Tag 28
An dem die Tagesbefehle einer Ehefrau öffentlich gemacht werden und man versteht, warum ein Ehemann im Alltag auch ohne Würde leben kann
Lieber Maxim, ich bin noch im Café, frühstücken. Kann ein bisschen später werden. Bis gleich.
aw:
Schön, dass du an einem Montagmittag erst mal frühstücken gehst.
Ich habe, falls es dich interessiert, um 6.45 gefrühstückt und um exakt 8.05 Uhr den Wocheneinkauf begonnen.
re:
Niemand macht an einem Montagmorgen um 8.05 Uhr den Wocheneinkauf. Nur du. Denk mal drüber nach …
aw:
Während du frühstückst und wahrscheinlich deine Frauengeschichten sortierst, erzähle ich dir mal ein bisschen was von der Realität. Meiner Montagmorgenrealität.
re:
Will ich nicht hören.
aw:
Realität tut dir ganz gut, mein lebensfremder Frühstücksfreund. (Und erzähle mir nicht noch mal, dass das Leben kein Wellnesshotel sei …)
Mein Montagmorgen ist hart, Jochen. Entbehrungsreich. Ich weiß nicht, ob du schon mal an einem Montagmorgen um 8.05 Uhr in einem Supermarkt warst. Wahrscheinlich nicht, du bist ja nicht bescheuert. Ich stehe dort jede Woche, nachdem ich die Kinder zur Schule gebracht habe. Die gute Sache ist: Es ist leer. Und das ist zugleich auch die schlechte Sache. Es gibt nichts Trostloseres als die leeren, vom Neonlicht beschienenen Gänge. Sogar die Verkäufer schlafen noch um diese Zeit. Die Kundschaft besteht aus Bauarbeitern, die vorne am Backstand Frühstückspause machen und ein paar Rentnern. Jeden Montagmorgen sehe ich ein Rentnerpaar, das sich schnaufend durch die Gänge schleppt. Er trägt eine graue Bundjacke und eine Kapitänsmütze, sie eine lilafarbene Bundjacke. Heute Morgen kauften sie hundert Gramm Bierschinken, einen Pudding und eine Bild-Zeitung. Er versucht immer, mit den Verkäuferinnen ein Gespräch anzufangen, und sie sagt immer: »Nun lass mal, die haben zu tun.« Dann trotten sie weiter.
Manchmal stelle ich mir vor, wie die beiden früher waren. Vielleicht gingen sie gern tanzen oder ins Kino. Wahrscheinlich haben sie Kinder, die schon lange aus dem Haus sind. Jetzt läuft ihr Leben langsam aus. Es kann sein, dass der Montagmorgen ihnen ein bisschen Schwung gibt, dass diese Gewohnheit sie am Leben hält. Wer weiß, wie ich mit Catherine in dreißig Jahren durch die Gegend schlurfe. Zusammen alt werden klingt schön und furchtbar zugleich.
Der Montagmorgeneinkauf ist für mich längst Gewohnheit. Er ist ein Signal, dass wieder eine neue Woche beginnt. Ich parke das Auto hinter dem Supermarkt, nehme die vier zusammengefalteten Beutel aus dem Kofferraum, stecke den Chip in den Einkaufswagen. Und dann erst beginnt die Woche. Neulich war ich mal nicht einkaufen, weil wir noch alles hatten. Das war kein richtiger Wochenanfang. Das Seltsame an Gewohnheiten ist ja, dass man irgendwann nicht mehr auf sie verzichten kann, egal, wie unangenehm sie sind. Man will im Rhythmus bleiben.
Schön ist, dass es jetzt nicht mehr so dunkel ist um acht. Ich habe festgestellt, dass ich mehr Sachen einkaufe, wenn es draußen hell ist. Mein Einfluss auf den Einkauf ist allerdings begrenzt. Sehr begrenzt. Jeden Sonntagabend schreibt Catherine einen Einkaufszettel für mich. In ihrer kleinen, regelmäßigen Mädchenschrift. Catherine kennt den Supermarkt, sie weiß genau, was wo steht. Ihr Einkaufszettel ist nach Produktbereichen geordnet, er zeigt mir wie ein Navigationssystem die optimale Supermarktroute. Gemüse, Joghurt, Butter, Wurst, Käse, H-Milch, Cornflakes usw.
