EDEN
Ich ziehe die Beine unter meinen Esszimmerstuhl, eine Tasse mit heißem Kaffee in beiden Händen, um mich daran zu wärmen. Um sieben Uhr morgens hat es sich draußen noch nicht aufgeheizt, die Kälte der Nacht reicht in die Morgendämmerung hinein. Das leise Stimmengemurmel aus dem Fernseher, den ich eingeschaltet habe, als ich mich vor einer Stunde aus dem Schlafzimmer schlich, leistet mir Gesellschaft, liefert mir dringend benötigte Hintergrundgeräusche.
Dringend benötigt, weil es mir hilft, nicht in den Kaninchenbau hinabzustürzen, den der tief schlafende Mann in meinem Bett für mich darstellt.
Ich kann nicht anders, ich blicke den Flur entlang in Richtung des Zimmers, in dem ich mich in den letzten Stunden in eine mir unbekannte Frau verwandelt habe. Er hat sie in mir geweckt – es ist ein wenig beängstigend, ein wenig verwirrend, unglaublich beglückend.
Vielleicht liegt es daran, dass wir es hinter dem Rücken unserer Familie miteinander treiben. Es ist falsch, verboten, der Bruch mit einem Tabu. Vielleicht ist es aber auch deshalb, weil er meine Hemmungen einfach pulverisiert hat. Mir erlaubt hat, alles zu tun, was ich will, ganz gleich, wie verrucht es ist, wie sehr es sich von dem Bild unterscheidet, das ich von mir selbst immer hatte. Ich weiß, dass Knox mich nicht verurteilt. Bei ihm fühle ich mich so frei wie bei niemandem sonst.
Und das schließt auch Connor mit ein.
Ich reibe mir mit der flachen Hand die Brust, direkt über dem Herzen. Es schmerzt, als befände sich dort eine Narbe aus gerade erst verheiltem Fleisch, noch leuchtend rosa und wund. Vielleicht ist es meiner damaligen Jugend geschuldet oder der Tatsache, dass es meine erste Beziehung war, oder es ist wegen meiner früheren Unsicherheit, jedenfalls bin ich in der Beziehung mit Connor zu derjenigen geworden, die er sich gewünscht hat. Nein, das ist nicht fair. Ich bin die geworden, von der ich glaubte, dass er sich mich so gewünscht hat. Seine Cheerleaderin, seine Stütze, die gute, gehorsame Ehefrau, deren einziges Ziel es war, ihm zu gefallen. O Gott, ich habe ihn geliebt, und ich liebe ihn immer noch. Und ich stelle mir gern vor, wie ich mich weiterentwickelt, wie ich das neunzehnjährige Mädchen hinter mir gelassen hätte, das zwar schon so viel gesehen hatte, aber trotzdem noch so schmerzlich naiv und unschuldig war – wie wir gemeinsam älter geworden wären. Und dass er die Frau, zu der ich mich entwickle, gemocht und geschätzt hätte. Werden wir allerdings niemals wissen.
Das ändert nichts daran, dass ich dort drüben in jenem Schlafzimmer gemeinsam mit Connors Bruder eine Seite meiner Sinnlichkeit entdeckt habe, die mich mutiger macht, die mir Kraft verleiht.
Ich habe noch nicht wirklich eine Idee, was ich mit dieser Frau anfangen soll.
Ich habe noch nicht wirklich eine Idee, was ich mit dem Mann anfangen soll, der mir gezeigt hat, dass ich es im Bett gern mag, wenn es ein bisschen dominant und ausgesprochen versaut wird.
Schuldgefühle überkommen mich. Wie kann ich denn von anderen erwarten, dass sie akzeptieren, was ich mit Knox getan habe, wenn ich selbst mich damit so schwertue? Das Gefühl, eine Verräterin zu sein – weil Knox eine Lust in mir entfacht hat, die ich meinem eigenen Ehemann gegenüber nie empfunden habe –, schlingt sich um mein Herz, sickert mir ins Blut, bis der Kaffee bitter riecht und auch auf meiner Zunge einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt.
Ich stelle den Becher auf dem Tisch ab, stehe auf und trete ans Fenster, von dem aus man auf die Straße hinausblickt. Die kühle Luft kriecht mir unter das T-Shirt, das ich vom Boden aufgehoben und übergestreift habe. Sein T-Shirt. Etwas in mir will es sich vom Leib reißen; ein Kleidungsstück von ihm zu tragen, das sogar noch nach ihm riecht, ist zu intim. Aber derselbe Impuls, der mich überhaupt erst dazu bewogen hat, es aufzuheben, hindert mich daran – ein Impuls, den ich nicht verstehe und den zu hinterfragen ich mich nicht traue, weil ich dafür zu feige bin.
