Rom, Mitte Oktober
Am Tisch neben ihnen rezitierte ein älterer Herr ein Gebet, vielleicht ein Ave Maria. Pia jedenfalls glaubte, den Namen der Mutter Gottes herausgehört zu haben. Jetzt bekreuzigte der Alte sich so schnell, dass es aussah, als scheuchte er Fliegen davon, und griff nach seiner Gabel. Und schon verlor Pia wieder ihr Interesse an ihm.
Trotzdem fragte sie sich, wie Marcello und sie wohl auf die Restaurantgäste wirken mochten, die um sie herum saßen. Pia versuchte sich das Bild vorzustellen, das sie zusammen boten. Auf jeden Fall sahen sie aus wie ein nicht mehr ganz junges Paar. Er grau meliert und attraktiv, sie rötlich gefärbt und … ja … auch attraktiv? War sie das denn?
»So schweigsam heute?«, mischte sich Marcellos Stimme leise in ihre Gedanken.
Pia merkte erst jetzt, dass sie wohl zu lange nichts gesagt hatte.
»Verzeih, ich wollte nicht unhöflich sein.«
»Bist du nicht.«
Der Kellner kam und stellte bruschetta vor ihnen ab. Die Tomate und der Knoblauch verbreiteten einen intensiven Duft. Basilikum war auch dabei. Pia nahm einen Bissen vom gerösteten Brot. Tomatenstücke fielen dabei in den Teller zurück und das knusprige Brot brach leise krachend auseinander. Marcello beobachtete Pia ganz direkt.
»Unhöflich und unfein!«, nahm Pia sich selbst auf den Arm und schluckte erst dann herunter.
»Du bist vollkommen in Ordnung.«
Unpassenderweise bekam Pia prompt eine Gänsehaut bei diesem erneuten Kompliment. Das musste irgendwie mit dem Schmetterling zu tun haben. Die wunderschöne Brosche brachte sie vollkommen durcheinander. Ja, verdammt, sie hatte sie angesteckt. Ein Fehler?
»Sie steht dir übrigens ganz hervorragend!«, fand Marcello und zeigte mit dem Finger auf das Schmuckstück.
Wiederholt räusperte sich Pia. Das geröstete Brot. Ihr Hals so trocken wie die Sahara.
»Du hättest wirklich nicht so viel Geld für mich ausgeben müssen.«
Sag endlich Danke!, schimpfte sie stumm mit sich selbst. Es war eigentlich gar nicht ihre Art, sich nicht für ein Geschenk zu bedanken. Aber das hier war auch wirklich ein ganz spezielles Geschenk.
»Geld bedeutet mir nichts«, erklärte er einfach. Einen Moment lang hatte es so ausgesehen, als wollte er ihre Hand nehmen. Glücklicherweise hatte er es sich noch anders überlegt.
Ja, das wusste Pia inzwischen. Marcello wehrte sich auch noch immer vehement dagegen, von ihr Geld für das wundervolle Zimmer anzunehmen. Ihr wundervolles Zimmer.
Hotelzimmer.
Und es war ein ganz schön teures Hotelzimmer.
»Trotzdem …«, gab Pia etwas hilflos zurück.
Marcellos Gesicht verfinsterte sich einen Augenblick lang. Ganz, ganz kurz nur. Pia hatte es trotzdem registriert. Und sie wollte nicht verantwortlich sein für seine finstere Miene. Sie wollte ihn lachen sehen. Sie wollte selbst lachen. An nichts denken.
Aber so lief das im Leben einfach nicht.
Und dafür stand der goldene Schmetterling.
Pia trug sonst keinen anderen Schmuck. Außer ihrem einfachen Ehering.
Mit der Wucht einer Ohrfeige wurde ihr das plötzlich bewusst.
Und dann mischte sich wieder der Kellner in die Szene.
Er stellte duftende Gerichte vor ihnen ab.
»Buon appetito«, wünschte er ihnen höflich und schenkte Wein nach.
Pia konnte sich nicht vorstellen, auch nur einen Bissen herunterzubekommen.
Wie eine Lawine rollten gerade tausend Namen, Gesichter und Bilder auf sie zu. Alle hatten mit ihrer Familie zu tun.
Jetzt tat sie, was Marcello eben nicht getan hatte, und griff nach seiner Hand. Sie hielt sich förmlich daran fest. Aus Angst, sonst unter der Lawine begraben zu werden.
»Ich denke, wir sollten essen.«
Marcellos Stimme hatte den gleichen Klang wie immer. Ruhig. Besonnen. Und das beruhigte Pia wiederum. Irgendwie.
Essen.
Ja.
Das war gut.
