Kapitel 6

EDEN

Okay, tja, da stehe ich also an einem Sonntagnachmittag mitten in meiner neuen Wohnung, die Hände in den Hüften, und grinse wie eine Idiotin.

Doch ich bin wohl entschuldigt, denn, mal ehrlich, meine Wohnung. Wenn ich diese Worte nur denke, wird mein Grinsen noch breiter.

Die kleine Erdgeschosswohnung mit Bad in Roscoe Village mag in den Augen anderer Leute keine große Sache sein. Stimmt, es ist keine palastartige Eigentumswohnung an der Goldküste. Aber verdammt, sie gehört mir. Langsam drehe ich mich um die eigene Achse und sehe mich um, obwohl ich längst jeden Zentimeter abgeschritten, in sämtliche Ecken und Schränke geschaut und in Gedanken alles mit wirklich vorhandenen und imaginären Möbeln eingerichtet habe. Den Großteil der Wohnung nimmt das Wohnzimmer ein, von dem rechts eine kleine Küche abgeht. Ein kurzer Flur führt zum erstaunlich großen Schlafzimmer, einem begehbaren Kleiderschrank und dem winzigen Kabuff von einem Bad. Die wichtigsten Vorzüge – neben dem Zwanzig-Minuten-Arbeitsweg und der Tatsache, dass die unglaublich niedrige Miete bereits sämtliche Nebenkosten abdeckt – sind der eingezäunte Hinterhof und die kleine überdachte Veranda neben der Küche.

Ich bin vollkommen verknallt.

Mit einem tiefen Atemzug sauge ich den Geruch nach frischer Farbe und Reinigungsmitteln in die Lunge. Gestern bin ich schon mal hier gewesen und habe alles gründlich geschrubbt. Nicht dass die Vormieter mir einen Saustall hinterlassen hätten. Ich hatte nur das Bedürfnis … weiß nicht, der Wohnung meinen Stempel aufzudrücken.

In den vergangenen drei Wochen seit der Vertragsunterzeichnung war mir zumute, als müsste ich die komplette Eiszeit durchstehen. Ein bleischwerer Tag nach dem anderen. Ich fühle mich noch immer wie Judas, weil ich Katherine verlasse, ihr wehtue. Vor meinem geistigen Auge sehe ich immer noch, wie sie heute Morgen dastand, als ich meine letzten Sachen in den Wagen gepackt habe. Die blauen Augen nass glänzend vor Tränen, die sie nicht zu verbergen versuchte. Die herabgesunkenen Schultern. Die tieftraurige Stimme, mit der sie mir viel Glück gewünscht hat.

Seufzend fahre ich mir mit den Fingern durchs Haar und schüttle die Last für einen Moment von mir ab. Rein vom Verstand her ist mir klar, dass ich mein Leben nicht für meine Schwiegermutter auf Stand-by schalten kann. Aber das hilft nicht gegen das schlechte Gewissen, das mich plagt, weil ich jemanden verletze, den ich liebe. Jemanden, der mir wie eine Mutter gewesen ist.

»Verdammt, was bin ich froh, dass du im Erdgeschoss wohnst«, brummt Jude, der gerade einen großen Karton zu meiner Tür schleppt. Grunzend stellt er ihn auf dem Hartholzboden im Wohnzimmer ab und richtet sich auf. »Als ich gesagt hab, ich helfe dir, war mir nicht klar, wie viel Zeug du hast.«

Ich schnaube. »Tja, mein Zeug und ich wissen deine Hilfe sehr zu schätzen.« Ich gehe in die Küche, schnappe mir eine der Bierflaschen, die ich für ihn und seine Brüder kalt gestellt habe, und bringe sie ihm. Er öffnet sie und stürzt einen großen Schluck hinunter. »Du weißt, dass ich dich liebe, oder?«

»Jaja. Nett zu sein, bringt dir gar nix, außer alles.« Er zwinkert mir zu und stellt die Flasche auf einem der neuen Kirschholz-Beistelltische ab. Da Katherine und Dan von mir nur eine sehr kleine Summe als Miete akzeptiert haben, ist mein Notgroschen ziemlich ansehnlich. Es reicht, um die Miete für diesen und den vergangenen Monat zu zahlen sowie die Kaution, außerdem kann ich mir neue Möbel leisten, um das zu ergänzen, was ich aus der gemeinsamen Wohnung mit Connor behalten habe.

»Untersetzer, Mann! Benutz einen Untersetzer!«, rufe ich, greife nach dem kleinen Behälter mit den ebenfalls brandneuen rechteckigen Untersetzern, knalle einen auf den Tisch und stelle seine Bierflasche darauf.

»Was hast du jetzt schon wieder angestellt?«, erkundigt sich Simon, der gerade zur Tür reinkommt und einen weiteren Karton anschleppt, der die Aufschrift Küche trägt. Wahrscheinlich Geschirr und Besteck.