»Warum hast du mich nicht geweckt?«
Beim Rumpeln der Reibeisen-Stimme hinter mir zucke ich zusammen. Mist. Ich habe ihn nicht hereinkommen gehört. Als ich mich umdrehe, begegne ich seinem Smaragdblick, der noch ein wenig verschlafen wirkt. Ein frühmorgendlicher Knox, der gerade aus dem Bett kommt, ist … höllisch sexy. Das Haar zerrauft, sowohl vom Kissen als auch von meinen Fingern; volle, von unseren Küssen geschwollene Lippen; sein kräftiger Nacken; muskulöse, tätowierte, bloße Brust und Arme; die Jeans hängt tief auf seinen Hüften, und der Reißverschluss steht offen. Zum Henker, selbst seine bloßen Füße wecken in mir die Erinnerung daran, wie er nackt und verschwitzt in mich eindringt, zustößt, mir einen Orgasmus nach dem anderen beschert.
»Ich weiß, wie schlecht du oft schläfst«, antworte ich und weiche seinem durchdringenden Blick aus, indem ich mich an ihm vorbeidrücke und in die Küche gehe. »Ich wollte dich nicht stören. Außerdem bin ich heute dran mit der Ladenöffnung.« Knox und ich wechseln uns damit ab, weil wir beide abends oft lange arbeiten.
Ich entferne die Kapsel, mit der ich meinen Kaffee aufgebrüht habe, setze eine neue ein und drücke auf den Knopf, um die Maschine anzuwerfen.
»Eigentlich hätte ich noch trainieren müssen«, brummt er.
Ich blicke von dem unglaublich faszinierenden Vorgang in der Maschine auf, bei dem Kaffee in eine Tasse läuft, und erwische ihn dabei, wie er sich mit den Fingern durchs Haar fährt, es sich aus der Stirn streicht. Gott, ist dieser Mann schön. Alles an ihm ist männlich, sinnlich und roh. Mit diesen Wangenknochen könnte man Glas schneiden, als wären es Diamanten, und sein Mund – puh. Bei der Phantomberührung seiner Lippen an meinen Brüsten und den Innenseiten meiner Oberschenkel steigt schon wieder Verlangen in mir auf.
»Einen Morgen mal das Training ausfallen zu lassen, wird dich nicht sofort in ein Knack-&-Back-Teigmännchen verwandeln«, murmle ich. Der letzte Schuss Kaffee rinnt in die Tasse. Ich öffne den Kühlschrank und hole die Kaffeesahne heraus, gebe einen kleinen Schuss davon in die Tasse, ehe ich sie ihm reiche. Kein Zucker, so trinkt er ihn immer. Im Laden kommt es mir nicht intim vor, ihm Kaffee zu machen, aber hier, in meiner Küche, er mit bloßem Oberkörper und ich in seinem T-Shirt? Eine ganz andere Liga.
»Danke.« Er nimmt den Becher entgegen und lässt den Blick über mich wandern. Eine visuelle Liebkosung, die kurz auf meinen Brüsten verweilt – ich trage keinen BH – und auf meinen Beinen, ehe er mir wieder ins Gesicht sieht. »Und danke, dass du mich hast schlafen lassen«, sagt er leise.
»Wie lange ist es diesmal her, dass du geschlafen hast?«, frage ich, auch wenn er es wahrscheinlich wie üblich mit einem Schulterzucken abtun wird.
»Dies wäre die vierte wache Nacht gewesen«, sagt er, und seine Offenheit schreckt mich ebenso sehr auf wie die Antwort selbst.
»Verdammt, Knox.« Unwillkürlich strecke ich die Hand aus und streiche über die dunklen Schatten unter seinen Augen, die zwar nicht mehr so tief sind wie bei Hakims Party, aber noch immer sichtbar; die paar Stunden Schlaf, die er in meinem Bett gefunden hat, konnten sie nicht auslöschen. »Das ist weder normal noch gesund. Und du warst gestern beim Training, nachdem du drei Nächte in Folge nicht schlafen konntest? Was zum Teufel denkst du dir dabei? Das ist gefährlich. So lange nicht zu schlafen, ist gefährlich. Wann gibst du endlich zu, dass du ein echtes Problem hast, und suchst dir Hilfe?«
Meine Angst um ihn hat meine Zunge gelockert, nachdem ich so lange nichts gesagt habe, um ihn nicht unter Druck zu setzen. Aber scheiß drauf.