Eine ganze Weile lang war nichts weiter zu hören als die typischen Restaurantgeräusche. Leises Stimmengewirr. Das Klappern des Bestecks auf Teller. Der Mann am Nebentisch betete schon wieder leise. Vielleicht war er einsam. Oder seine mamma hatte ihm irgendwann einmal beigebracht, sich vor und nach dem Essen mit einem Gebet zu bedanken. Vielleicht war er auch einfach nur nicht ganz dicht. So schwierig war das wahrscheinlich gar nicht, dem Wahnsinn zu verfallen.
Pia nahm einen Bissen von ihrem Essen. Vor lauter Grübeln hatte sie noch gar nicht richtig bemerkt, was sie da zu sich nahm. Tintenfisch, Tomaten. Kichererbsen?
»Und? Bist du zufrieden mit Ughettos Kochkünsten?«
Jetzt sah sie erst, dass Marcello Seezungenfilets auf dem Teller hatte.
»Ja. Ein interessantes Gericht. Vielleicht koche ich es mal nach. Und was ist mit dir? Schmeckt es?«
Und ehe sie es sich versah, hatte Marcello sie wieder in eine lockere Unterhaltung verwickelt. Es war wie nach einem starken Regen. Wenn der Himmel sich allmählich lichtete. Alles gut. Die Sonne zeigte sich wieder.
Obwohl Pia sich geschworen hatte, etwas weniger zu essen, ließ sie sich doch zu einer Nachspeise überreden. Marcello nahm seinen üblichen caffè. Den er vollkommen überzuckerte. Er sah entspannt aus. Und wie immer sehr attraktiv.
»Jeans stehen dir übrigens ganz hervorragend.«
Sie wollte, dass er das wusste. Aus welchem Grund auch immer.
»Danke. Ja. Ich weiß auch nicht. Irgendwann habe ich wohl angefangen, mich selbst viel zu ernst zu nehmen. Dabei habe ich offenbar vergessen, dass außer Anzügen auch noch anderes im Schrank hing.«
Pia lächelte und versuchte sich seinen Kleiderschrank vorzustellen. So eine Manager-Garderobe mit lauter gleichen Anzügen? Nein, beschloss sie. Schon eher ein Ankleidezimmer mit Spiegel und einem Sessel, auf den Marcello sich setzte, um in die Schuhe zu schlüpfen. Ja, das passte besser zu ihm und seiner zeitlosen Art. Gerne hätte sie gewusst, ob sein Sinneswandel, was die obligatorischen Anzüge betraf, etwas mit ihr zu tun hatte. Es hätte sie ehrlich gefreut. Denn umgekehrt hatte ihr neues Lebensgefühl ganz viel mit Marcello zu tun. Trotzdem schwieg sie lieber.
»Wollen wir gehen?«
Pia nickte.
Sie gingen den gleichen Weg zurück. Pia warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Die wollte ihr weismachen, dass es bereits Nachmittag war. Aber konnte das wirklich stimmen? Vermutlich schon. In Rom raste die Zeit. Wenn es schon so spät war, dann musste Marcello jetzt zurück ins Hotel. Er hatte ihr erzählt, dass die meisten Gäste am frühen Nachmittag eintrafen. Und er war ein Hotelbesitzer, der seine Gäste gerne persönlich in Empfang nahm oder verabschiedete.
Auf dem Marktplatz stoppte sie ihn deshalb.
»Du solltest deine Gäste nicht warten lassen, Marcello! Mach dir keine Sorgen um mich. Ich werde noch eine Weile hier bummeln.«
»Ganz kurz kann ich wohl noch bleiben.«
»Du solltest wegen mir deine Arbeit aber nicht vernachlässigen.«
»Keine Sorge. Das tue ich nicht.«
»Weißt du was? Wir setzen uns einfach auf die Stufen hier unter die Statue, wo du freien Blick auf dein Hotel hast. Falls du Horden von Touristen eintreten siehst, brauchst du keine zwei Minuten und bist bei ihnen.«
Pia setzte sich bereits. Es war ihr egal, dass sie dabei ihre gute Hose wahrscheinlich total verdreckte. Kurz stand Marcello unentschlossen da. Letztendlich folgte er aber ihrem Beispiel. Und machte dabei eine viel bessere Figur als sie. Auf einmal wirkte er wie ein junger Mann, der ständig irgendwo mitten auf der Straße saß. Er lehnte sich sogar leicht gegen den Sockel, der die Statue von Giordano Bruno trug. Pia erinnerte sich daran, was Marcello ihr über die Statue erzählt hatte. Bruno war wohl direkt an dieser Stelle auf dem Scheiterhaufen gestorben. Die Inquisition hatte ihn der Ketzerei und Magie für schuldig befunden. Sie fröstelte bei dem Gedanken. Zur Sicherheit bekreuzigte sie sich. Was Marcello nicht übersah.
