Tag 40
An dem von einer schlaflosen Nacht in Nizza berichtet wird und das Äußern von Gefühlen geübt wird
Lieber Jochen, während ich seit Tagen meine Sehnsüchte suche und nichts von dir höre, fällt mir ein, dass ich dir noch gratulieren wollte. Anna und du, ihr seid ja jetzt zusammen. Du bist nicht mehr Single. Herzlichen Glückwunsch! Ich möchte leise anmerken, dass ich sehr stolz auf dich bin. Und auf mich. Haben meine Worte, mein positives Lebensbeispiel also doch reife Früchte getragen.
Willkommen in Pärchencountry!
aw:
Anna und ich sind nicht zusammen.
re:
Ich dachte?
aw:
Ich habe nur gesagt, Anna hätte gesagt, dass wir zusammen sind. Das heißt aber nicht, dass ich sage, dass wir zusammen sind.
re:
Was seid ihr denn nun? Halb zusammen? Du bist ihr Freund, aber sie ist nicht deine Freundin? Du hast nur Angst vor dem Begriff, Jochen: »zusammen sein«. Der kommt übrigens vom Zusammensein. Wie oft seid ihr denn zusammen?
aw:
Öfter.
re:
Wann zuletzt?
aw:
Am Wochenende. Wir waren in Nizza.
re:
Nizza! Der Hafen der Leidenschaft!
aw:
Halt die Klappe.
re:
Das Liebesnest der Turteltauben!
aw:
Ich war krank.
re:
Nächte voller Sinnlichkeit an der Côte d’Azur!
aw:
Und Anna hatte ihre Tage.
re:
Oh, Jackpot. Hättest du ja in den Spreewald fahren können.
aw:
Wir waren zum ersten Mal vier Tage am Stück zusammen. Rekord.
re:
Bravo!
aw:
Ich vermisse dein väterliches Feingefühl.
re:
Vier Tage sind für mich nur ein winziger Pups in der Paargeschichte. Aber ich bin trotzdem sehr stolz auf dich. Bravo!
aw:
Ich war stark erkältet. Ich schniefte, hustete, mein Hals kratzte, und meine Nase war rot wie ein Pavianarsch. Ich konnte nachts nicht schlafen und Anna auch nicht, weil jedes Husten in ihren Ohren klingt wie MG-Feuer. (Sie hat die empfindlichsten Ohren der Welt.) Wir lagen wach, um vier Uhr morgens. Das heißt: Noch lange drei Stunden, bis der Tag beginnt. Und kaum Chancen, noch mal richtig einzuschlafen. Also erzählte ich Geschichten, wahre und erfundene. Über Krankheiten, Ost-Berlin und die Lieder, die wir in der Schule gelernt haben. Ich sang, krächzte: »Ich trage eine Fahne« in diesem Hotelbett an der Côte d’Azur nachts um vier. Anna lachte, sang mit, erzählte von den Gnocchi ihrer 95-jährigen brasilianischen Großmutter, der Waldorfschule in Hannover und irgendwas, was ich schon wieder vergessen habe. Wir lachten, darüber, dass wir wie Oma und Opa im Bett liegen, schlaflos, sexlos. Wir überlegten, ob wir Sex haben sollten, aber in meinem Hals hingen Dinge, die nicht sexy waren, und es wäre irgendwie auch Versehrtensex gewesen. Trotzdem war es ein intimer Moment, eine intime Nacht, die in gewisser Weise meine aufregendste Nacht seit Langem war.
re:
Ja, sehr aufregend. Und auf der nächsten Reise massiert ihr euch nachts die Füße mit Kampferöl, kämmt euch gegenseitig die Haare und spielt Canasta.
aw:
Du bist zynisch. Das ist mein Job, okay? Du bist Vater Leo, der großherzige, kinderreiche, monogame Fels.
re:
Bin ich. Ich werde auch gar nicht wie du. Sondern du wirst langsam wie ich.
Was ich sehr, sehr schön finde.
aw:
Schwer vorstellbar, dass ich werde wie du.
re:
Du bist schon auffällig gefühlig geworden, mein Lieber. Weich, buttrig. Anna könnte dich auf eine Stulle schmieren und aufessen. Happ-happ. Happ-happ.
aw:
Maxim, du hast doch immer gepredigt: Öffne dich! Öffne dich! Und jetzt liege ich hier wie eine schüchterne Miesmuschel, die Schale auf zehn Grad geöffnet, und du rufst plötzlich: Schließen, schließen!
re:
Jochen, entscheidend ist doch nicht, was du mir sagst. Sondern was du Anna sagst. Was war bislang deine größte Gefühlsäußerung?
aw:
Keine Ahnung. Irgendwas Nettes. Aufmerksames.
re:
Gefühle, Jochen. Gefühle.
aw:
Hetz mich nicht. Ich denke ja nach …
45 Minuten später
aw:
Ich habe Anna mal gesagt, dass ich sie echt gut finde, irgendwie.
re:
Jochen, was hast du genau zu ihr gesagt?
aw:
»Ich finde dich echt gut, irgendwie.«
re:
Entschuldige, Jochen, ich habe ein bisschen mit der Antwort gebraucht, weil ich lachen musste. Sehr lange lachen. Das nennst du eine Gefühlsäußerung? Selbst ein Speiseeis hätte Anspruch auf Mitleid, wenn es so begehrt werden würde. Komm, wir üben jetzt mal. Denk dran, wir sind allein. Keiner kann uns hören. Wir sitzen in einer großen, dunklen Bar. Und jetzt flüsterst du mir ins Ohr, was du wirklich für Anna empfindest. Ich werde es ihr nie sagen. Ich werde es sogar gleich vergessen. Wenn du willst, halte ich mir sogar die Ohren zu. Es geht nur darum, dass du es sagst, verstehst du? Also, komm, einen echten Gefühlssatz …
aw:
»Schön. Von innen und von außen. Von hinten und von vorne. A-N-N-A.«
re:
Geht doch. Schon besser. Aber noch nicht gut. Stelle dir Anna vor, visualisiere sie und versuche das Maximum dessen, was du für sie empfindest, in schöne, warme, ergreifende Worte zu kleiden. In Liebesworte.
aw:
Das ist das Maximum. Heute, 17.49 Uhr. Sehr viel Maximum, ein ungewöhnliches Maximum. Das maximalste Maximum der vergangenen zehn Jahre. Maximaler geht nicht. Sorry.