»Willst du nicht wissen«, erwidert Jude betont affektiert und wirft mir einen amüsierten Blick zu. »Aber wenn ich dir einen guten Rat geben darf: Wer ihre Möbel mit einer tropfenden Bierflasche verziert, ist des Todes.«

»Halt doch die Klappe«, brumme ich und folge Simon in die Küche. »Danke, Simon«, sage ich, als er den Karton auf dem Küchentresen abstellt, und reiche ihm sein Bier. »Du jammerst nicht so rum wie dein Bruder.« Ich dämpfe meine Stimme zu einem Flüstern. »Der ist eine richtige Heulsuse.«

»Du weißt aber schon, dass ich hier stehe, oder?«, merkt Jude mit gespielt finsterer Miene an. »Ich kann dich hören.«

»Ups. Tut mir leid.« Ich kichere. »Die Akustik hier scheint echt phantastisch zu sein.«

Simon lacht und pfeffert den Deckel seiner Flasche in den Mülleimer, der direkt neben ihm steht.

»Hey, wo soll diese Kiste hin? Da steht nix drauf.« Die tiefe, grollende Stimme hallt von den cremefarbenen Wänden wider, und als Knox hereinkommt, wirkt die ohnehin nicht sehr große Wohnung auf einmal noch kleiner.

Gern würde ich behaupten, dass mein Blick nicht über seine muskulösen, über und über tätowierten Arme wandert und die breiten, kräftigen Schultern, die das schlichte weiße T-Shirt zu sprengen drohen. Und ebenso gern würde ich sagen können, dass es mich nicht in den Fingern juckt bei der Erinnerung an die Seidigkeit seines dunkelbraunen und goldenen Haars unter meinen Handflächen und zwischen meinen Fingern. Dass ich nicht mehr ganz genau weiß, wie sein Dreitagebart über die empfindsame Haut meiner Brüste und meines Oberkörpers kratzte.

Ja, all das würde ich gern behaupten.

Aber es wäre eiskalt gelogen.

Ich räuspere mich und gehe auf ihn zu, um eine andere Kiste aus dem Weg zu schieben, sodass er seine abstellen kann. Ein Vorwand, um so zu tun, als hätte ich nicht sein fast schmerzhaft maskulines Gesicht angestarrt, das selbst durch das dichte Haar, das seinen Kiefer umspielt, kaum weicher wirkt.

»Da.« Ich zeige auf die freie Stelle. »Hier kannst du es erst mal hinstellen.«

Er nickt, und ich zwinge mich, woanders hinzusehen und nicht auf seinen breiten Rücken und das Baumwollshirt, unter dem so verlockend die Muskeln spielen. Seinen festen Hintern.

Mein Bauch zieht sich zusammen, tief darin sammelt sich dunkle Hitze, wärmt mich zwischen den Beinen, zwickt mich in den Kitzler. Der Abend in Knox’ Wohnung ist über drei Wochen her. Der Abend, als er mich zu einem solchen Orgasmus gebracht hat, dass man es glatt eine außerkörperliche Erfahrung nennen könnte. Der Abend, der mich in einen so tiefen Abgrund der Trauer geworfen hat, dass ich mehrere Tage brauchte, um mich wieder an die Oberfläche zu schleppen.

Seitdem gehen wir sehr … höflich miteinander um. Ich habe mich danach gesehnt, mit ihm über diesen Abend zu reden, ihm zu erklären, weshalb ich so reagiert habe. Aber die Angst hat meine Zunge gelähmt. Wie kann ich ihm denn gestehen, dass die Lust, die er in mir geweckt hat, sich wie ein Verrat an meinem toten Mann angefühlt hat, seinem Bruder? Ich fürchte mich, dass … Scheiße, wenn es um Knox geht, fürchte ich mich praktisch vor allem. Vor seiner Zurückweisung. Seinem Schweigen. Davor, ihn zu verletzen. Davor, dass er mich verletzt. Nicht körperlich. Das auf keinen Fall. Aber emotional? Knox könnte mein gerade erst geschlüpftes, noch ganz frisches Selbstvertrauen leicht in lauter kleine Fetzen reißen.

Und trotz allem … Ich komme nicht dagegen an. Ich. Will. Ihn.

Würde in einer meiner neu gekauften Lampen wundersamerweise ein Dschinn wohnen, wäre mein allererster Wunsch, dass dieses … dieses krallende, schmerzhafte, unaufhörliche Verlangen nach ihm ein Ende hätte. Dann müssten Knox und ich einander nicht mehr umkreisen wie argwöhnische Wölfe. Ich würde nicht mehr so schwer an dieser gar nicht mehr ganz so geheimen Schande tragen. Und ich müsste nicht mehr in ständiger Furcht leben, dass Katherine irgendwie mitbekommen könnte, dass ich scharf auf ihren anderen Sohn bin.

Wenn doch seine Lippen mich nie berührt hätten. Wenn ich ihn nie dazu aufgefordert hätte, mich zu berühren. Wenn ich doch nie entdeckt hätte, welch eine köstliche, sündhafte Lust es mir bereitet, wenn seine Finger in mich eindringen. Wenn nur, wenn doch nur …

»War das der letzte Karton?«, frage ich Knox, zwinge mich dazu, mich auf ein anderes Thema zu konzentrieren als auf das sexuelle Minenfeld, in das sich mein Leben verwandelt hat.

