Tag 32
An dem mal ganz grundsätzlich der Unterschied zwischen Geborgenheitsliebe und Stromliebe erklärt wird. Und das Begehren gleich noch mit
Verehrter Pater Leo, Heilige Dreifaltigkeit in Menschengestalt, ich glaube nicht, das eine Beziehung mit den Jahren zwangsläufig fad werden muss. Das schwöre ich beim Leib unserer Jungfrau Maria.
Ich glaube aber, dass es nach zehn oder fünfzehn Jahren anstrengender wird, die Liebe zu erhalten. Der Arbeitseinsatz wird größer. Mit 40 gibt es immer weniger Dinge, die eine Liebe von außen zusammenhalten. Die Kinder sind nicht mehr klein, die Wohnung abbezahlt. Man ist wieder mehr auf sich selbst zurückgeworfen. Und ja, ich glaube, die Erotik lässt nach. Meistens. Das ist nicht meine Idee, das ist ein Fakt. Wissenschaftlich erwiesen, getestet, begutachtet.
»Eine Beziehung wird mit den Jahren nicht schlechter, sie wird reifer«, sagst du. Das mag sein. Das ist gut. Du hoffst jetzt auf die Reife und damit auf eine Art Tauschgeschäft: Weniger Bettzeit, dafür mehr Nähe. Weniger Ekstase, dafür bessere Gespräche. Ich finde das auch nicht falsch oder schlecht. Die Frage, die mich interessiert, liegt im Graubereich: Wo betrachte ich eine Beziehung noch mit dem notwendigen Realismus, frei von übertriebenen Erwartungen? Und wann bin ich schon zu bequem, um überhaupt noch Erwartungen zu haben?
aw:
Du meinst, ich sollte meine Beziehung infrage stellen?
re:
Nein. Du könntest dir nur überhaupt mal Fragen stellen. Über dich. Über deine Frau. Über dein Leben.
aw:
Ich gebe mir wirklich Mühe – beim Fragenstellen. Vielleicht habe ich noch nicht deine Erfahrung, aber ich bin willig. Du bist, was deine Fähigkeit der Selbstanalyse angeht, viel weiter als ich. Aber ich will trainieren! Selbstanalytisch werden!
re:
Okay. Eine einfache Frage zum Trainieren. Leicht zu beantworten. Nachdenken für Anfänger. Von all den Jahren deiner Beziehung, Maxim:
Wie viele waren a) sehr glücklich, b) glücklich, c) okay, d) schwierig?
aw:
Trainingsfrage, ja? Im Bereich Schwierigkeiten und Unglück habe ich noch große Schwächen. Nach ein paar Tagen habe ich Schwierigkeiten und Unglück leider vergessen. In meiner Erinnerung liegen deshalb siebzehn Jahre Eheglück hinter mir. Du müsstest für eine profunde Analyse Catherine fragen. Würde mich auch interessieren, was sie sagt. Wenn ich mich aber bemühe, meine Ehe kritisch und von ganz weit weg zu sehen, dann würde ich sagen: Basislevel okay, mit nicht selten glücklichen Ausschlägen.
re:
Du hast Schwierigkeiten und Unglück nach ein paar Tagen vergessen?
aw:
Lieber Jochen, normalerweise reicht es mir, wenn es mir gut geht. Ich muss nicht wissen, warum es mir gut geht. Diese Warum-Fragen sind wider meine Natur, verstehst du das? Das spärliche Wissen, das ich über mich habe, ist wahrscheinlich der Preis, den ich bezahle für mein zufriedenes Gefühl. Es ist wie mit den Bauern in der russischen Taiga, die auf einmal einen Stromanschluss in ihre Lehmhütten bekommen. Und als sie zum ersten Mal das Licht anmachen, sehen sie, wie hässlich ihre Hütten sind. Und sie nehmen einen Stein und löschen das Licht.
Catherine regt sich oft darüber auf, dass ich mich an einen Streit, der eine Woche zurückliegt, nicht mehr erinnern kann. Er ist weg, aus meinem Gehirn gelöscht. Das ist kein böser Wille, sondern sehr viel Übung.
