Tag 31
An dem es zu einem Streit darüber kommt, ob eine Beziehung zwangsläufig langweilig wird, wenn sie länger als zehn Jahre dauert
Lieber Jochen, was macht dir eigentlich am meisten Angst, wenn du uns Paare beobachtest? Vielleicht hast du auch gar keine Angst. Aber du klingst so …
aw:
Kennst du diesen Satz: »Wenn das Haus fertig ist, kommt der Tod«?
Klingt ein bisschen düster, aber ich will dir das erklären.
Mit vierzig sind viele Dinge gezeugt, angeschafft, gekauft. Man hat sich »etwas aufgebaut«. Darauf hat man ja all die Jahre auch hingearbeitet. Jetzt geht man in die Verwaltungsphase über. Die Frage ist, was kommt jetzt eigentlich noch?
Vor dieser Frage habe ich mich immer gefürchtet. Auch wenn sie mich gar nicht betrifft. Man stellt sich die Frage ja erst, wenn etwas fertig ist, wenn der eigene Lebensentwurf eine gewisse Festigkeit erlangt hat. Mit Frau, Kindern, Beruf, Haus, Hund, Zeitungsabonnement.
Davor bin ich weggerannt. Alles sollte im Fluss sein, provisorisch, mein Leben wie ein Zelt, das ich schnell abbauen konnte, wenn es mir nicht mehr gefiel. Ich habe manchmal zu Freunden gesagt, im Scherz: »Wenn ich mal groß bin, dann …« Aber es war nicht nur ein Scherz, auch Beruhigung. Mein Leben lag in der Zukunft, es fing erst noch an. Es war wie Knete, nicht wie Beton. Das Einzige, was ich mir anschaffte, dauerhaft, war ein Beruf.
re:
Lieber Jochen, auf diese Weise fängst du nie richtig an. Das ist dir schon klar? Es ist ein Selbstbetrug zu glauben, das Leben liege in der Zukunft.
aw:
Lieber Maxim, ja, das ist Selbstbetrug. Aber ist eine Beziehung nicht auch oft Selbstbetrug? Die Ehe?
Die Liebe ist wichtig, aber ich nehme sie längst wahr wie einen Film. Wie Kino. Sie ist, wenn ich ehrlich bin, weitgehend befreit von Realismus. Der Gedanke an die Liebe wärmt mich ein bisschen, aber wenn mich jemand fragte: Willst du endlich eine Beziehung? Ich weiß nicht, was ich antworten würde.
Ich habe Bindungen, aber nur in einem für mich erträglichen Maße. Ich muss nicht mit jemandem zusammenwohnen, aber ich brauche jemanden, den ich anrufen kann, mit dem ich Zeit verbringen kann. Ich teile mein Leben nicht mit einem Menschen, ich teile es mit vielen Menschen. Vielleicht ist das meine Form von Bindung, von Beziehung. Eine, die zu mir passt.
Alle haben Angst vor dem Alleinleben. Sogar die Alleinlebenden. Ich kenne Alleinlebende, die sofort, wenn sie jemanden kennenlernen, anfangen, »an der Beziehung zu arbeiten«. Also sie arbeiten nicht an der Beziehung – sie arbeiten daran, überhaupt zusammenzukommen. Am Beziehungsbeginn. Am Verlieben. Sie versuchen Schmetterlinge zu züchten.
Ich habe mich sehr oft nicht verliebt. Während der vergangenen zehn Jahre war das Nicht-Verlieben meine Hauptbeschäftigung. Was sich in den vergangenen Jahren mehr und mehr veränderte, war die Einstellung. Irgendwann dachte ich, dass es Unangenehmeres gibt als Nicht-Verlieben. Zum Beispiel: Verlieben. Und dann irgendetwas daraus machen müssen.
re:
Lieber Nicht-Verlieber, woher kommt diese Angst, deinem Leben eine Form zu geben? Warum denkst du da gleich an Beton, an Unfreiheit? Nur Kinder spielen mit Knete, Jochen, hab ein bisschen Mut!
Deine größte Angst scheint darin zu bestehen, nicht wach und intensiv genug zu leben, in geordneten Verhältnissen einzuschlafen. Grundsätzlich kann ich das gut verstehen. Aber man wird nicht zwangsläufig langweilig, weil man in einer Beziehung lebt oder Kinder hat. Genauso wie das Leben ja nicht schon deshalb aufregend ist, weil man das alles nicht hat.
