Rom, Mitte Oktober
Selbst als ihr wilder Herzschlag sich langsam beruhigt hatte, starrte Pia noch immer auf den Inhalt des Schächtelchens. Sie hielt sich eine Hand auf den Mund, um nicht vor Begeisterung und Überraschung zu kreischen, und konnte dabei nicht leugnen, dass sie sich freute wie ein kleines Mädchen zu Weihnachten.
Die Schmetterlingsbrosche!
Pia hatte sie bei dem Goldschmied, zu dem er unbedingt hatte gehen wollen, sofort bemerkt. Nicht zuletzt wegen der filigran verarbeiteten Flügel. Dennoch hatte sie sich angestrengt, nicht zu direkt hinzusehen. Inzwischen kannte sie ihn gut genug, um zu wissen, dass er sie immer genau beobachtete und die kleinen Aufmerksamkeiten zum Frühstück gezielt nach ihrem Geschmack aussuchte. Bei der Brosche jedoch hatte sie sich zurückgehalten. Das Schmuckstück war zu wertvoll, um als einfache Geste abgetan zu werden. Und er hatte sie trotzdem gekauft. Was irgendwie alles zu ändern drohte. Auf verwirrende Weise.
Pia schob ihre verworrenen Gedanken zur Seite und nahm das Kuvert zur Hand, um sich abzulenken.
Pia,
der Schmetterling ist wie du.
Deshalb sollte ihn keine Andere haben.
Lass nicht zu, dass deine wunderschönen Flügel unbenutzt bleiben!
Mittagessen im »Roma nuda«.
Treffpunkt 12:30 an der Rezeption.
Marcello
Tja, dachte Pia. Ablenkung brachten Marcellos Worte nicht. Sie schaute so lange darauf, bis die Buchstaben anfingen, vor ihren Augen zu tanzen. Erst als sie das schwere Papier endlich beiseitelegte, merkte sie, dass ein leichter, warmer Wind aufgekommen war. Sie stellte ihre leergetrunkene Tasse auf das Papier und nahm stattdessen die Schmuckschachtel zur Hand. Vorsichtig holte sie den Schmetterling heraus. Obwohl er zart verarbeitet war, schien er jetzt Tonnen zu wiegen. Denn hartnäckig hielt sich der Gedanke, dass mit diesem Geschenk alles anders werden würde. Nur wie genau, das konnte Pia noch nicht sagen.
Der Aufzug, an dem sie sowieso nur vorbeilief, schloss sich lautlos. Pia fand, dass so ein modernes Hilfsmittel gar nicht in das wundervolle antike Hotelgebäude passte. Marcello neckte sie deshalb und behauptete, dass Platzangst dahintersteckte, trotz ihrer gegenteiligen Beteuerungen.
»Du gehst aus Protest sechs Stockwerke hoch und runter? Aus Respekt vor dem alten Gemäuer?«, hatte er schmunzelnd gefragt, als er sie zum ersten Mal beim Treppensteigen erwischt hatte.
»So kann man das auch sagen!«
»Glaube ich dir nicht.«
»Wieso nicht?«
»Pia, sechs Stockwerke geht kein Mensch freiwillig zu Fuß. Erst recht nicht aus Idealismus.«
»Ich schon!«
Daraufhin hatte er lachend die Hände erhoben und sich zunächst geschlagen gegeben.
Das war auch eine Sache, die sie so gerne an Marcello mochte. Sie brachte ihn zum Lachen. Sehr häufig sogar. Und es fühlte sich verdammt gut an. Vor allem, weil zu Hause selten jemand mit ihr lachte. Vielleicht ihr Goldfisch Alberto. Aber der zählte nicht richtig.