Ich bin nicht gerade der große Beziehungsarbeiter. Ich gucke lieber einen Film, als über meine Ehe zu reden. Aber Catherine lässt nicht locker. Mittlerweile ist dieses Beziehungsreden für mich so etwas Ähnliches wie Jogging geworden. Ich muss mich überwinden, ich finde es eigentlich langweilig. Aber ich bin stolz und fühle mich gut, wenn ich es getan habe. Wenn Catherine nur eine halb so faule Beziehungsarbeiterin wäre wie ich, wären wir sicherlich längst geschieden. Also achte darauf, Jochen, dir ein Arbeitsbienchen zu nehmen. Ich halte dich nämlich auch nicht für den großen Handwerker der Liebe.
re:
Schon mal eine Ehekrise gehabt?
aw:
Wir hatten noch keine Ehekrise, aber wir haben regelmäßig ordentliche Streite. Manchmal frage ich mich, ob wir nicht auch mal eine Ehekrise haben sollten. Man sagt ja, das sei so wichtig für eine Ehe. Tja.
re:
Worüber streitet ihr?
aw:
Thema 1: Ihre Eltern. Thema 2: Meine Eltern. Thema 3: Urlaub bei ihren Eltern. Thema 4: Ich habe irgendein Problem vergessen.
Das ist dann das Problem. Ist übrigens auch jetzt ein Problem, weil ich seit zehn Minuten versuche, mich an den letzten Streit mit Catherine zu erinnern, und nicht darauf komme, worum es ging. Ich weiß nur noch, dass ich geschrien habe, dass sie im Bett lag und geweint hat und ich weggegangen bin.
PS: Darf ich dir auch eine Frage stellen?
re:
Du willst dem Trainer eine Frage stellen?
aw:
Ja. Über die Liebe. Du schreibst, deine »Hauptbeschäftigung« in den vergangenen Jahren sei das Nicht-Verlieben gewesen.
Ich würde gerne wissen, was Liebe für dich bedeutet.
Ich glaube, auch da haben wir ganz verschiedene Vorstellungen.
re:
Was Liebe für mich bedeutet? Diese Frage ist zu groß. Genauso wie die Frage: Bist du glücklich? Ich antworte dir natürlich sehr, sehr gerne, aber vielleicht kannst du die Liebe ein bisschen kleiner hacken. In Häppchen.
aw:
Gut, wenn dir die Bedeutung der Liebe als Thema zu groß ist, dann erzähle mir doch bitte, wann dir die Liebe das letzte Mal begegnet ist. Wie war das? Wie fühlte es sich an? Hat sie dir Freude oder Angst gemacht?
re:
Lieber Maxim, ich traf die Liebe an einem Tag im Mai. Sie trug ein Kleid, Schuhe aus Erbsenmehl und einen abgetragenen Zaubermantel. Sie stand mitten auf der vierspurigen A9 zwischen Berlin und Leipzig und rauchte Blumenerde. Sie hatte die schönsten Zähne der Welt, den schönsten Bauch der Welt, die schönsten Knieeckgelenke der Welt, die schönsten Poren, die schönsten Ohren, und als sie den Mund öffnete, den schönsten der Welt, flogen Schmetterlinge heraus, Zugvögel und Myrrhe und Weihrauch.
Das könnte ich schreiben, Maxim. Würde uns aber nicht weiter- bringen.
Du kannst dich an keinen Streit erinnern, schon gar nicht an eine Ehekrise. Schon nach einer Woche ist bei dir jegliche Streiterinnerung gelöscht. Gleichzeitig möchtest du, dass ich mich an die Liebe erinnere. Eine Sache, die irgendwann im vergangenen Jahrtausend stattfand, die schon eingestaubt ist, die ich ewig nicht gesehen habe, die in meinem Leben gerade keine Rolle spielt. Das funktioniert nicht.
Wahrscheinlich begann meine letzte Liebesgeschichte ganz schlicht. Ein bisschen langweilig. Die meisten Liebesgeschichten beginnen so. Auf einer Party in einer Wohnung. In einem Club. An einer Straßenbahnhaltestelle. In einem Hörsaal. Am Saftautomaten der Kantine einer Firma, auf der Post, auf einer feuchten Wiese, in einem flachen See, im Stau, in einem Flur mit Neonröhren, im Tanztheater oder im Winter.
Ich kann dir keine Liebesgeschichte erzählen, Maxim. Nichts Frisches, Echtes. Nur abgehangenes Zeug aus dem alten Jahrtausend, das ich selbst schon zu 85 Prozent vergessen und zu 15 Prozent idealisiert habe.
Ich kann dir etwas erzählen über das Begehren.
aw:
Ich höre …
re:
Begehren spielt in meinem Männerleben eine Rolle. Begehren steht zeitlich vor dem Verlieben und der Liebe. Und qualitativ, falls man das bewerten möchte, darunter. Es ist ein billiger, schneller Kick. Es ist manchmal sogar geil. Ein geiles Spiel zwischen Erwachsenen. Ich suche nicht jeden Tag nach der Liebe. Aber jeden Tag oder mehrmals in der Woche jemanden zum Begehren.
