Tag 25
An dem recht unvermittelt die Idee entsteht, dass Entspannung viel gefährlicher ist als Stress
Liebe Dorfeiche, jetzt, wo ich deine entspannten, verträumten Zeilen lese, möchte ich mir am liebsten ein Fingerchen in den Hals stecken. Das ist so ein Reflex geworden bei mir in letzter Zeit. Immer wenn ich die Worte »Entspannung«, »Wellness«, »Bewusstsein«, »Yoga« höre, wird mein Fingerchen ganz nervös. Ich weiß nicht, woher das kommt oder wann das begann. Dieser Glücks- und Erfüllungsterror. Warum muss ein Leben erfüllt sein? Warum muss es glücklich sein? Wenn ich heute sage: »Ich bin mittelmäßig glücklich, stinknormal glücklich, völlig okay glücklich«, denken alle sofort, ich habe eine Krankheit. Oder fragen: »Und, was willst du dagegen tun? Mal ausspannen? Mal zu dir kommen?«
Ich glaube, nichts macht unglücklicher als die tägliche Erarbeitung von Glück. Das Glücksempfinden, so sehe ich das, ist seinem Wesen nach zu 90 Prozent retrospektiv. Glück ist kein Live-Gefühl.
aw:
Verstehe ich nicht. Warum willst du denn nicht zu dir kommen?
re:
Aber was soll ich denn dort die ganze Zeit? Bei mir?
aw:
Na du selbst sein. In dir ruhen.
re:
Lieber Maxim, vor Jahren noch gab es dieses Bierchen-nach-Feierabend-Glück. Meinetwegen auch das klassische Villa-und-Jacht-Glück. Beides finde ich völlig okay, beides scheint aber auch auszusterben. Es wird abgelöst vom Bewusstseins- und Beruhigungsglück, von der Idee, in sich selbst zu ruhen. Aber eigentlich ist es nichts anderes als das Eingeständnis: Ich bin 40, ich bin satt, mir ist langweilig, was mache ich jetzt? Mutti! Daran erinnerst du mich, Maxim. An 80 Kilo männliche Sattheit. Es ist ein Glücksideal, geboren aus Wohlstand, Ökomoral, Langeweile und Bräsigkeit.
Ich finde es anstrengend, dass alle ihr Leben beruhigen wollen. Ist es denn so aufregend, dass es nicht zu ertragen wäre, das Leben? Warum will man sein Leben nicht aufladen, bereichern, mit Energie versehen, mit Veränderung, Wissen, Begierde, Lust, Exzess, Abenteuer? Sind das nicht mal die klassischen Männerträume gewesen? Die Triebkräfte eines Lebens vor dem 60. Geburtstag, einer Gesellschaft gar? Und jetzt?
Fahren alle ins Wellnesshotel mit Saunalandschaft und Aromatherapie und bunten Fruchtsäften und Ringelpiez oder ziehen sich in ihre Landhäuser in Brandenburg zurück und graben den Boden um und stecken Tulpenzwiebeln und glauben, dass das ganze Tulpenzwiebelgestecke irgendwie ihre Seele entspannt, bis sie merken, dass es erst mal nur zu Rückenschmerzen führt.
aw:
Jochen, komm erst mal ein bisschen runter.
re:
Ich will nicht runterkommen, Maxim. Ich würde gerne erst mal irgendwo raufkommen. Vielleicht leben wir in einer Entspannungsgesellschaft. Man glaubt nicht mehr an Gott. Sondern an die Entspannung. Man will nicht mehr ins Paradies am Ende aller Tage. Sondern ins Wellnesshotel nach Mecklenburg-Vorpommern oder zum Yogaworkshop nach Südindien, gleich jetzt oder spätestens im Herbst. Eigentlich ist das alles lustig, weil das Leben nie so entspannt war wie heute. Im Vergleich zu früheren Generationen. So sicher, so kommod, so wohlhabend. So wenig körperlich. So wenig angstbehaftet. Wir erholen uns von Strapazen, die es nicht gibt. Wir suchen Entspannung von einem Stress, der kaum existiert.
