam müde aus der Praxis, aber er streichelte noch meinen Rücken. Seine Hände waren rau, durch die Arbeit an dem Haus, das er baute. Und sie rochen nach Zahnarzt. Diesen Geruch werde ich nie vergessen.

Ob er ein Vorbild ist?

Vielleicht. Ich mag seinen Willen und seine Sturheit. Womöglich sind das die männlichsten Eigenschaften, die ich kenne: Willen und Sturheit.

PS: Das Männlichste, was ich je getan habe? Ich bin in eine Schießerei geraten, ohne panisch zu werden. Ich habe einer Frau gesagt, dass ich sie liebe, obwohl ich ahnte, sie liebt mich nicht.

aw:

Du warst unglücklich verliebt? Wann? In wen? So eine Geschichte kannst du nicht für dich behalten.

re:

Doch. Kann ich. Ist zu lange her.

aw:

Lieber Spielverderber, ich kann mir nicht vorstellen, dass Männlichkeit keine Rolle für dich spielt. Es ist wahrscheinlich eher so, dass dich dieser Begriff abschreckt. Benutze doch einfach einen anderen. Welches Wort würdest du gerne verwenden? Wie du selbst richtig bemerkst, vereinst du ein paar recht männliche Eigenschaften in dir. Du sprichst von Willen und Sturheit. Ich würde noch Stolz und mangelnde Kommunikation hinzufügen.

Deine Abneigung gegen Schiffshebewerke sowie gegenüber sämtlichen baulichen Tätigkeiten und deine Passion für nächtliche Männergespräche über die Liebe sind natürlich bedenklich. Bist du sicher, dass du komplett heterosexuell bist? Vielleicht hat dich dein Vater mit seiner Autorität verschreckt, und du willst jetzt kein Mann mehr werden, sondern nur noch ein Junge sein. Aus Angst, nie so ein Mann sein zu können, wie dein Vater einer ist. Ich weiß, das ist knallharte Küchenpsychologie, aber ich spüre einen Zusammenhang zwischen deinem Selbstbild als Mann und deiner Paarverweigerung.

PS: Ich fühle mich übrigens sehr männlich.

re:

Lieber Clint Eastwood, ich muss an den Film Schtonk denken. Es gibt eine Szene, in der Götz George aus dem Bett steigt. In dem Bett liegt eine Frau, mit der er gerade Sex hatte. Die Frau ist nicht mehr jung, vielleicht Mitte vierzig oder Mitte fünfzig, das macht bei Frauen ja kaum einen Unterschied. Die Frau ist die Nichte von Hermann Göring, dem Reichsfeldmarschall, der auch einen Bademantel hatte. Götz George streift sich diesen Bademantel über. Der ihm leider zu groß ist. Zudem trägt George ein leberwurstfarbenes Korsett, um seinen Bauch wegzuschnüren. Götz George fühlt sich verwandelt – durch den Bademantel. Irgendwie größer. Die Frau spürt das, schnurrt an ihn heran, umschmiegt ihn wie ein Kätzchen. George streicht ihr über den Kopf, die Frau schaut zu ihm auf und sagt: »So männlich schaust aus. Mächtig und männlich.« Und George fühlt sich plötzlich »mächtig und männlich«, obwohl er nur einen zu großen Ex-Nazi-Bademantel trägt und ein leberwurstfarbenes Korsett.

Bei der Szene muss ich immer irgendwie an dich denken, Maxim.

aw:

Ich trage keine Nazi-Bademäntel. Aber selbst wenn ich es täte, würde das meine Männlichkeit nicht beeinträchtigen.

re:

Verehrter Reichsfeldmarschall, lieber Hermann, auf meine Frage, was das Männlichste wäre, was du je getan hast, schreibst du: Baum gefällt. Fußnagel rausgerissen. Das finde ich wunderbar komisch. Weil es so hilflos ist. Die Bilanz deines Mannseins: ein Baum und ein Fußnagel.

Ich kenne dich ein wenig und weiß daher: Du bist kein besonders körperlicher Mensch. Nicht kräftig, nicht sehr sportlich, nicht sehr zäh, eher gemütlich, ein bisschen faul, trickreich, und wenn es gefährlich werden könnte, bist du vermutlich einer der Ersten, der wegrennt. Was, ohne Frage, klug ist.

Das heißt, du lebst in einem männlichen Selbstbild, dem du, von außen betrachtet, überhaupt nicht entsprichst. Wie viele Menschen wird es geben, die sagen: Maxim ist wahnsinnig männlich? Außer deiner klugen Frau, die die Ehe nicht gefährden will und dich deshalb mal einen Nagel in die Wand klopfen lässt, damit du deine Männlichkeits-Vibrations wieder fühlst?