»Ich habe mich schon drum gekümmert«, sagt er, seine Stimme ist leise und trotzdem randvoll mit »Lass gut sein«. Er stellt seinen Becher ab.
»Klar doch«, sage ich scharf und lege die Hand an seine Wange, ehe ich den Arm sinken lasse. »Glaubst du etwa, ich kann nicht ganz genau sagen, wann das mit deinen Schlafproblemen losging?«
Er wird ganz steif, sein Gesicht wirkt mit einem Mal, als hätte jemand es aus dem Mount Rushmore geschnitten. Also wenn George Washington ein Spartaner gewesen wäre, mit einem Blick, der einen Mann an Ort und Stelle erstarren und ihn seine Blase entleeren lassen könnte.
Was für ein verdammtes Glück, dass ich kein Mann bin.
»Lass gut sein«, sagt er auf jene ruhige Art, die er manchmal an sich hat und die sehr deutlich macht, dass er nicht darüber zu diskutieren gewillt ist, erwartet, dass man ihm gehorcht.
»Ich mag ja in den ersten sechs Monaten nach Connors Tod in einem fast komatösen Zustand gewesen sein, aber ich bin nicht dumm.« Ich trete ganz dicht an ihn heran. »Du redest nie darüber, aber meinst du nicht, dass ich mir denken kann, was dich wach hält? Wovon du träumst, wenn du endlich doch Schlaf findest?«
Er bleibt stumm, doch das ist auch eine Antwort.
Und mir splittert und bricht das Herz.
Connor hat mir erzählt, dass Knox schon immer der Fels in der Brandung war, sich mit vierzehn nach dem Tod des Vaters um die Familie gekümmert hat. Alle haben sich auf ihn verlassen, sich bei ihm angelehnt, sogar ihre Mutter, die jetzt, zwei Jahre nach Connors Tod, noch immer sehr zerbrechlich ist. Doch wer hat sich damals um ihn gekümmert? Wer kümmert sich jetzt um ihn?
Niemand.
Nicht, weil er seiner Familie gleichgültig wäre. Nein, die Gordons, mit all ihren Schwierigkeiten, lieben einander, sind loyal und würden alles füreinander tun. Aber sie sehen ihren großen Bruder beziehungsweise Sohn seit fünfzehn Jahren durch einen Zerrspiegel. Nehmen nur seine Stärke wahr, nicht seinen Schmerz.
Sehen nicht, was kaputt ist.
Ich hingegen nehme wahr, wofür sie blind sind, vielleicht, weil ich nicht in diese Familie hineingeboren wurde.
Oder vielleicht auch, weil ich so viel Zeit damit verbracht habe, ihn zu beobachten.
»Knox«, flüstere ich, dann riskiere ich die Zurückweisung und lege wieder eine Hand an seine Wange. »Ich habe auch welche. Die Alpträume – sie kommen, wie sie wollen. Es gibt einen, in dem sitze ich nicht auf meinem Platz, sondern stehe ganz dicht am Ring, und ich sehe die Faust auf ihn zukommen, in Zeitlupe. Ich versuche ihn anzuschreien, er solle sich ducken, ausweichen, sich bewegen, irgendwas. Doch ich bekomme keinen Laut heraus, die Worte bleiben mir in der Kehle stecken, ich höre sie nur in meinem Kopf widerhallen. Und ich kann nichts tun, ich muss zusehen, wie der Schlag ihn trifft und er auf der Matte aufschlägt.« Selbst jetzt packt mich die Hilflosigkeit, würgt mich, drückt mir die Brust zusammen. »Und dann gibt es noch den, da sind wir in der Umkleide, und er liegt auf dem Untersuchungstisch. Aber statt still dazuliegen, lächelt er, lacht, redet. Es geht ihm gut.« Ich lasse den Kopf sinken, schließe ganz fest die Augen. »Ich kann gar nicht sagen, was schlimmer ist. Wenn ich seinen Tod noch einmal miterlebe oder wenn ich aufwache und ein paar selige, glückliche Sekunden lang glaube, er sei noch am Leben.«
Eine große Hand legt sich in meinen Nacken und zieht mich an ihn. Meine Stirn trifft auf Knox’ Brust, und ich atme seinen Erde-und-Weihnachten-Duft ein. Er tröstet mich fast ebenso sehr wie die monatelange Trauerbegleitung damals. Trauerbegleitung, zu der Knox mich geschickt hat. Ich schlinge die Arme um ihn. Halte ihn ganz fest, als würde allein meine Umarmung ihn hier halten. Ja, ein verdammt melodramatischer Gedanke, aber ich kriege ihn nicht aus dem Kopf.