Mein Vater gräbt den Garten um, weil man den Garten umgräbt im Frühjahr. Weil es immer so war. Damit Luft in die Erde zieht. Weil der Garten es braucht.
Du, Maxim, gräbst deinen Garten um, weil du das Gefühl hast: Ich brauche das.
Zur Beruhigung.
aw:
Lieber Beruhigungsgegner, ich finde, du übertreibst. Ich spüre Verspannungen in deiner Seele, Jochen. Natürlich kommt diese Sehnsucht nach Ruhe für viele ein bisschen früh, aber das ganze Leben verschiebt sich doch auf seltsame Weise. Die Kinder müssen heute schon in der Kita Englisch lernen, weil ihre Eltern sich vor der Globalisierung fürchten. Meine Töchter ackern in der Grundschule mehr, als ich es im Abitur getan habe. Der Druck ist riesig, alles muss von Anfang an perfekt sein. Die Weichen werden früh gestellt.
Vergangene Woche gab es einen Tag der offenen Tür in einem Gymnasium bei uns in der Nähe. Wir Eltern saßen mit unseren blank geputzten Kindern in der Aula, und der Direktor hielt eine Rede, in der es darum ging, dass dort draußen der Kampf immer härter wird, weshalb auch die Schule härter werden müsse. Die machen jetzt Chinesisch ab der siebenten Klasse und Unternehmenspraktika ab der neunten. Erinnere dich Jochen, wie wir uns damals auf die Zukunft vorbereitet haben. Du hast, glaube ich, vor allem Fußball gespielt, und ich habe gelernt, beim Küssen durch die Nase zu atmen. Wir hatten also unsere Entspannung, als wir sie brauchten. In unserer Kindheit. Heute beginnt der Stress schon früh, was bedeutet, dass auch die Entspannungszeit immer früher kommen wird. Wahrscheinlich werden bald die ersten Wellnessjugendherbergen eröffnet. Kinderyoga gibt es ja schon.
Du fragst zu Recht, warum Beruhigung so ein großes Ziel ist. Ich glaube, dass dieses Leben, das sich so schnell verändert, viele Menschen überfordert. Früher ging der Vater zur Arbeit, die Mutter machte den Haushalt, es gab drei Fernsehprogramme, und das Telefon hatte eine Wählscheibe. Die Zeit, in der das alles unverändert blieb, dauerte lange.
Heute verändert sich in einem Jahr mehr als früher in zehn Jahren, das ist mein Eindruck. Die Menschen eilen durch die Zeit, sind von den Möglichkeiten erschlagen. Sie haben Stress. Ich glaube, ich habe dieses Wort in meiner Kindheit nie gehört.
Vor zehn Jahren konnte ich plötzlich nicht mehr richtig tief einatmen.
Wir waren im Urlaub in Portugal, ich saß am Strand und bekam die Spannung nicht mehr aus dem Leib. Mein Bauch war hart, meine Brust schwer. Ich war wie zugeschnürt. Eine Freundin meiner Eltern hat mir damals ein paar Übungen gezeigt. Heute würde man das wahrscheinlich Yoga nennen. Sie sagte, ständige Anspannung führe dazu, dass der Körper vergisst, wie er sich entspannen kann. Ich hatte gar nicht mitbekommen, wie meine Arbeit mich angestrengt hat.
Das war für mich ein Warnsignal. Ich habe begriffen, dass ich auf mich achten muss. Die Suche nach Ruhe, nach Entspannung wurde zu etwas Positivem, Anstrebenswertem. Ich erzähle dir das alles, damit du vielleicht verstehst, wie es vielen Leuten geht. Es kann sein, dass du Glück hast und Stress dir keine Probleme bereitet, dich vielleicht sogar beflügelt. Mir geht es nicht so.