Als Pia den Eingangsbereich des Hotels erreichte, wurde sie erneut von andächtigem Staunen ergriffen. Sie hatte wirklich Schwierigkeiten, sich an die ganze Pracht zu gewöhnen. Am meisten beeindruckten sie noch immer die großen, stets mit frischen Schnittblumen gefüllten Vasen. Das Hotel lag gleich am Marktplatz Campo de’ Fiori, wo unter anderem herrliche Blumen in allen Formen und Farben angeboten wurden. Vielleicht wurde die farbige Pracht direkt dort jeden Morgen frisch gekauft, überlegte Pia. In der Empfangshalle hatten die bunten Sträuße die Wirkung eines stillen Farbfeuerwerks. Ein richtiger Blickfang, an dem Pia auch diesmal wieder hängen blieb. Der betörende Duft erreichte sie trotz der Entfernung.
Marcello war nirgends zu sehen. Ihre Armbanduhr verriet ihr, dass sie pünktlich war. Sicher war er beschäftigt. Und ihr war ohnehin nach Luftschnappen. Deshalb verließ sie das Foyer, stemmte sich gegen die schwere Glastür und ging ins Freie. Die Stimmen vom Marktplatz drangen bis an ihr Ohr. Es war ein schöner Tag, sommerlich warm, obwohl es bereits Oktober war. Pia beobachtete ihre Fußspitzen und spürte, dass Marcello kam, noch bevor er ihren Namen aussprach. Hatte er sie vielleicht beobachtet?
»Pia!«
Sie drehte sich ihm zu.
»Buongiorno.«
»Buongiorno. Na, hast du Hunger mitgebracht?«
»Leider ja. Ich sollte wirklich nicht so viel essen.«
»Unsinn.«
»Du trägst heute Jeans?«, rutschte es ihr heraus.
Sie kannte Marcello nur im Anzug. Ihn leger gekleidet zu sehen brachte sie irgendwie aus dem Konzept.
»Ja. Ich hatte viel zu lang keine mehr an.« Marcello blickte an sich herunter.
»Dann bin ich wohl jetzt ganz deutlich zu fein gekleidet.« Pia zeigte auf ihre neue Bluse. Tiziana mit ihrem ganz speziellen Mode-Geschmack hätte sie für diesen Kauf sicher gelobt.
»Ach was! Du siehst fantastisch aus.«
»Danke.«
»Nichts zu danken. Ist nur die Wahrheit. Wollen wir los?«
»Gerne.«
Marcello hielt ihr den Arm hin, und Pia hakte sich ein. Es fühlte sich gut und vertraut an.
»Durch den Markt oder außen rum?«
»Du stellst Fragen! Mittendurch!«
Pia liebte den Campo de’ Fiori mit seinen bunten Marktständen unter den großen weißen Sonnenschirmen. Dass sie sich dabei an Touristen vorbeischieben mussten, machte ihr gar nichts aus. Sie war ja auch eine Touristin, selbst wenn sie das immer häufiger vergaß.
»Sag mal, hat dich schon mal ein Gast auf eine Taube angesprochen?«
Pia musste das jetzt einfach wissen. Selbst auf die Gefahr hin, dass Marcello sie für verrückt hielt. Außerdem konnte und wollte sie nicht gleich über den Schmetterling sprechen.
Marcello lachte, blieb kurz stehen.
»Und ob. Sie ist der Grund, warum die Gäste meist schon nach einem Tag in ein anderes Zimmer ziehen wollen.«
»Tatsächlich? Es gibt Leute, die das Gurren am Morgen stört?«
»Lies dir mal bei Gelegenheit unsere Rezensionen durch …«
»Dein Hotel kann unmöglich schlechte Rezensionen haben. Und schon gar nicht wegen einer Taube!«
»Ich glaube, dir ist nicht klar, wie anspruchsvoll Menschen sein können.«
Doch. Eigentlich schon. Aber dieser Gedanke würde zu weit führen. Deshalb konzentrierte Pia sich lieber auf ein unverfängliches Thema.
»Wieso versteckt sich die Taube immer?«
»Weil ich sie sonst eigenhändig umbringen würde.«
Marcello amüsierte sein eigener Kommentar sehr. Pia hingegen weniger. Sie mochte die Taube. Unbekannterweise.
»Das kannst du nicht machen! Versprich mir, dass du sie nicht anrührst.«
»Bleibt mir ja nichts anderes übrig. Sie ist viel schlauer als ich.«
Damit gab sich Pia erst einmal zufrieden.
