Die Tage vor Tag 1
An denen aus schweigenden Jungs »Sprechende Männer« werden
Ganz am Anfang sprachen wir kein Wort miteinander. Ganz am Anfang waren wir auch noch keine Männer. Wir gingen in dieselbe Schule und waren zwölf Jahre alt. Das heißt, Jochen war zwölf, und Maxim war vierzehn. Jochen trug eine Ponyfrisur, die seine Mutter mit einer Nagelschere schnitt, was dazu beitrug, dass er nicht aussah wie zwölf. Eher wie zehn. Maxim war dünn wie eine Salzstange, aber groß gewachsen, und in der Schule ging das Gerücht, er habe einige Mädchen geküsst. Vielleicht war auch schon mehr passiert, vielleicht mit Carola Schiefelmann, die aussah wie Cyndi Lauper. Natürlich wusste Maxim auch, wie man raucht. Und rauchende Mädchenküsser sprachen nicht mit Pony-Kindern. Das war klar.
Maxims Vater war Künstler, Maler, um genau zu sein, und half damals für einige Zeit in der Schule als Zeichenlehrer aus. Vater Leo trug im Unterricht gern eine Lederweste, so wie damals alle bildenden Künstler, die etwas auf sich hielten. Er sagte: »Wer keine Lust hat, der setzt sich nach hinten und hält die Klappe. Oder geht nach Hause.«
Jochens Vater war Zahnarzt und betrieb eine Praxis ein paar Meter die Straße hinunter. Da der Berliner Stadtteil Karlshorst von überschaubarer Größe ist, saßen die meisten Lehrer und die meisten Kinder irgendwann auf dem Zahnarztstuhl von Jochens Vaters. Auch Maxim. Vielleicht steckt in seinem Mund noch heute eine alte Amalgamfüllung, die ihm Vater Gutsch Mitte der 80er-Jahre einsetzte.
Wir kannten uns damals nicht, wir kannten nur unsere Väter. Jochen war der Sohn vom Zahnklempner. Maxim war der Sohn vom Zeichenheini.
Als Jochen im Juli 1988 die alte Schule verließ, war Maxim längst fort. Kurz darauf verschwand dann auch der Kommunismus aus Karlshorst und aus weiten Teilen der Welt. Die Neunzigerjahre flogen vorbei, und anschließend wurde das alte Jahrhundert beendet und ein neues begonnen.
An einem Sommertag im Jahr 2001 klopfte es an Jochens Bürotür, und sein Chef steckte den Kopf herein. »Der neue Kollege ist da«, sagte er.
Jochen war 29 Jahre alt, frisch getrennt und arbeitete seit ein paar Monaten als Redakteur für die Reportageseite der Berliner Zeitung.
Maxim stand in der Tür. Der neue Kollege.
Er war noch immer dünn und groß und sah erschreckend erwachsen aus. Er hatte das Gesicht seines Vaters, trug aber zum Glück keine Lederweste. Wir gaben uns die Hand und murmelten irgendwas zur Begrüßung. Es war das erste Mal, dass wir miteinander sprachen. Ein paar dürre Worte. Wir hatten lange Anlauf genommen, ohne es zu wissen. Siebzehn Jahre lang.
Maxim zog in Jochens Büro mit Blick auf den Alexanderplatz, und in den nächsten Jahren wuchs das Gesprächsaufkommen. Wir sprachen über Zeitungszeugs und machmal auch über uns. Maxim erzählte von seiner Frau, einer Französin aus Paris, Jochen erzählte von den Frauen, die er traf und selten liebte. Maxim erzählte von seinen Töchtern, Jochen von seinen Nächten in der Stadt. Maxim hatte einen Ehering am Finger, Jochen dachte an ein Tattoo am Arm. Maxim sagte: »Mein Leben ist glücklich.« Jochen sagte: »Glück ist wie Räucherlachs. Vollkommen überbewertet.«
Manchmal wunderten wir uns, dass unsere Leben so unterschiedlich sind, trotz all der Gemeinsamkeiten. Wir sind beide männlich, heterosexuell, Brillenträger, fast gleich alt, aufgewachsen im gleichen Stadtviertel, wo wir ins gleiche Kino gingen, die gleichen Lehrer hatten und die gleichen Bücher lasen. Wir wohnen auch heute nur ein paar Straßen voneinander entfernt. Wir könnten Zwillinge sein. Zumindest sollten wir uns ähneln, so wie Uli Hoeneß und Dieter Hoeneß. Oder Kylie Minogue und Dannii Minogue.
Aber wir sind uns nicht ähnlich. Wir leben in verschiedenen Männerwelten.