»Es tut mir so leid«, sagt er heiser in mein Haar. »So furchtbar leid, Baby. Es war meine Schuld. Ich hätte …«
»Nein.« Mein Kopf ruckt hoch, und was anfänglich nur ein Funke Ärger ist, löst sehr schnell einen regelrechten Brand aus. »Sag das nie wieder. Katherine hat unrecht mit dem, was sie zu dir gesagt hat, damals wie heute. Du bist an seinem Tod nicht schuld. Und du hast seinen Tod nicht gewollt. Sie hat unrecht. Unrecht.« Als Knox und seine Brüder Katherine die schreckliche Nachricht überbracht hatten, bin ich noch im Krankenhaus gewesen, aber Jude hat mir später erzählt, mit welch hässlichen Anschuldigungen und Vorwürfen sie Knox überzogen hat. Und schon damals, als ich noch in meiner schieren Trauer ertrank, war ich ebenso entsetzt darüber gewesen wie heute. »Connor hatte ein Hirnaneurysma. Es hätte jederzeit platzen können, selbst wenn er einfach nur die Straße runtergegangen wäre. Es war Connors Entscheidung, MMA zu betreiben. Seine Entscheidung, diesen Kampf zu bestreiten. Hörst du mich? Seine. Entscheidung. Und nach allem, was wir inzwischen über Hirnaneurysmen wissen und darüber, wie viel Prozent der Leute es überleben, könnte ich nicht mal mit Sicherheit sagen, dass er das Risiko nicht eingegangen wäre, selbst wenn er Bescheid gewusst hätte. Dass er nicht trotzdem angetreten wäre, voller Überzeugung, dass es in Ordnung sei. Dass ihm nichts zustoßen könnte.«
Seine grünen Augen verdunkeln sich, und er presst die Lippen zusammen, als würde er Worte zurückhalten, die sich von innen dagegendrängen. Ich brauche keinen Magic-8-Ball, um zu erraten, wie diese Worte lauten würden. Eine weitere Selbstanklage, noch mehr Selbstvorwürfe für etwas, an dem er keine Schuld trägt.
Ich lasse ihn los, greife nach seinen Handgelenken und ziehe seine Hände zwischen unsere Körper. Nehme sie in meine eigenen Hände und bestaune unwillkürlich, wie unterschiedlich sie sind. Seine sind so riesig, können so hart zuschlagen, aber auch so unglaublich sanft sein. Ich streiche mit den Daumen über die Rückseite seiner Finger – über die Worte, die knapp unterhalb seiner Knöchel eintätowiert sind.
»Ich habe mich schon immer gefragt, weshalb ein irischer Profikämpfer sich die Worte von Maya Angelou tätowieren lässt«, gestehe ich ihm. »Und weshalb ausgerechnet dieses Gedicht.«
»Grace, die Mutter von Jake, meinem Trainer, war mir damals wie eine zweite Mutter. Nach dem Tod meines Vaters hat Jake mir geholfen, ein Ventil für meine Wut zu finden – durch Boxen, Kampfkunst und Wrestling. Aber Grace …« Er schließt die Finger um meine. »… sie hat dafür gesorgt, dass ich nicht den Verstand verloren habe. Oder meine Seele, denke ich manchmal. Ich war so wütend, und sie war mir eine Mutter, als meine eigene Mutter es … nicht konnte. Als Grace vor vier Jahren gestorben ist, habe ich mir das stechen lassen, zum Gedenken an sie. Es war ihr Lieblingsgedicht ihrer Lieblingsdichterin.«
In meinen Augen brennen Tränen, und ich blinzle rasch, um sie zurückzuhalten. Es ist das erste Mal, dass ich höre, wie er etwas auch nur ansatzweise Kritisches über Katherine sagt – einschließlich letzter Nacht, als er mir von ihrer ungeheuerlichen Anschuldigung erzählt hat –, und es tut mir im Herzen weh, wie er selbst dabei zögert, wie widerwillig er es ausspricht. Die Liebe zu den beiden Frauen, die ihn aufgezogen haben, ist nicht zu übersehen.
Außerdem geht mir auf, dass ich mich geirrt habe; es hat sich jemand um ihn gekümmert, sich um ihn gesorgt. Und ihr Name war Grace. Ich habe diese Frau niemals kennengelernt – bis jetzt noch nicht einmal von ihr gehört –, doch ich bin dankbar. Dafür, dass es sie gegeben hat, und für das, was sie getan hat.