Wenn ich mir dein Leben so anschaue, dann frage ich mich, was du mit deiner ganzen Freiheit anstellst. Wofür nutzt du diesen ganzen Raum, der dir so wichtig ist? Du gehst arbeiten, gehst in Bars, gehst was essen, triffst Frauen, spielst Fußball. Das ist also das Ergebnis deiner Freiheit? Was von alledem wäre denn bedroht, wenn du dich mal auf etwas einlässt? Auf einen Menschen, auf eine Lebensform, die mehr ist als ein Zelt.
Die Möglichkeit, Jochen, wird für dich zum Wert an sich, weil sie so schön offen und unbestimmt ist, weil nichts muss, aber alles kann. Du schriebst mir einmal, die Sehnsucht wäre das Gefühl, dem du dich am liebsten hingibst. Sehnsucht ist die Möglichkeitsform der Liebe, ist die Möglichkeitsform von allem. Sehnsucht ist die Passion derer, die sich für nichts entscheiden wollen. Man sehnt sich nach etwas, was man eigentlich gar nicht haben will. Man leidet so angenehm an sich selbst. Das hast du doch gerne, Jochen, oder?
Das alles hat aber mit dem richtigen Leben nichts zu tun. In Wahrheit bist du weder frei noch intensiv noch echt. Du bist verängstigt. Vor allem betrügst du dich gerade um dein Leben, und das finde ich schade.
Noch ein Wort zum Leben mit einer Frau, also das, was man gemeinhin Beziehung nennt. Du hast eine eindimensionale, statische Vorstellung davon. Du denkst, die Beziehung beginnt, man baut sie auf, und dann steht sie irgendwann da und wird nur noch verwaltet. Dabei gibt es wahrscheinlich wenige Dinge, die so komplex und dynamisch sind. Die Beziehung, die ich heute mit Catherine führe, hat nur noch wenig mit der Beziehung zu tun, die uns am Anfang verbunden hat. Sie ist vielschichtiger und reicher geworden, weil unser ganzes Leben reicher geworden ist. Unsere Kinder sind ein Teil dieses Reichtums. Wie einsam und nutzlos würde ich mich fühlen, wenn ich die Kinder nicht hätte! Sie geben meinem Leben einen Sinn. Sie befreien mich von vielen Fragen, die dich martern. Kinder dürfen nicht der einzige Lebenszweck sein, man darf sich nicht hinter ihnen verstecken. Aber selbst wenn man das täte, fände ich das besser, als sich hinter all den Möglichkeiten und Ängsten zu verstecken, so wie du.
Warum traust du es dir nicht zu, ein Familienvater zu werden und gleichzeitig ein vitaler, wacher Mann zu bleiben? Ich glaube, du könntest das, du stehst dir nur selbst im Weg. Wirf die Knete weg, Jochen, und bau mal was Solides. Du bist jetzt nämlich schon ein großer Junge. Ich sage nicht: erwachsen.
aw:
Warum klingelst du an meiner Haustür, Pater Leo, und bietest mir dein Lebensmodell an wie eine Tüte Äpfel und das Neue Testament?
Das finde ich an Paaren anstrengend: die Mission. Dieses: Wann willst du denn endlich so leben wie wir? Ich möchte darauf eine kurze Antwort geben: Vermutlich nie. Also klingle bitte woanders, Pater Leo.
Ich habe nie behauptet, dass meine Freiheit aufregend ist. Ich verstehe aber auch nicht, warum du denkst, dass man mit Freiheit »etwas anfangen muss«. Muss man? Ich sitze gern in Bars, gehe essen, schaue Filme, treffe Freunde. Das muss dir nicht gefallen, du musst es nicht für wertvoll halten, genauso wenig wie ich dein Leben für wertvoll halte, nur weil du zwei Kinder hast.
Mein Leben hat eine Form, Maxim. Nur eben nicht die Form deines Lebens. Die Mutti-Vati-Kind-Form. Das scheint dich mehr zu verunsichern als mich.
Es ist ganz einfach so: Ich finde es aufregender, in einer Bar zu sitzen, als im Buddelkasten. Das ist aber nur mein Empfinden. Ich würde nicht zu dir sagen: Warum sitzt du da mit deinen nervenden Kindern im Sand rum? Weil ich davon ausgehe: Das macht dir Spaß. Also sitze im Sand, Maxim. Kein Problem.
Du hast recht, ich mag die Sehnsucht. Du dagegen kannst mit ihr nichts anfangen. Sie macht dich unsicher. Ich aber lege meinen Arm um die Sehnsucht und sage: I love you.