»Wo gehen wir eigentlich hin?«
»Über die Via dei Cappellari in die Via Giulia.«
»Ist das die mit dem Torbogen?«
»Genau. Du lernst schnell, Pia!«
»Können wir dann auch kurz noch einmal an dem Brunnen mit der Maske halten?«
»Wo immer du willst!«
»Wieso hört man denn hier den Tiber nicht?«, überlegte Pia laut. Marcello hatte ihr erzählt, dass der Fluss ganz in der Nähe floss. Jenseits der dicken Steinmauer, die dem Mascherone-Brunnen als Hintergrund diente. Und Pia konnte einfach nicht genug bekommen von diesen ganz speziellen Details, die ihr Rom so viel vertrauter erscheinen ließen.
Marcello hob die Achseln, fuhr sich in seiner gewohnt lässigen Geste durch das dichte silbern schimmernde Haar.
»Hier an dieser Stelle fließt er einfach ganz ruhig. Es hat auch lange nicht geregnet, also ist der Wasserstand eher niedrig. Zu dieser Tageszeit kommen dann noch die ganz normalen Alltagsgeräusche dazu, die das leise Tiber-Rauschen wohl übertönen.«
Klang logisch.
Pia konzentrierte sich wieder auf das Gesicht, das auch als Maske durchgehen konnte und aus dessen Mund das Wasser floss. Es fiel plätschernd in einen kleinen Brunnen.
»Du magst diesen Brunnen wirklich, hm?«
»Du nicht?«, fragte sie verwundert.
»Oh, in Geschmacksfragen bin ich sehr offen: Alles, was dir gefällt, gefällt mir auch.«
Pia war sich ziemlich sicher, dass das nicht stimmte, wurde aber trotzdem kurz verlegen und versuchte, ihre Anspannung mit einem Witz zu überspielen: »Wobei … also etwas von einer Badewanne hat der Brunnen ja schon.«
»Eine Badewanne? Deine Fantasie kennt keine Grenzen …«, entgegnete Marcello. Er lächelte charmant. Und sah dabei richtig, richtig gut aus. Pia schaute lieber weg.
»Badewanne oder nicht. Ich finde Brunnen romantisch. Und dieses Gesicht finde ich geheimnisvoll.«
Pia zeigte wieder auf die Maske.
Marcello täuschte Interesse vor, ging ein paar Schritte näher ran, drehte sich dann zu Pia hin. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzogen. Er versuchte wohl die Maske zu imitieren. Pia rollte in gespielter Verzweiflung mit den Augen.
»Männer …«, bemerkte sie einfach nur trocken und zog Marcello vom Brunnen weg.
Eine Weile lang gingen sie schweigend nebeneinanderher. Pia schaute auf den mit Pflasterstein ausgelegten Weg, bis sie die Via Giulia erreichten. Hier änderte sich die Atmosphäre: Die Gasse wurde etwas breiter, die Menschen etwas leiser. Snobs hatte Marcello sie vor ein paar Tagen genannt, bei ihrem ersten Besuch hier. Pia hatte keines der Restaurants der Gasse besonders gut in Erinnerung behalten. Vielleicht hatte sie auch nicht gut genug hingesehen.
Als Marcello letztendlich hielt, wunderte sie sich, dass sie die Eingangstür nicht schon beim letzten Mal bemerkt hatte.
Sie betraten das Restaurant. Pia blieb im Eingangsbereich stehen, wo eine Glasvitrine ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Fisch. So frisch, dass er sich noch zu bewegen schien. Pia ertappte sich dabei, bei diesem Anblick eine Art Nostalgie zu empfinden. Sehnsucht nach ihrem papà und ihrem nonno, die vom Fischfang gelebt hatten. Sehnsucht nach ihrer Kindheit. Sehnsucht nach der jungen Pia. Aber das Gefühl hielt nicht lange an.
»Buongiorno, Signori.«
Ein junger Kellner kam ihnen schwungvoll entgegen. Sein römischer Akzent machte ihn gleich noch sympathischer. Er hatte die Handflächen aneinandergelegt, rieb sie und wartete ab. Wippte dabei leicht vor und zurück. Schlicht gekleidet. Das Raffinierteste an ihm war seine Frisur. Elvis ließ ganz deutlich grüßen.