»Das Tattoo ist mir zum ersten Mal aufgefallen, als ich angefangen habe, im Laden zu arbeiten, und weißt du, was ich da dachte? Also abgesehen von: ›Tja, der Typ ist nicht nur ein Prachtkerl, bärtig und hat einen großartigen Literaturgeschmack?‹ Ich dachte: ›Kein Wunder, dass er so viele Weiber abgreift.‹« Als er leise schnaubt, zucken meine Mundwinkel, aber meine Belustigung verfliegt, als ich weiterrede. »Ich dachte: ›Er ist ein Adler.‹ Lach nicht, ich hatte gerade eine Doku über Adler gesehen. Sie nutzen den Sturmwind, um an Höhe zu gewinnen und zu fliegen. Das bist du, Knox. Du bist ein Adler im Wind. Was andere Menschen zu Boden zwingt, wo sie nach einem Versteck und nach Schutz suchen, was sie zerstören würde, das nutzt du, um Höhe zu gewinnen.«
Ich hebe den Blick von seinen tätowierten Fingern und sehe ihm in die Augen. Und wäre fast zusammengezuckt angesichts all der Gefühle, die sich darin spiegeln. Die unergründliche Sphinx ist wie fortgeblasen, und stattdessen steht der zerschundene und vernarbte Krieger vor mir, der Entsetzliches mit angesehen, es jedoch überlebt hat und weitermacht. Seine Kiefer mahlen, die Nasenlöcher sind geweitet. Aber ehe ich den Sturm, der in seinen Augen tobt, näher unter die Lupe nehmen kann, drückt er mich an sich, gräbt die Finger in mein Haar, zieht meinen Kopf in den Nacken und presst seinen Mund auf meinen.
Es ist ein hungriger, sinnlicher Kuss, ungestüm … und verzweifelt. Ich schmecke die Verzweiflung im aggressiven Vorstoß seiner Zunge, in der Art, wie er die Fäuste in meinem Haar ballt und sie wieder lockert, der fast fiebrigen Eile, mit der er meinen Kopf zur Seite neigt, um mich heftiger küssen zu können, mehr von mir zu fordern. Und ich gebe ihm mehr. Was auch immer dieser Mann von mir braucht, der niemals etwas von anderen erbittet – der von anderen nie etwas erwartet –, ich werde es ihm geben.
Lieber Himmel, ich hatte so recht damit, mich davor zu hüten, Knox zu nah zu kommen, diesem Mann mit dem steinernen Gesicht, dem Blick, der mir das Herz bricht, und seinem magischen Mund, den Händen, seinem Schwanz. So leicht könnte ich mich in ihm verlieren.
Bei dem Gedanken durchzuckt mich Unbehagen, scharf wie eine Scherbe, aber es reicht nicht aus, um den dichten Nebel der Lust zu durchstoßen, der uns einhüllt.
Ganz weit entfernt höre ich mein Handy klingeln, das auf dem Küchentisch liegt. Ich achte nicht darauf, stelle mich auf die Zehenspitzen, öffne den Mund weiter, halte gegen in dieser sinnlichen Schlacht, die wir als Kuss bezeichnen.
Doch nachdem es erst verstummt, klingelt es gleich darauf noch einmal. Mit einem Ächzen setze ich die Fersen wieder auf den Boden und lasse den Kopf in den Nacken fallen. Es ist Montagmorgen; es könnte Jude sein oder einer der anderen Tätowierer, auch wenn es noch sehr früh ist.
Es könnte auch Katherine oder Dan sein.
Sobald mir dieser Gedanke erst einmal durch den Kopf geschossen ist, werde ich ihn nicht wieder los. Und auch nicht die anderen Gedanken, die ihm auf dem Fuß folgen. Letzte Nacht. Knox heute Morgen in meiner Küche, halb nackt. Die Folgen, wenn irgendwer es herausfände. Ist das mit dem Sex zwischen uns wirklich nur eine einmalige Sache – okay, eine zweimalige Sache – oder … was zum Teufel tun wir hier eigentlich gerade?
Seufzend reibe ich mir mit beiden Händen das Gesicht und gehe an ihm vorbei. Greife nach dem Telefon, als es gerade aufhört zu klingeln. Ein verpasster Anruf von Simon. Ich wische mit dem Daumen übers Display, und die Aufzeichnung seiner Stimme erfüllt den Raum.
