Kapitel 5

Camerota, Mitte September

Verdammt!

Pia schlug sich an die Stirn.

Verdammt, verdammt, verdammt!

Wie hatte sie nur schon wieder vergessen können, den Wein kalt zu stellen?

Immer wieder nahm sie sich vor, diese blöde Aufgabe gleich als Erstes hinter sich zu bringen, wenn sie Gäste hatte. Und immer wieder vergaß sie es.

»Wieso erinnerst du mich nicht mal dran, Albi!«

Vorwurfsvoll schaute Pia zum Goldfisch hin.

»Ja, du musst schon was tun. Immerhin bekommst du hier Unterkunft und Verpflegung, mein Lieber! Das Mindeste, was ich von dir erwarten kann, ist, dass du mich an den Wein erinnerst!«

Alberto war der Wein aber vollkommen egal.

Also holte Pia ein paar 2-Liter-Flaschen Wein aus der Garage und trug sie in die Küche, stellte sie dort erst einmal ab. Dann grub sie eine Weile in ihrer rappelvollen Gefriertruhe, weil es für den Kühlschrank zu spät war, und quetschte den Weißwein irgendwie hinein.

Das musste reichen. Sie selbst mochte diesen Wein noch nicht einmal. Obwohl er aus ihrem eigenen Anbau stammte. Viel zu stark fand sie ihn.

Aber beim nächsten Mal, versprach sie sich selbst, würde sie eher dran denken.

»Signora Pia?«

Gleich darauf folgten polternde Geräusch aus dem Flur. Ein deutliches Zeichen dafür, dass ihr Mann Pasquale wieder da war.

Wie jeden Sonntag war er schon ganz früh weggefahren, um nach seinem Gemüse und den Hühnern zu sehen. Nicht weil er musste, sondern weil es ihm wirklich Freude bereitete. Aus unerfindlichen Gründen. Was bitte war so toll daran, dachte Pia, eigene Tomaten und Gurken zu haben? Pasquale aber, der lebte dafür. Kam meist nicht einmal zum Mittagessen nach Hause.

Früher, ja, da war sie sonntags immer mitgefahren. Mit den Kindern. Und sie hatten doch meistens eine Menge Spaß gehabt. Aber früher war früher.

»Hier, Pasquale!«

Nachdem Pia unheimlich Gas gegeben hatte, war sie tatsächlich fast fertig mit allen Vorbereitungen zur kleinen Abschiedsfeier für Miriana. Jetzt gerade stellte sie noch die Gläser auf den Esszimmertisch. Sah hübsch aus. Fehlten nur noch ein paar Blumen.

Pasquale kam herein, blickte sich um, schlug sich an die Stirn.

Das entging Pia natürlich nicht.

»Du hast sie vergessen, oder?«

Mehr eine Feststellung als eine Frage.

Pia atmete tief durch.

Egal.

War ja eh klar gewesen.

Da hatte sie ihrem Mann eine einzige Aufgabe aufgetragen, und er vergaß sie. Dumm von ihr, überhaupt noch auf irgendjemanden zu zählen. Aber das sollte das letzte Mal gewesen sein! Sie war nicht mal wütend. Eher traurig. Und das war schlimmer.

»Tut mir leid, Signora Pia. Ich fahr gleich noch einmal los.«

»Dazu ist es zu spät.«

Ohne ihrem Mann ins Gesicht zu schauen, nahm Pia die Vasen wieder vom Tisch.

Gut, dann halt keine Blumen.

»Ist doch nicht so schlimm«, fand Pasquale.

Ja. War es genau genommen auch nicht. Das Abendessen würde trotzdem laufen. Auch ohne Blumen. Aber, Madonna mia, das war das Abschiedsessen für Miriana! Ihre Tochter zog am nächsten Tag aus. In die Großstadt. Um auf die Uni zu gehen. Miriana hatte Blumen verdient. Miriana hatte eine liebevoll durchdachte Feier verdient. Und Pia hätte einen aufmerksameren Mann verdient. Nein, das war böse. So wollte sie nicht sein.