Du klingst, Maxim, wie ein Familien-Nazi, wenn du vom »richtigen Leben« sprichst. Wow, was ist das denn? Das richtige Leben? Du meinst wahrscheinlich dein Leben. Deinen Vati-Mutti-Kind-Traum. Du wirst mein Leben nicht begreifen, wenn du es mit deinen Maßstäben misst.
Ich frage mich, was dich an meinen Gedanken so beunruhigt. Ich komme mir vor wie der Teufel, der einen Fuß in deinen Familienhimmel setzt.
»Bau mal was Solides«, schreibst du.
Bist du das, Maxim, oder der Mann von der Bausparkasse?
»Warum traust du dir nicht zu, ein Familienvater zu werden?«, schreibst du.
Warum glaubst du, dass alle dort ankommen sollten, im Paarleben? Und wenn nicht, dann sind sie unglücklich, nicht erwachsen oder werfen ihre Leben weg? Ich verdamme keine Paare oder das Familienmodell, Maxim.
Es ist eher so, dass du mein Modell verdammst.
Du schreibst: »Meine Kinder befreien mich von vielen Fragen, die dich martern.« Das ist schön. Aber mich interessieren gerade die Fragen. Vielleicht mehr als die Antworten. Mich interessiert: Wie lebe ich richtig?
Dich interessiert: Wie bekomme ich die Bestätigung dafür, dass ich richtig lebe?
re:
Lieber Jochen, ich will dich nicht missionieren. Mein Eindruck ist nur, dass du nicht zufrieden bist mit deiner Situation, dass du nach etwas suchst. Mir fiel auf, dass du dir viele Fragen stellst, dass du Probleme siehst, die irgendwann auftauchen könnten. Und was ich dir im Grunde nur sagen wollte, war: Vergiss die ganzen Schwierigkeiten und lauf ein paar Schritte, ohne nachzudenken. Hab den Mut, etwas anzufangen, ohne schon zu wissen, wie es endet. Ich wollte dir einen kleinen Schubs geben. Einen lieben Schubs.
Interessant finde ich die Rollenverteilung in unserer Männerfindungsgruppe. Du willst mich zum Grübeln bringen und ich dich zum Handeln. Du meinst, ich müsse mir mehr Fragen stelle, und ich rate dir, nicht so viel nachzudenken. Wir empfehlen uns also gegenseitig das, was wir für uns als richtig erkannt haben. Weißt du übrigens, dass du mich an Catherine erinnerst? Die will auch, dass ich mehr in mir suche. Wir sind dabei, ein richtiges Paar zu werden, du und ich. Mit Streits und allem Drum und Dran. Ich würde vorschlagen, dass wir den Sex erst mal außen vor lassen …
aw:
Ich bin wie Catherine. Und du bist wie mein Vater. Meine Mutter ist eigentlich auch wie Catherine. Also bin ich wie meine Mutter. Aber die ist gar nicht so wie ich. Alles ist so durcheinander. Alles ist so kompliziert …
re:
Lieber Jochen, du denkst, eine Beziehung wird nach einer gewissen Zeit zwangsläufig langweilig. Das lese ich aus deinen Zeilen. Bei vielen Paaren mag das so sein, aber es ist, glaube ich, kein Naturgesetz. Klar gibt es die erste Verliebtheit, und man entdeckt einen Körper, und wenn es gut läuft, fliegen auch ein paar Schmetterlinge durch die Gegend. Aber genauso schön ist es, Vertrauen zu haben, sich hinzugeben. Sich niemand anderen mehr an seiner Seite vorstellen zu können. Einer Frau sein Leben zu schenken, mit ihr Kinder zu haben. Das klingt kitschig und übertrieben? Na und?
Du sprichst von nachlassender Erotik. Aber was ist mit der Nähe, die größer wird? Eine Beziehung wird mit den Jahren nicht schlechter, sie wird anders. Reifer. Ich weiß, du kannst damit nichts anfangen. Reife Beziehung klingt für dich wie Sex mit dritten Zähnen. Mir geht es nur darum, dir zu sagen, dass du keine Angst haben musst. Wenn du eine Frau findest, die du liebst, kannst du mit ihr alt werden, auch ohne dir oder ihr etwas vormachen zu müssen. Vorausgesetzt, du bleibst dran.
Ich wünsche dir eine gute Nacht. War anstrengend heute, aber Streit ist wichtig und gut. Sagt zumindest Catherine immer. Dein Pater Leo