So viel zur Liebe. J.
aw:
Das verstehe ich nicht. Du hast mir erzählt, du würdest große Teile deines Privatlebens damit verbringen, in abgedunkelten Bars und bei Rum-Longdrinks über die Liebe zu reden. Worüber redest du denn da, wenn sie nur noch ein Ding aus dem vergangenen Jahrtausend ist?
re:
Lieber Maxim, ich rede in Bars nicht über Liebe. Ich weiß, ich habe das geschrieben, und du hast es geglaubt, aber ich habe mich verschrieben.
Ich rede in der Bar mit Freunden über Frauen. Über das Begehren. Meinetwegen auch über Sex, dort führt das Begehren ja manchmal hin. Wir reden auch über Beziehungen, die andere Leute führen. Manchmal sagt einer von uns: »Ich möchte mich verlieben.« Aber es geht auch dann, glaube ich, nur ums Begehren oder das Begehrtwerden. Das hat alles aber nichts mit Liebe zu tun.
Liebe ist die Freundschaft mit einer Frau inklusive Sex. Eine bessere Definition fällt mir nicht ein. Von der Liebe erwarte ich eigentlich nur, dass sie irgendwann endet. Liebe muss man erkennen, pflegen, schätzen, behüten, dran arbeiten, auffrischen, genießen, lebendig halten, feiern, verabschieden, in Ehren halten, erleben, ersehnen. Vor allem aber muss man an sie glauben. Man darf sie nicht verraten, totschweigen, für selbstverständlich halten, überfrachten, wegwerfen, zu leicht nehmen, vernachlässigen.
Die Liebe soll zum Glück führen, aber ich kann Glück eigentlich nur akzeptieren, wenn ich es auch kontrollieren kann, wenn ich es selbst hervorgebracht habe, durch Arbeit, Mühe oder Nachdenken. Aber einfach so, vom Himmel geflogen, als Wunder, Geschenk, völlig grundlos und willkürlich? Schwierig.
Ich will die Liebe nicht schlechtmachen, und vielleicht liegt es auch am trüben Wetter vor meinem Fenster, an dem leberwurstfarbenen Himmel, aber ich bin nicht in Liebesstimmung. Liebe führt ja immer zu was, Maxim. Liebe ist ja nie einfach nur Liebe. Liebe hat Folgen. Kinder, Einbauküchen, Haushalte, Gärten, Familienurlaube, Wochenendhäuser, Schwangerschaftskurse, noch mehr Kinder, Kindergeburtstage, Familienfeste, Gesellschaftsspiele am Wochenende, Paare-laden-Paare-zum-Essen-ein-Abende. Das ist der Rattenschwanz der Liebe. Er ist ungefähr 20 Meter lang und behangen mit allen möglichen Scheußlichkeiten.
Und nach fünfzehn Jahren, mit der Scheidung, muss man den ganzen Schwanz wieder abschneiden und vergraben.
Darum schätze ich das Begehren. Es ist nicht sehr haltbar, aber intensiv. Einatmen, high werden, wieder runterkommen.
Vor allem aber führt das Begehren, wenn man geschickt damit umgeht, zu nichts. Es ist ohne Gewicht. Es hat kaum Folgen oder unangenehme Nebenwirkungen. Die Unangenehmste ist die Sehnsucht. Aber Sehnsucht ist nur am Morgen unangenehm. Und am Abend am schönsten, lebendigsten.
Liebe ist die Freundschaft mit einer Frau inklusive Sex.
Muss da mehr sein?
PS: Ich bin nur ein Liebeslaie. Du bist Profi, Maxim. Du bist Dr. Love. Du hast sicherlich Antworten. Was soll ich von der Liebe erwarten?
aw:
Lieber Liebeslaie, ich bin verheiratet, und ich liebe meine Frau. Und meine Kinder. Und meine Eltern. Ach so, mich liebe ich, meistens jedenfalls. Von diesen ganzen Liebesgeschichten kann ich erzählen.
Ich fange vielleicht mit Catherine an, ich schätze, das interessiert dich am meisten. Okay, ich würde da zwischen zwei Erscheinungsformen der Liebe unterscheiden. Es gibt zum einen dieses warme, innige Zugehörigkeitsgefühl. Ich würde es die Geborgenheitsliebe nennen. Dieses Gefühl entsteht nach ein paar Jahren, es beruht auf Erfahrung, Vertrauen und Nähe. Es ist wie ein Geländer, an dem man sich langbewegen kann. Wie eine warme Höhle, die einem Schutz und Ruhe bietet. Überall sonst müssen wir funktionieren, einem Bild entsprechen. In der Höhle muss man sich nicht verstellen, man kann so traurig oder glücklich sein, wie man gerade ist. Die Geborgenheitsliebe gibt mir Sicherheit. Ich kann die Augen schließen und mich fallen lassen.