»Stimmt. Ist nicht weiter schlimm«, murmelte sie deshalb einfach nur. Damit konnte sie aber weder sich selbst noch Pasquale überzeugen.

»Tadaaaaaaa!«

Pia und Pasquale drehten sich gleichzeitig um.

Tiziana stand in der Tür.

Verdeckte Miriana dabei erst einmal komplett.

»Hier ist unser Star!«, kündigte Tiziana das Mädchen erneut an und trat zur Seite.

Pia starrte erst. Und schloss dann die Augen.

»Was genau, liebe Tiziana, hast du nicht verstanden, als ich dich darum bat, sie nicht zu wild herzurichten?«

Ein lauter Teil der famiglia Moscato traf wenig später ein. Giovanna, Pia und Pasquales ältere Tochter, war mit ihrem Mann Matteo gekommen und hatte die Großeltern mitgebracht.

»Unmöglich. Sie sieht aus wie eine puttana!«, flüsterte nonna Sandrina gar nicht mal so leise, während sie Miriana samt neuer Frisur argwöhnisch beäugte. Nonno Mario setzte sich inzwischen wortlos an seinen gewohnten Platz am Esszimmertisch. Er sah bereits müde aus. Giovanna half ihm auf den Stuhl. Ignorierte gekonnt, wie der alte Mann dauernd versuchte, sie wegzuscheuchen. Nonno Mario war kein Mensch, der sich gerne helfen ließ.

»Hast du’s bequem?«, erkundigte Giovanna sich dennoch fürsorglich.

»Bequem hatte ich’s daheim«, maulte nonno Mario undeutlich und erklärte mit einer eindeutigen Handbewegung, dass er bereits genug gesagt hatte.

Pia hingegen war noch immer schockiert von den Worten ihrer Schwiegermutter.

»Sie sieht genauso aus wie alle anderen jungen Mädchen aus der Stadt: modern, vital und frisch«, befand Matteo, Giovannas gutmütiger Mann. Ganz offensichtlich versuchte er, die Wogen zu glätten.

»Mir ist egal, wie ihr alle findet, dass sie aussieht! Ihr werdet zu ihr sagen, dass sie wunderschön ist, klar?«, schimpfte Pia und warf insbesondere nonna Sandrina einen eindringlichen Blick zu. Die Alte schien nicht klein beigeben zu wollen, blickte aber als Erste weg.

»Miriana, komm zu nonna, Schätzchen!«, rief Sandrina daraufhin zuckersüß ihrer Enkelin zu, die glücklicherweise nichts vom Gespräch mitbekommen hatte und sich angeregt mit Tiziana unterhielt. Styling-Tipps, wie Pia vermutete.

Sandrina setzte sich, deutete auf ihren Schoß. Und Miriana entschuldigte sich bei Tiziana, ging zu ihrer nonna hinüber und nahm auf den dürren Beinchen der Alten Platz.

»Versprich mir, dass du in der Stadt gut auf dich aufpassen wirst, ja?«

Tatsächlich schien Sandrina sogar etwas gerührt jetzt.

»Keine Sorge, nonna. Ich bin kein Kind mehr!«, erwiderte Miriana und fuhr ihrer Großmutter sanft über die verschrumpelte Wange.

Sandrina kramte ein Taschentuch hervor, trocknete ihre feuchten Augen.

»Du weißt, dass deine nonna unheimlich stolz auf dich ist, nicht wahr?«

»Weiß ich.«

»Und, falls irgendetwas sein sollte, weißt du, dass du immer auf deine nonna zählen kannst, nicht?«

»Das weiß ich auch.«

»Dann zieh also los, mein Schätzchen! Zeig der Welt, zu was eine echte Moscato fähig ist, ja?«

Miriana drückte ihrer nonna einen Kuss auf die Wange. Sandrina nutzte den Moment, um ihrer Enkelin Geld zuzustecken.

»Ist nur für den Notfall, va bene

»Danke, nonna

Miriana strahlte.

Und Pia schluckte.