Manchmal fragen mich Leute, warum ich am Montagmorgen einkaufe. Dann sage ich: Weil es praktisch ist. Stimmt ja auch. Die Reaktionen sind überwiegend positiv, weil praktisch meist akzeptiert wird. Eine Jacke kann furchtbar aussehen, aber es ist okay, wenn sie praktisch ist. Eine Mutti hat keine Frisur mehr, aber einen praktischen Schnitt. Wenn du mich fragen würdest, Jochen, wie sich mein Leben verändert hat, in den langen Jahren meiner Ehe, dann würde ich sagen, es ist sehr praktisch geworden.
Aber du fragst mich ja gar nicht. Der feine Herr sitzt ja im Café und frühstückt.
re:
Dein Leben macht mich oft traurig. Und müde. Viel trauriger und müder, als es dich macht, Maxim. Supermarktroute, Zettel? Das heißt, dein Einkaufsrundgang ist genau festgeschrieben? So wie der Hofgang im Knast? Warum brauchst du überhaupt Zettel?
aw:
Lieber Jochen, ich bin vergesslich. Ich nehme mündlich erteilte Hinweise zur Kenntnis, aber sie versickern irgendwo in meinem Kopf. Unauffindbar.
Deshalb bekomme ich Zettel von meiner Frau. Nicht nur am Montag. Jeden Morgen liegt ein Zettel für mich neben der Kaffeemaschine. Es sind kleine, quadratische Zettel, die man in Stapeln kaufen kann. Der Ton ist knapp gehalten, befehlsmäßig würde ich sagen. Heute Morgen stand auf meinem Zettel: »Brot kaufen (aber nicht wie letztes Mal mit Nüssen oder solchem Zeug!!!). Deine Mutter anrufen wegen deines Onkels!! Nadja von der Schule abholen und zum Klaviervorspielen bringen!!!«
Catherine macht sehr viele Ausrufezeichen, das stört mich, habe ich ihr auch schon mal gesagt, aber es geht wohl nicht anders. Manchmal, wenn zu viele Sachen auf meinem Zettel stehen, versuche ich Prioritäten zu setzen. Ich mache dann erst mal nur die Drei-Ausrufezeichen-Sachen. So arbeite ich mich durch.
Manchmal finde ich alte Zettel in Hosen- oder Jackentaschen. Ich halte dann einen zerknitterten Zettel in der Hand und versuche mich an den Tag zu erinnern, zu dem er gehörte. »Blumen gießen!! Zucker kaufen (den von Müller!!!). Kita-Büchse!!« Ich sollte die Zettel an eine Wand kleben, sie könnten einmal mein Leben dokumentieren. Tagesbefehle aus vier Jahrzehnten.
Mittlerweile bin ich völlig abhängig von den Zetteln. Ich bitte sogar schon selbst darum, dass Catherine mir Zettel schreibt. Ich bin ein Zetteljunkie. Ich glaube, mein Gehirn ist mit den Jahren weiter geschrumpft. Bald brauche ich einen Zettel, auf dem mein Name steht.
Genau so, Jochen, herrschen Ehefrauen. Sie sagen: »Klar bist du der Chef, aber vergiss deinen Zettel nicht.« Die wirkliche Macht liegt in den kleinen Dingen, in der Routine. Das nennt man dann eine »gut geölte Beziehung«.
Vermutlich findest du das alles erniedrigend und würdelos. Du denkst: Heute kriegt er Zettel, morgen legt sie ihm die Sachen raus und wischt ihm mit dem großen Muttitaschentuch die Essensreste aus dem Gesicht. Ja, es gibt da eine gewisse Gefahr. Andererseits sind die Zettel auch praktisch. Ich muss sie nur abarbeiten, und Catherine ist mit mir zufrieden. Welchen Aufwand müsste ich betreiben, um das ohne Zettel hinzukriegen? Würde, mein lieber Jochen, ist sicher eine feine Sache. Aber man muss auch an den Alltag denken. Ehe ist hauptsächlich Alltag. Und ob ich nun mit Würde den Tisch decke oder ohne, macht keinen großen Unterschied. Ein Zettel ist letztlich nur ein Zettel. Und in den großen Fragen, da entscheide ich.