Irgendwann wurde Maxim vierzig Jahre alt. Manche Männer erleben in diesem Alter ihre erste Krise. Wir dachten, wir schreiben ein Buch. Wir wollten mal nachschauen, ob alles okay ist. Wir dachten an eine Inventur, wir würden unsere Leben auf den Tisch legen wie zwei nackte Steaks. Wie soll ein Mann leben? Welcher Weg ist der richtige? Darum sollte es gehen. Schließlich ist es doch so: Wenn man noch mal etwas ändern will, dann jetzt.
Anfangs dachten wir, es sei nur ein Zufall, dass die Idee wuchs, als Maxim vierzig wurde. So wie es ja auch nur ein Zufall ist, dass Keith Richards auf den Fidschiinseln von einer Palme fiel, als er 62 wurde.
Aber ganz ehrlich: Es ist kein Zufall.
Im Dezember 2010 saßen wir in einem Restaurant einem Mann gegenüber, der unser Buch verlegen wollte. Wir erklärten ihm unsere Idee, und dem Mann schien die Idee zu gefallen. Er hatte sogar noch eine andere Idee.
»Ihr macht ein Experiment«, sagte der Verlagsmann. »Das längste Männergespräch der Welt. Total offen, intim, ehrlich. Ohne Tabus.«
»Aha«, sagten wir.
»Ihr als Fastzwillinge seid doch die perfekte Besetzung für dieses Experiment. Klar, oder? Ihr seid vergleichbar. Und irgendwie repräsentativ. An euch kann man sehen, wie der Mann sich unter verschiedenen Lebensbedingungen entwickelt. Wohin er geht. Was aus ihm wird.«
Der Verlagsmann schaute uns an wie Laborraten.
»Zwei Monate wären gut«, sagte er. »Das gab es noch nie. Zwei Männer, zwei Monate. Klingt auch super. Könnte der Titel sein.«
»Wir sollen zwei Monate miteinander reden?«, fragten wir.
»Genau«, sagte der Verlagsmann und trank einen Schluck Rotwein.
Wir hatten kein gutes Gefühl. Worüber sollten wir zwei Monate miteinander reden? Männergespräche haben einen schlechten Ruf. Zu wortarm, zu themenarm, zu gedankenarm, zu gefühlsarm. Alles arm. Wahrscheinlich stimmt der Ruf. »Nur Frauen können zwei Monate miteinander reden«, sagten wir.
Der Verlagsmann lehnte sich zurück. »Das ist ja der Knüller«, sagte er. »Ihr sollt gar kein Männergespräch führen, sondern ein Frauengespräch.«
»Aha«, sagten wir.
Der Verlagsmann schloss die Augen. »Schließt die Augen«, sagte er. »Und dann denkt an eine Bar, spät in der Nacht, in der zwei Männer sitzen und miteinander reden. Zwei Männer, die so alt sind wie ihr. Zwei mittelalte Männer in der Stadt. Sie erzählen, woran sie glauben, worauf sie hoffen, was sie ersehnen, wen sie lieben, was sie hassen, was sie glücklich macht, was sie einsam macht. Sie reden über das Alter, über Sex, über Frauen, über Kinder, über Treue, über Freundschaft, über Ängste, über die Rasur entlegener Körperstellen und tausend Dinge mehr, die sich ergeben, wenn so ein Gespräch in Gang kommt. Klar, oder?«
Wir nickten. Nickten wir?
Der Verlagsmann schrieb etwas auf seinen Zettel. Vermutlich: »Autoren werden ein Frauengespräch führen, sind aber Männer. Knüller!!«
Dann bestellte er sich zufrieden ein zweites Glas Rotwein.
Im Februar 2011 aßen wir in einem Steakhaus und klopften ein letztes Mal die Regeln ab, die wir uns aufgestellt hatten. In den nächsten zwei Monaten würden wir uns E-Mails schreiben. Wenn möglich täglich. Außer an Wochenenden und wenn wir auf Reisen wären. Jede E-Mail, jede Frage, muss beantwortet werden. Jede andere Kommunikation zwischen uns ist für zwei Monate verboten. Also kein Telefonat, kein Treffen – nur die E-Mails. Damit alles, was es zu sagen gibt, aufgeschrieben wird. »Wir öffnen unsere Herzen wie eine Motorhaube und schauen nach, was wir für Männer geworden sind und wie der aktuelle Lebenszustand ist«, sagte Maxim.
»Ja, klar«, sagte Jochen.
Wir hatten ein ungutes Gefühl.
Und Schiss. Riesenschiss.