Manchmal fragte sie sich, warum Sandrina nie so nett zu ihr gewesen war. Aber solange die Alte lieb zu den Kindern war, war ja alles in Ordnung. Kinder brauchten liebevolle nonne. Verheiratete Frauen hingegen kamen auch mit nervtötenden Schwiegermüttern zurecht. Diese Kunst wurde ihnen nämlich mit in die Wiege gelegt. Oder so.

Das Chaos brach endgültig aus, als Clemente, Pias ältester Sohn, mit seiner Familie ankam.

Clementes Familie bestand aus Elide, seiner Frau, und Pasquale Pio, seinem kleinen Sohn. Pasquale Pio verwandelte sämtliche Anwesenden augenblicklich in stupide Erwachsene, die dämliche Laute von sich gaben und nur darauf warteten, mit einem Lächeln des Kindes belohnt zu werden. Einzig Pia ging auf ihre Schwiegertochter Elide zu. Pia hatte das Gefühl, dass Elide sich nie ganz wohl bei ihnen fühlte. Und das tat ihr unheimlich leid. Denn sie war selbst eine Schwiegertochter und wusste, wie schwierig diese Position war.

»Elide! Gut siehst du aus.«

Pia umarmte sie herzlich. Was sich ein bisschen so anfühlte, als würde man eine Schaufensterpuppe umarmen.

»Ach, ich hatte noch nicht mal Zeit, mir die Haare zu waschen«, konterte Elide. Und irgendwie empfand Pia das als Vorwurf. Dabei war es Elide, die den Kleinen so ungern bei ihr abgab.

»Besprich doch mit Tiziana, ob du nächste Woche mal zu ihr in den Salon kannst. Pasquale Pio nehme ich natürlich so lange.«

Elide öffnete den Mund, um zu antworten. Wurde aber vom Klingeln an der Tür unterbrochen.

Pia schaute überrascht auf.

Dann in die Runde.

Eigentlich waren alle da.

Wer konnte das noch sein?

»Entschuldigt mich bitte«, sagte sie zu niemand Besonderem.

Sie ging öffnen. Und stand vor Don Rosario, dem Priester aus dem Ort, der ihr erst einmal ein kleines Päckchen in die Hand drückte.

Hatte sie ihn eingeladen? Amnesie?

»Buonasera, cara Pia. Bin ich zu spät?«

Gute Frage.

»Ähm …«

»Don Rosario habe ich heute früh vor der Messe Bescheid gegeben. Ich denke, Miriana wird seine Segnung gut gebrauchen können«, mischte sich Elide ein, die Pia leise gefolgt war.

»Elide, Schatz, das ist so eine schöne Idee von dir«, tat Pia freudig überrascht. Dann zu Don Rosario gewandt: »Don Rosario, ich muss mich entschuldigen, dass ich Sie nicht selbst eingeladen habe. Sie werden einer vollkommen gestressten Mutter, die so viele Sorgen um die jüngste Tochter im Kopf hat, hoffentlich verzeihen?«

Pia schob den korpulenten Priester durch den Eingangsbereich direkt in das Esszimmer. Dabei überlegte sie bereits, wie sie es anstellen sollte, noch unbemerkt ein zusätzliches Gedeck auf den Esstisch zu zaubern. Sie suchte mit dem Blick Tiziana, probierte es mit Telepathie. Erst schaute Tiziana fragend. Dann nickte sie und eilte in Richtung Küche. Diese Frau war ein Schatz. Dafür würde Pia sie später küssen!

Jetzt aber musste sie sich beeilen, Don Rosario an irgendwen im Esszimmer abgeben und sich dann ums Essen kümmern.

»Don Rosario!«, rief nonna Sandrina auch schon ganz begeistert, bevor sie ihn zu sich winkte. Pia glaubte noch, den Priester leise stöhnen zu hören, als es doch tatsächlich schon wieder klingelte. Fragend drehte Pia sich zu Elide um, die aber nur die Schultern hochzog.

Wer um alles in der Welt konnte das denn jetzt noch sein?