»Jap«, bestätigt er. »Was brauchst du jetzt von uns?«

Bei den Worten Was brauchst du quittiert mein Hirn den Dienst. Meine Brustwarzen werden hart unter dem T-Shirt, richten sich auf, als wollten sie in dieser Angelegenheit mit abstimmen. Es braucht nicht viel, um mir wieder in Erinnerung zu rufen, wie sein Mund sie berührt, wie seine Zunge um meine Brustwarzen kreist und er daran zieht, saugt …

Kurz erstarrt, sehe ich ihm hilflos in die Augen. Bilde ich mir die auflodernde Hitze in seinem Blick nur ein? Oder die Anspannung, die seine sinnlichen Lippen schmaler werden lässt? Ich schlucke ein Aufstöhnen herunter, rucke hastig mit dem Kopf herum und starre blindlings ins Chaos ringsum. Mit donnerndem Herzschlag zeige ich auf den 55-Zoll-Flachbildfernseher, der an der gegenüberliegenden Wand lehnt. »Könntest du dich um meinen Fernseher kümmern?« Dann wende ich mich an Jude und Simon und frage: »Und würdet ihr beide den Fernsehschrank und das ganze Drumherum aufbauen? Ich bestell Pizza und hol noch mehr Bier.«

Die nächsten drei Stunden verschwimmen in einem Nebel aus Arbeit, Essen, Alkohol und Stimmen von Männern, die sich gegenseitig aufziehen. Als sich die drei schließlich Richtung Wohnungstür bewegen, ist mein Wohnzimmer fertig, komplett mit Sofa, Couchtisch, Beistelltischen, einem Stuhl und dem Fernsehschrank mit funktionstüchtigem Fernseher darin. Vor Zufriedenheit ist mir ganz warm in der Brust. Es sieht immer bewohnter aus, immer mehr wie ein Zuhause.

Doch als Knox, Jude und Simon aufbrechen wollen, spüre ich in der Brust auf einmal einen Splitter aus eiskalter Panik. Die Wahrheit trifft mich so hart, als hätte mir jemand mit einem Baseballschläger in den Rücken geschlagen: In wenigen Augenblicken werde ich zum ersten Mal, seit ich neunzehn war, ganz allein sein. Ich wollte eine eigene Wohnung, deshalb bin ich aus Katherines Haus ausgezogen. Aber jetzt, da es so weit ist … habe ich Angst. Das ist lächerlich, das weiß ich selbst. Trotzdem bin ich kurz davor, die drei anzubetteln, dass sie bleiben und noch eine Runde Pizza mit mir essen. Wir könnten die neue Staffel Stranger Things auf Netflix ansehen. Die Griffe an den Schranktüren zählen.

Ja, ich bin verzweifelt.

Aber anscheinend habe ich noch einen Rest Stolz im Leib, denn ich zwinge mich zu einem Lächeln, während Jude und Simon mich zum Abschied umarmen und auf die Wange küssen. Dann drehe ich mich zu Knox um und bemerke, wie ich mich anspanne und dafür wappne, seine Hände auf mir zu spüren. Die Saat des Zweifels geht auf, Ranken wachsen daraus hervor und winden sich um meine Brust, ziehen sich fest zu. Was habe ich denn eigentlich für ein Problem? Als Kind habe ich zahllose Nächte allein zu Hause verbracht, während mein Vater um die Häuser zog und meine Mutter unterwegs war, um ihn zu suchen. Ich bin gleich nach meinem Schulabschluss ausgezogen, bin Hunderte Kilometer weit bis nach Chicago gefahren, wo ich in den ersten Monaten auf dem College in meinem Auto geschlafen habe. Weshalb flippe ich jetzt auf einmal aus bei dem Gedanken, allein in meiner Wohnung zu sein?

Knox betrachtet mein Gesicht so aufmerksam, als würde ihm nicht die kleinste Regung entgehen, als wollte er meine Geh-weiter-hier-gibt-es-nichts-zu-sehen-Fassade durchdringen. »Was ist los?«, fragt er schließlich.

Verlegen schiele ich an ihm vorbei, aber seine Brüder sind bereits gegangen, haben nur die Tür für Knox offen gelassen. »Nichts«, schwindle ich, »mir geht es gut. Danke für deine große Hilfe heute.«

Sein durchdringender Blick senkt sich auf meine ineinander verflochtenen Finger. Verdammt. Ich unterdrücke mein angewidertes Stöhnen und bremse den nervösen Tick aus. Hebe das Kinn und nehme die Schultern zurück, dann sehe ich ihn herausfordernd an. Soll er es nur wagen, etwas dazu zu sagen.

Wortlos schiebt er die Tür hinter sich mit dem Fuß zu, den Smaragdblick unverwandt auf mich gerichtet.

»Ich bleibe.«