Daneben gibt es dieses flirrende, prickelnde Gefühl, das manchmal kurz auftaucht und gleich wieder verschwindet. Ein paar Herzschläge lang ist es da. Man kann es nicht herbeirufen und auch nicht festhalten. Manchmal fühlt es sich wie Strom an, und ich habe mich schon mal gefragt, ob es irgendwo in unserem Körper eine Liebesbatterie gibt, die in diesen kurzen Momenten wieder aufgeladen wird. Die Stromliebe taucht in Situationen auf, die ich oft für nicht angemessen halte. Neulich saß ich zum Beispiel auf dem Klo, und auf einmal war sie da. Keine Ahnung, warum sie mich nun gerade da besucht hat. Was hat meine Liebe zu Catherine in unserem Klo verloren?
Andererseits gibt es Momente, in denen ich so einen kleinen Stromstoß durchaus für angemessen halten würde. Zum Beispiel wenn Catherine und ich auf einer Wiese am See sitzen und ein Schwanenpaar in der Abendsonne vorbeigleitet. Aber die Stromliebe mag keine Klischees.
re:
Was ist schöner? Strom oder Geborgenheit? 4000 Volt oder 40 Jahre?
aw:
Lieber Jochen, ich mache mir Sorgen, wenn zu selten Strom fließt. Einmal im Monat möchte ich das Kribbeln spüren. Es ist für mich die Bestätigung, dass alles gut ist. Ich weiß, das ist bescheuert. Es widerspricht dem ganzen Prinzip. Aber ich bin kein Zufallstyp, ich lasse mich nicht gern überraschen, vor allem nicht, wenn es um die Liebe geht. Ich würde gerne wissen, wie dieser Strom entsteht. Bin ich das, der ihn produziert?
Ich glaube, wir achten zu sehr auf die Stromliebe, sie gilt als die echte und schönste Liebe, womöglich, weil wir sie nicht beeinflussen können. Sie ist unabhängig wie das Bundesverfassungsgericht. Die Geborgenheitsliebe dagegen liegt wie ein alter Teppich in der Wohnung rum. Und weil sie scheinbar immer da ist, ehren wir sie nicht besonders. Dabei ist diese Liebe viel wichtiger. Gerade weil sie solide und verlässlich ist. Es ist die Liebe des Alltags, der Zeit also, in der keine Schwanenpaare vorbeigleiten.
re:
Liebes Schwanenpaar, lieber Maxim, ich habe vor ein paar Tagen DVD geschaut. Eine amerikanische Serie, die Mad Men heißt und von Männern handelt. Männern in einer Werbeagentur in New York, 60er-Jahre. Einer der Helden der Serie heißt Don Draper. Es gibt eine Szene, in der Don Draper mit einer Kundin in einer Bar sitzt. Eine schöne, dunkelhaarige Frau. Don Draper und die Frau reden. Sie führen einen kurzen Dialog über die Liebe.
Draper: Warum sind Sie noch nicht verheiratet?
Frau: Wundern Sie sich, was mit mir nicht stimmt? (…) Na ja, ich war noch nie verliebt.
Draper (verwundert): Sie möchte nicht heiraten, denn sie war noch nie verliebt. Hab ich mal als Slogan entworfen – für Nylonstrumpfhosen.
Frau (belustigt): Für viele ist Liebe nicht nur irgendein Slogan.
Draper: Ach so, Sie meinen Liebe. Wenn man Schmetterlinge im Bauch hat und weder essen noch richtig arbeiten kann und man einfach losrennt und heiratet und Babys macht. Wissen Sie, warum Sie das noch nie gefühlt haben? Weil es gar nicht existiert. Was Sie unter Liebe verstehen, wurde von Leuten wie mir erfunden, um Nylonstrumpfhosen zu verkaufen.
Frau (belustigt): Ist das wirklich wahr?
Draper: Ich bin mir ziemlich sicher. Man wird allein geboren und stirbt allein. Die Welt drückt einem einen Haufen Regeln auf, damit man das vergisst, aber ich vergesse das nie. Ich lebe, als gäbe es kein Morgen, denn es gibt keins.
Frau (fast traurig): Das war mir ehrlich gesagt noch gar nicht richtig bewusst. Es muss manchmal auch schwer sein, ein Mann zu sein, oder?
Eine geruhsame Nacht wünscht, Jochen Draper.
PS: Ich habe übrigens inzwischen Anna wieder getroffen. War nett.