Und obwohl unser Leben viel bequemer geworden ist, gibt es, glaube ich, nicht weniger Sorgen und Schwierigkeiten. Weil es, wie du richtig schreibst, der Glücks- und Erfüllungsterror ist, der uns unglücklich macht. Die übersteigerten Erwartungen, das verwöhnte Ich. Wir haben ein paar einfache Sachen verlernt. Wir sind moderne Trottel geworden. Was ich sagen will, ist: Die Menschen haben Stress, die einen helfen sich mit Tulpenzwiebeln, die anderen mit Yoga.
re:
Harter Bauch und schwere Brust in Portugal? Was war da los? Lag ein Pups quer? Fliege verschluckt?
Lieber Maxim, war das nicht mal eine männliche Kernkompetenz, dieses: Ich kann Stress? Gehörte es nicht dazu, worüber wir mal nachdachten, was eigentlich männlich ist? Mit Stress umgehen. Oder, noch klüger: sich erst gar keinen Stress machen. Aber seit wann ist der Mann ein permanenter Entstresser? So ruhebedürftig und verletzlich, und immer muss er sofort ins Landhaus, weil es in der Stadt so laut ist, oder ins Entspannungsbad mit Elektro-Panflötenmusik?
Ich will niemandem den Stress absprechen. Mein Eindruck ist nur: Diejenigen, die von sich sagen, sie seien so gestresst, haben oft am wenigsten zu tun.
Ich glaube auch nicht, dass sich das Leben wahnsinnig verschiebt und dass deine Töchter heute die Stresshölle erleben, während du die pure Kindheit genießen konntest. Ich glaube, das ist dein milder Blick zurück. Glaubst du wirklich, dass die Schule heute härter ist? Ich schätze, das kennst du auch alles. Du hast dein Abitur sogar auf der Abendschule gemacht, Maxim. Neben dem Job.
Ich glaube, dass deine Kinder Druck haben. Bestimmt. Aber warum nimmst du ihnen den Druck nicht? Glaubst du wirklich, sie müssten Chinesisch lernen, drei Instrumente und Computerprogrammierung, weil sie sonst in der Welt nicht bestehen können? Ich habe nicht den Eindruck, die Welt ist verrückt, sondern ihr Eltern macht euch gegenseitig verrückt. Ihr sitzt da alle beieinander in euren sanierten Quartieren und redet euch ein, wer kein Praktikum macht mit zwölf Jahren, wird später arbeitslos. Einer fängt an, und am Ende glaubt ihr das alle. Es ist ein Virus. Ein Elternvirus.
Glaubst du dieses Fit-für-die-Globalisierung-machen-Geplapper, das in den Magazinen steht und alle anzustecken scheint?
Mir ist deine Logik nicht ganz klar: Du schickst deine Kinder in den Stress und bietest ihnen dann aber das Antistressyoga an, statt nach guter alter Tradition zu sagen: Ich schütze dich vor Stress. Vor der Stressentstehung.
Ich glaube dir auch, dass dein Job anstrengend ist. Aber gehört das nicht auch dazu? Zum Job, zum Leben? Warum gibt es jetzt so eine übertriebene Stressangst, so eine Antistresserwartung dem Leben gegenüber, so als ließe sich alles miteinander verbinden: interessanter, aufregender Job, sehr gut bezahlt – aber mit ganz viel Freizeit und wenig Stress. Tut mir leid: Gibt es nicht.
Ich möchte das Ausbrennen nicht kleinreden. Das passiert immer öfter. Mir geht es aber um etwas ganz anderes: die Vorstellung, dass das Leben ein Wellnesshotel ist, das ganze Jahr geöffnet. Dass sich alles vermeiden, wegatmen, wegyogaern, wegwellnessen lässt. Dass man für nichts mehr kämpfen muss, sich opfern, durchbeißen – denn das ist ja gleich wieder Stress.
Diese Bequemlichkeitserwartung dem Leben gegenüber. Die stört mich.
PS: Das einzige Wellnessangebot, das Männer früher wirklich nutzten, war das Trinken. J.