»Hey Eden. Ich hab versucht, Knox zu erreichen, aber so wie ich ihn kenne, hat er wohl das Handy irgendwo liegen lassen. Ach, Blödsinn.« Sein leises Lachen dringt aus dem Telefon. »Wahrscheinlich geht er einfach nur nicht dran. Na, jedenfalls … wenn du ihn heute sehen solltest, sagst du ihm bitte Bescheid, dass die beiden Bilder fertig sind, die er haben wollte? Ich bring sie heute Nachmittag im Laden vorbei. Danke, Schwesterlein. Hab dich lieb.«
Die Voicemail endet mit einem Klicken, und sein »Schwesterlein« und das »Hab dich lieb« zischen zwischen den Innenwänden meines Schädels hin und her, werden mit jedem Abprallen lauter.
Würde er mich immer noch Schwesterlein nennen und mir mit dieser zwanglosen Zuneigung begegnen, wenn er den Verdacht hegte, dass vor nicht mal vier Stunden ich – die Witwe seines Bruders – unter seinem anderen Bruder lag und ihn angefleht habe, mich härter, schneller zu ficken? Wären er oder Jude oder Katherine noch imstande, mich anzusehen, mich als Teil ihrer Familie zu betrachten … mich zu lieben?
Die Möglichkeit, sie zu verlieren, die einzigen Menschen in dieser Welt, die mich jemals geliebt und akzeptiert haben, trifft mich mitten ins Herz wie ein scharf geschliffener Dolch. Noch einmal verstoßen zu werden – das ist der einzige Alptraum, der es an Schrecken mit Connors Verlust aufnehmen kann.
Nur für jemanden, der immer in der Geborgenheit einer Familie gelebt hat, ist Familie möglicherweise nicht alles. Weil er es nicht anders kennt und dieses kostbare Geschenk als Selbstverständlichkeit betrachtet.
Aber … wenn ich mit Knox zusammen bin, ist es wie jene atemlose Vorfreude an Heiligabend, gemischt mit der berauschenden, den Magen umdrehenden Kombination aus Lust und Nervosität, wenn man am Ende des Flurs einen raschen Blick auf seinen Highschool-Schwarm erhascht. Ich bin voller Energie, hellwach, lebendig in seiner Gegenwart. Und nach zwei Jahren als Zombie in jenem grauenhaften Zwischenreich, in dem man noch atmet, aber innerlich tot ist, ist es wie eine Sucht; ist er wie eine Sucht.
»Ich würde niemals von dir verlangen, dass du dich entscheidest, Eden«, sagt Knox, der mich über die Entfernung zwischen uns hinweg beobachtet hat.
Kann dieser Mann etwa Gedanken lesen?
Ganz behutsam lege ich mein Handy wieder auf den Esstisch und erwidere dann seinen ruhigen Blick. Seine gewohnte undurchdringliche Miene ist zurück. Und ein Teil von mir trauert um diesen Moment, in dem ich den gequälten Mann unter dieser Maske sehen durfte. Selbst wenn es nur ganz kurz war – er hat mich an sich herangelassen.
»Ich will mich nicht entscheiden müssen.« Lieber Gott, ich kann nicht fassen, dass ich das wirklich sage. »Ich will beides. Wenigstens so lange, wie ich es haben kann. So lange, wie wir es können.«
Ein Gefühl zuckt über sein Gesicht, bevor seine auf so raue Weise schönen Züge wieder undurchdringlich werden. Er schüttelt den Kopf, und ich kann das Nein förmlich sehen, noch ehe er es ausspricht. »Eden …«
»Ich weiß, dass das hier zu nichts führen kann, und ich bitte dich nicht darum, dass du mit mir zusammen bist oder so. Nur … wenn wir vorsichtig sind, wenn wir uns einig sind, dass wir es für uns behalten, warum können wir einander dann nicht haben? Zum ersten Mal, seit …« Ich verstumme, denn Connors Name will mir in dieser Heißer-Sex-ohne-Verpflichtung-Diskussion mit seinem Bruder nicht über die Lippen kommen. »Bei dir muss ich niemand anderes sein als ich selbst. Ja, ich will dich vögeln, bis ich mich nicht mehr rühren kann«, sage ich, und das Auflodern in seinen Augen spiegelt mein eigenes Verlangen, das die ganze Zeit in mir lauert. »Aber es ist mehr als nur das. Bei dir bin ich keine Witwe, keine Tochter und keine Rettungsleine. Ich bin nicht … allein.«
Die Erkenntnis trifft mich hart. Es stimmt. Ich war allein. Die letzten zwei Jahre habe ich hinter einer unsichtbaren Wand aus Trauer verbracht, die mich von der Welt getrennt hat.