Du orientierst dich an der Männlichkeitsfigur deines Vaters. Seiner Stärke, seiner Freiheit, seinen Faustschlägen, seinen Frauengeschichten. Du lebst in deiner Männlichkeitsfantasie, in der deine Frau natürlich »eine Prinzessin« ist und du ihr »starker Mann«. Du fühlst dich vermutlich Clint Eastwood schon ganz nahe, nur weil du dir nicht den Sack rasierst und weißt, wo im Baumarkt der Fensterkitt steht.

Ich kenne bereits mehr Männer, die zum Psychologen gehen, als ich Männer kenne, die angeln. Sind die jetzt unmännlich?

Mich schreckt der Begriff »Männlichkeit« nicht ab, wie du vermutest, er hat nur gerade wenig Bedeutung für mich. Vielleicht weil ich nicht mit einer Frau zusammenlebe. Vielleicht lässt Männlichkeit sich überhaupt nur noch definieren in Abgrenzung zur Weiblichkeit.

aw:

Kannst du erklären, was unmännlich ist? Wenn du schon nicht weißt, was männlich ist?

re:

Männer mit Fahrradhelmen. Männer ohne Körpergefühl. Männer, die ihre Frau fragen: »Schatz, was soll ich anziehen?« Männer, die sagen: »Meine Frau sagt …« Männer, die einen sehr kleinen Hund haben. Männer, die stets folgsam sind. Männer, die nichts kochen können. Männer, die an nichts glauben. Männer die sagen: Über Minderheiten macht man keine Witze.

aw:

Verehrter Nichtmann, lieber Jochen, du schreibst, ich würde mit einem männlichen Selbstbild leben, dem ich, von außen betrachtet, nicht entspreche. Ja, das ist doch logisch, ist ja schließlich ein Selbstbild, das soll gar nicht von außen betrachtet werden! Es ist ein Bild, das nur für Catherine und mich da ist. Ein Bild, das für niemanden sonst einen Sinn ergibt. Zeige mir das Selbstbild, das einem kritischen Blick von außen standhält.

Nimm zum Beispiel dich. Du wähnst dich im Stadium der fortgeschrittenen Jugend. Aber alle um dich herum sehen einen Mann, dem die Zeit davonläuft.

Ich glaube, dass Catherine mich als Mann braucht. Weil sie sich nur so als Frau spüren kann. Das funktioniert in beide Richtungen. Ich bot ihr mal an, zu Hause zu bleiben und mich um den Haushalt und die Kinder zu kümmern, wenn sie das Geld ranschafft. Sie sah mich an, als hätte ich ihr von einer bevorstehenden Geschlechtsumwandlung erzählt. Sie sagte, sie wolle einen Mann. Keinen Hausmann. Catherine ist Französin, und ich liebe sie dafür, dass sie so deutlich weiblich ist. Und mir damit so ein deutlich männliches Gefühl gibt. Ich könnte, glaube ich, gar nicht mehr mit einer deutschen Goretexjacken-Frau zusammen sein. Ich glaube, diese Frauen haben schon seit Langem das Weibchen in sich vergessen. Sie bekommen Kinder, die Swantje oder Tabea heißen und die mit Naturkautschuknuckeln aufwachsen. Die Mädchen dürfen keine Kleider tragen, und die Jungs dürfen nicht mit Pistolen spielen, weil das genderpolitisch und auch sonst total inkorrekt ist. Es entsteht so eine Art drittes Geschlecht, irgendetwas zwischen Mann und Frau. Ein Brückenmensch, der hilflos in der Welt herumirrt. Deshalb sage ich: Wir brauchen auch weiterhin Männer und Frauen. Und starke Selbstbilder, auch wenn nur wir selbst daran glauben.

re:

Ich merke, du fühlst dich angegriffen, Maxim. Das stimmt mich froh. Wo die Verletzung schmerzt, ist die Wahrheit nicht fern.

Warum bedeutet dir Männlichkeit so viel? Dein sorgsam gepflegtes und erstelltes Selbstbild? Du sagst, Selbstbilder sind nur für einen selbst da. Selbstbefriedigung ist nur für einen selbst da, Maxim. Aber Selbstbilder, die trägt man in die Öffentlichkeit.

Ich finde, es ist doch unglaublich interessant: Wir sind zwei Männer und tun uns so schwer damit, unsere Männlichkeit zu beschreiben. Du erzählst von einem gefällten Baum und einem Zehennagel. Ich schreibe, dass Männlichkeit für mich kaum eine Rolle spielt. Das ist der Kern unserer Konversation. Die Quintessenz.

Männlichkeit scheint sich aufzulösen. Sie ist nur noch begrenzt erlebbar, selbst für uns Männer. Wir brauchen kleine Gebiete, die uns die Frauen bereitstellen, so wie Indianerreservate. Oder wir greifen zurück auf die alten Bilder und Gesten unserer Väter. Warum? Was ist passiert?