re:
Lieber Zettelmann, du lebst nicht zu Hause, wie ich lange dachte, sondern in einer Fünfzimmerkaserne mit Familienanschluss. »Brot ohne die schwulen Nüsse oder anderes Zeugs!! Yes, Sir!!!« Ich meine, wie läuft das beim Sex? Gibt’s da auch Zettel? »Küssen, lecken, Missionar, umdrehen, von hinten, schießen. Und dann: waschen, pullern, Bett. Yes, Sir!!!«
Du bist ein großzügiger Mann, Maxim, mit einem gesunden Untertanengeist. Mein Vater lebt so ähnlich. Er bekommt keine Zettel. Er steht aber oft in Unterhosen und im Unterhemd vor meiner Mutter, zieht die Schultern hoch und sagt: »Jutta, was soll ich anziehen?« Meine Mutter streicht ihm dann über den Kopf wie einem jungen Hund und sagt: »Ich habe dir doch schon alles rausgelegt. Guck mal, dort auf dem Stuhl …« Und dann guckt mein Vater erleichtert, leckt meiner Mutter die Hand und läuft rüber zum Stuhl.
Als Kind hat mich das irritiert. Mein Vater war einerseits der Chef. Er konnte rufen: Ich kaufe ein Auto! Ich fälle den Pflaumenbaum! Ich baue ein Haus! Ich kaufe ein Haus! Und gleichzeitig stand er in Unterhosen vor meiner Mutter, unfähig, sich einen Pullover rauszusuchen oder ein Hemd.
Aber mein Vater ist jetzt über siebzig und wird auch nicht jede Montagnacht in den Supermarkt geschickt. Mein Vater würde aber, ähnlich wie auch du, sagen: Die wichtigen Entscheidungen treffe ich!
Das sagen eigentlich fast alle Männer. Aber ist das so? Oder ist es eine männliche Legende? Du sagst, deine Frau bestimmt den Familienplan, die Familienorganisation, die Finanzen, die freien Tage, den Urlaub, die Erziehung. Was bleibt da noch für dich übrig? Die Balkonbepflanzung?
Ich gebe zu, ein paar Zettel – das wäre auch eine Erleichterung in meinem Leben. Ich meine das rein metaphorisch. Der Zettel als Metapher für: Ich will nicht alles alleine bestimmen und entscheiden müssen, sondern nur 75 bis 80 Prozent. Im Moment sind es 100 Prozent. Ich bin Legislative, Exekutive und Judikative in einer Person. Ich muss mich auskennen mit Balkonpflanzen, Bettwäsche, Geschirr, Reisezielen, Hosen, Friseuren, Versicherungen, Parkettwischmittel, Mittagessen, Rollos, Mopeds, Kleiderschränken und allen anderen Dingen. Ich schreibe alle Zettel selbst. Ich schreibe mir. Ich habe nämlich auch Zettel, wenn ich einkaufen gehe, aber ohne Ausrufezeichen.
Ich sehe im Übrigen selten eine Frau mit einem Zettel. Immer nur Männer.
Was war zuerst da, Maxim: der Zettel oder der Mann? Gibt es alte Keilschriften, Felsmalereien mit Zettelbotschaften? »Bison jagen (!!!), Wasser holen (!), Feuer machen (!!), entlausen (!!!)«?
aw:
Lieber Jochen, zuerst der Mann, dann die Überforderung, dann der Zettel.
Das ist der historische Weg.
re:
Improvisierst du beim Einkauf? Weichst du mal vom Zettel ab?
aw:
Nein. Das wird bestraft. Neulich kaufte ich mal Konfitüre, obwohl Konfitüre nicht auf dem Zettel stand. Ich hatte das Gefühl: Wir könnten Konfitüre brauchen. Catherine sagte: »Wozu schreibe ich dir Zettel? Guck mich an!«
re:
Lieber Maxim, wenn Männer die Macht der Zettel nicht akzeptieren, sind sie für langjährige Beziehungen nicht geeignet, oder? Es heißt ja immer: Man muss miteinander reden können! Man muss gemeinsame Interessen teilen! Man muss sich respektieren! Womöglich ist das alles Mist. Womöglich sind Einkaufszettel der eigentliche Schlüssel, und du und ich, wir haben hier eine Entdeckung gemacht, die künftig in jeder Eheberatung und Paartherapie zur Sprache kommt: die Zettelkausalität.
Vielleicht wird dein Fall in die Wissenschaft eingehen, Maxim. Irgendwann werden sie dein Gehirn sezieren, so wie bei Lenin. Sie werden die Zettelfolgen untersuchen. Ich werde dann, schon sehr alt, sagen: »Sein Gehirn ist geschrumpft auf die Größe einer Erdnuss. Aber er hat die Zettel geliebt! Er war glücklich mit ihnen!«