Mit Ausnahme von Knox.
Irgendwie ist er an dieser Wand vorbeigeschlüpft, hat mein verwundetes Herz berührt, mir Arbeit gegeben, mich zurückgeführt zu der Frau, die zu werden ich im Begriff gestanden hatte. Und dann hat er mir die sinnliche, enthemmte Frau in mir gezeigt, von deren Existenz ich nichts ahnte.
Ja, ich habe ihn gerade gebeten, mit mir einen geheimen und vorübergehenden Freunde-mit-gewissen-Extras-Pakt einzugehen, was vermutlich den Gipfel der Selbstsucht darstellt. Aber ich nehme es nicht zurück. Und ich will, dass er einwilligt. Ich sehne mich mehr danach als nach meinem nächsten Atemzug. Sehne mich nach ihm.
»Du bist die Frau meines Bruders«, sagt er nüchtern. Als würde das die Diskussion beenden.
»Witwe«, korrigiere ich. »Und letzte Nacht scheint dich das nicht gestört zu haben … oder heute Morgen.« Als er mich an seinem Körper heruntergeleitet und mir seinen Schwanz in den Mund geschoben hat.
Er geht nicht darauf ein, doch wieder flammt es in seinen smaragdgrünen Augen auf. »Du glaubst vielleicht, dass du auf das vorbereitet bist, was passiert, wenn jemand es rausfindet, aber das bist du nicht. Ich hatte schon einen Vorgeschmack davon. Ich denke nicht, dass du das verkraften würdest. Es ist wirklich übel, Baby. Und du hast schon so viel verloren, ich will nicht der Grund dafür sein, dass du noch mehr verlierst.«
Übersetzung: Er glaubt nicht, er sei es wert, dass ich seinetwegen noch mehr verliere.
Knox ist der Wettkämpfer von uns beiden, doch in diesem Moment wäre ich am liebsten in den Ring gestiegen und zehn Runden gegen jeden angetreten, der jemals etwas gesagt oder getan hat, was diesen blasphemischen Glauben in seine eigene Wertlosigkeit ausgelöst oder bestärkt hat.
Aber machst du es nicht selbst?, zischt eine leise Stimme in meinem Verstand.
Nein, widerspreche ich nachdrücklich. Er ist für mich nicht zweite Wahl. Wären wir andere Menschen und die Umstände anders, würde ich jeder Frau etwas husten, die es wagt, auch nur in seine Richtung zu blinzeln, und voller Stolz jedem verkünden, dass er zu mir gehört.
Doch wir sind, wer wir sind, und daran lässt sich nichts ändern.
Er verdient eine Frau, die ganz zu ihm gehört. Sie zu ihm und er zu ihr. Und diese Frau bin ich nicht. Ich will die Beziehung zu seiner Mutter nicht zerstören, und ich will nicht riskieren, dass die restliche Familie ihre Liebe und ihren Respekt vor uns verliert.
Aber für eine kleine Weile möchte ich diese Frau sein, selbst wenn es ein Geheimnis bleiben muss, das etwas Verräterisches an sich hat.
»Wenn wir vorsichtig sind, wird niemand es herausfinden«, entgegne ich. »Und nur zu deiner Information: Wenn jemand es doch herausfände, wäre das nicht deine Verantwortung, sondern meine eigene. Ich bin eine erwachsene Frau und durchaus in der Lage, die Konsequenzen meiner Entscheidungen einzuschätzen. Und ich empfinde es als beleidigend, wenn du mich davor beschützen willst, meine eigenen Entscheidungen zu treffen.«
Er verschränkt die Arme vor der Brust und hebt eine dunkle Braue. »Ich wäre also dein schmutziges kleines Geheimnis?« Seine Stimme klingt rau wie eine Wagenladung schwarzer Schotter, doch ich spüre, dass er nicht wütend oder beleidigt ist.
»Und ich wäre deins«, antworte ich.
Er kneift die Augen zusammen. »Nichts an dir könnte jemals schmutzig sein, Eden.«
Verdammt. Dieser Mann.
»Ist das ein Ja?«, hake ich nach.
Eine ganze Weile herrscht tiefes Schweigen, das fast vibriert vor lauter Anspannung.
»Ja.«
Die Wucht, mit der Erleichterung und Freude mich durchströmen, sollte mir eine Warnung sein, wie viel tiefer ich in dieser Sache drinstecke, als ich zugeben will. Aber hier und jetzt ist die Blindheit meine beste Freundin, und wir rocken die Party gemeinsam.