»Buongiorno. Ein Tisch für zwei«, bat Marcello.
»Möchten Sie drinnen oder draußen sitzen?«
Pia hatte keine Terrasse gesehen. War aber spontan von der Idee begeistert.
»Terrasse?«, fragte auch Marcello Pia.
»Sehr gerne!«
»Va benissimo. Wollen Sie sich vielleicht hier schon Ihr Essen aussuchen?«, fragte der Kellner nun und zeigte mit seinen Händen fast stolz auf den Fisch. Seine Haare bewegten sich nicht mit. Keinen Millimeter.
»Hauptsache frisch«, gab Marcello sich zufrieden.
Und der Kellner nickte, als hätte er nichts anderes erwartet.
»Und die Signora?«
Pia war da schon etwas wählerischer. Austern, Hummer, Herzmuscheln. Die interessierten sie weniger. Sie war ein echter Tintenfisch-Fan. Entdeckte auch ein paar sehr schöne Exemplare.
»Für mich die hier, bitte!«
Sie zeigte direkt drauf.
»Tintenfisch. Sehr gerne. Frittiert?«
»Nein. Bitte nicht.«
Frittierte Tintenfischringe. Das konnte ja jeder.
»Va bene. Ich werde Ughetto, unseren Chefkoch, um eine ganz besondere Kreation für Sie bitten, ja?«
»Das wäre wirklich toll!«
»So, dann folgen Sie mir doch bitte!«
Der junge Mann ging ihnen voraus, direkt durch einen gut besuchten Speisesaal. Je weiter sie sich in die Tiefen des Restaurants hineinbegaben, desto dunkler wurde es. Wahrscheinlich lag das an den alten Steinmauern. Sicher auch an der dezenten Beleuchtung. Pia entdeckte diverse Bilder des Sängers Franco Califano. Wenn ihre Erinnerung sie nicht täuschte, so hatte er den Song Roma nuda geschrieben. Und so hieß dieses Restaurant ja. Ob es wohl einst dem Sänger gehört hatte?
Die Terrasse überraschte Pia. Sie war wunderschön und befand sich in einem Innenhof. Rund herum Hauswände. Jede in einer anderen Farbe. Über ihnen ein Stück römischer Himmel. Pia nickte. Wieder einmal verstand sie, warum diese Stadt auch Roma Romantica genannt wurde. Was sie Marcello lieber nicht sagte.
Er rückte ihr den Stuhl zurecht und ging erst dann um den Tisch herum, um sich ebenfalls zu setzen. »Magst du es hier?«
»Sehr. Du hast ein richtiges Talent, immer wieder ganz tolle Plätzchen auszusuchen.«
Ob er wohl oft mit Frauen hier war?
Blöder Gedanke. Pia wischte ihn sofort weg. Das tat nun wirklich nichts zur Sache.
»Danke. Freut mich, wenn es dir gefällt!«
»Sag mal, warum gibt es eigentlich so viele Lieder über Rom?«, fragte sie hastig. Sie musste weg von dem Thema Frauen. Und Franco Califano mit seinem Roma nuda, das war ja wohl ein Thema, das hierher passte.
»Weil Rom die schönste Stadt der Welt ist. Zusätzlich zu seinen unzähligen Sehenswürdigkeiten bietet Rom noch viel mehr. Da ist der römische Himmel. Die Sonnenuntergänge. Der Tiber. Roms Vergangenheit, Roms Zukunft. Alles zusammen, verstehst du? Es gibt keine andere Stadt, die sich die Ewige Stadt nennen kann«, erzählte er lebhaft gestikulierend und mit diesem ganz speziellen Leuchten in den Augen, das er nur für sein Rom reserviert zu haben schien.
Pia nickte wieder. Sie brauchte nur kurz an ihre Dachterrasse zu denken, um genau zu begreifen, was Marcello meinte.
Wie es sich wohl anfühlen mochte, in dieser Stadt zu leben? So richtig? Für immer?