Und ganz ehrlich – die schiere Lust gewinnt sowieso. Meine Handflächen kribbeln und jucken vor lauter Verlangen, auf ihn zuzugehen und über diese prachtvolle Brust zu streichen, die mich lockt wie eine Waffel voll Erdbeer-Käsekuchen-Eiscreme.
Eins müssen wir allerdings vorher noch klären.
»Eine Sache noch«, sage ich in meinem allerbesten Keine-Widerrede-Tonfall. »Ich glaube, du solltest dir heute einen Tag freinehmen. Oder wenigstens erst spätnachmittags im Laden aufkreuzen.«
»Warum das denn?«, will er stirnrunzelnd wissen.
»Damit du noch eine Runde schlafen kannst. In meinem Bett hat es ja geklappt. Also scheint ein Umgebungswechsel zu helfen.«
»Es war nicht die Umgebung, Eden«, brummt er. »Es war die Frau. Bring das nicht durcheinander.«
Dieses nüchterne, unverblümte Eingeständnis ist aus irgendeinem Grund heißer als die schmutzigsten Worte, die er je zu mir gesagt hat. Nur mithilfe einer Willenskraft, die mir in diesem Augenblick der Himmel geschenkt haben muss, bleibe ich bei der Sache.
»Und ich will, dass du mir versprichst, dir professionelle Hilfe wegen deiner Schlaflosigkeit und der Alpträume zu suchen.«
Das Stirnrunzeln löst sich auf, und die Sphinx kehrt zurück. »Es ist nicht nötig, dass …«
»O doch, das ist es, verdammt nochmal«, sage ich streng, und die Frustration wegen seiner Sturheit und die Angst um ihn lassen meine Stimme scharf klingen. »Was, wenn du eines Tages am Steuer zusammenbrichst? Oder es deine Gesundheit beeinträchtigt? Es gab eine Zeit, da hab ich mich geweigert, eine Therapie zu machen, und du hast mich dazu überredet. Genauer gesagt hast du mich dort hingefahren und bis zur Anmeldung begleitet.« Ich balle die Hände zur Faust und drücke mir die Fingernägel ins Fleisch. »Bitte, Knox. Eine Sitzung. Um mehr bitte ich dich gar nicht.«
Ich bin mir nicht zu schade für emotionale Erpressung, und ich bin drauf und dran, die richtig großen Waffen rauszuholen – zum Beispiel die »Connor hätte nicht gewollt, dass du so leidest«-Wumme –, da nickt er endlich. Besonders glücklich sieht er zwar nicht aus, doch das ist in Ordnung. Denn solange ich ihn kenne, hat Knox sein Wort immer gehalten. Wenn er sagt, er tut es, dann tut er es auch.
Erleichtert atme ich auf und mache den Mund wieder zu. Wie meine Mom zu sagen pflegte: Verpass nie eine Gelegenheit, den Mund zu halten. Aber ich gebe dem Drang nach, ihn zu berühren, gehe durch die Küche auf ihn zu, bleibe vor ihm stehen, so nah, dass meine Brüste die massive Mauer berühren, die seine Brust ist, meine Oberschenkel an seinen. Ich lege die Hände auf seine schmalen Hüften, streiche daran hoch über seinen Rücken und lege den Kopf in den Nacken.
Sein prüfender Blick brennt heiß und durchdringend auf meinem Gesicht und wäre bei jedem anderen zermürbend. Es ist, als wäre mein Körper eine seidenpapierdünne Schicht, die sein Blick einfach zerreißt, um zum Herzen vorzudringen, zur Seele, zu Bereichen, deren Existenz man nicht gern zugibt.
»Bist du sicher, dass du das willst?«, fragt er und fährt mir mit seinen großen, aber eleganten Fingern durchs Haar.
»Ja. Ich bin sicher, dass du es bist, den ich will«, erwidere ich.
Er sagt nichts, doch die Erregung, die seine Augen dunkel werden lässt, reicht mir als Antwort.
Ebenso wie die Tatsache, dass er mich hochhebt. Seine Kraft verschlägt mir den Atem.
Und sein Mund, der mich zärtlich, zugleich voll Hunger, in Besitz nimmt, während er mich auf dem Küchentresen absetzt.
Und meine Hand, die in seine Jeans greift und ihn befreit.
Und wie er mich langsam auf seinen Schwanz absenkt, mich ausfüllt, mich dehnt.
Ja. Worte brauche ich nicht.