»Weißt du, ich glaube, es nützt nichts mehr, wenn du für ihn betest«, neckte er sie.
Pia kicherte wie ein Mädchen, machte dann eine wegwerfende Handbewegung und richtete den Blick in die Ferne.
»Es ist richtig hübsch!«
Marcellos Hotel. Pia fand es einfach bezaubernd. Es war so ziemlich das einzige Gebäude weit und breit, das vollkommen von Efeu bedeckt war. Was ihm ein ganz besonderes Flair verlieh.
»Ja, das ist es«, pflichtete Marcello ihr bei.
»Seit wann gehört es dir?«
»Eigentlich schon immer. Ich habe es, wie du weißt, geerbt.«
»Du Glückspilz.«
»Das bin ich wohl. Aber es hat auch Tage gegeben, an denen ich dieses Hotel verflucht habe.«
»Das kann ich kaum glauben.«
»Ich weiß …«
Etwas Melancholie schwang in seiner Stimme mit.
Fast zeitgleich beobachteten sie beide, wie ein Grüppchen das Hotel betrat.
»In Momenten wie diesen, zum Beispiel …«
Marcello erhob sich mit etwas Mühe.
»Bella Signora, die Pflicht ruft. Komm doch nach deinem Spaziergang an die Rezeption, dann besprechen wir gemeinsam das Abendprogramm, ja?«
Charmant warf er ihr eine Kusshand zu und ging. Irgendetwas klebte an seiner Jeans. Pia hob die Hand, wollte ihn warnen, ließ es aber bleiben.
Sie beobachtete ihn, bis er im Hotel verschwand. Irgendwie fühlte sie sich gerade so träge, dass sie sich kaum vorstellen konnte, sich irgendwann wieder zu erheben. Also blieb sie sitzen und beobachtete weiter das rege Treiben auf dem Campo de’ Fiori. Ein älterer Herr stellte an seinem Gemüsestand ein Küchengerät vor, das Spiralen ins Gemüse schnitt. Immer wieder formten sich Grüppchen um ihn herum. Und er verkaufte eine ganze Menge. Pia versuchte mitzuzählen, gab es aber irgendwann auf.
Erst als sie dringend auf die Toilette musste, stand sie schließlich auf. Marcello hatte zu tun. Sie sah ihn an der Rezeption stehen, wie er mit Leuten sprach. Noch immer klebte dieses Etwas an seiner Jeans. Dass er zu tun hatte, war ihr ganz recht. Sie wollte sich etwas ausruhen und noch das Buch zu Ende lesen.
Geduldig stieg Pia die vielen Stufen hinauf bis zum Zimmer. Als sie endlich vor der Tür stand, war sie nur ein bisschen außer Atem. Ganz allmählich gewöhnte sich ihr Körper an diese neue sportliche Aktivität. Pia entriegelte die Tür mit ihrer Karte. Wartete das vertraute Klack ab und trat ein. Ein Duft kam ihr entgegen. Sie wusste nicht, wie das die Zimmermädchen anstellten, aber sie hinterließen jedes Mal diesen herrlichen Geruch nach sauber und neu und rein. Auch das Bett war so perfekt gemacht, dass es aussah, als hätte bisher noch nie jemand darin geschlafen. Nur die Tatsache, dass die Zimmermädchen immer wieder die Balkontür schlossen, störte Pia. Zuerst ging sie ins Bad, dann sofort zur Balkontür, um sie zu öffnen. Sie blickte hinaus und erstarrte.
Da, direkt vor ihr.
Die Taube.
Sie saß ganz ruhig auf dem Geländer. Und Pia hatte den Eindruck, dass sie mit ihren winzigen Augen direkt in ihre schaute. Die gesamte Körperhaltung des Vogels sagte: Ja, ich bin es, die dich jeden Morgen weckt. Wir haben uns noch nie gesehen. Und trotzdem kennen wir uns gut.
Dauerte das Treffen Stunden? Oder Sekunden? Pia hätte es nicht sagen können.
Als die Taube irgendwann die Flügel ausbreitete und ohne Gruß davonflog, fühlte sich Pia ganz seltsam. Sie sah Dinge plötzlich viel klarer.
Sie setzte sich, konnte dieses komische Gefühl aber dennoch nicht ignorieren. Die Dachterrasse sah noch immer genauso aus wie zuvor. Trotzdem erschien Pia plötzlich alles ganz anders. Ihre Sinne waren geschärft. Selbst die Blumen nahm sie ganz anders wahr. Und deren Duft.
Diese Reise nach Rom.
Pia fuhr sich wiederholt durchs Haar. Als könnte sie damit die letzten Tage wegwischen. Oder gleich die letzten Wochen. Doch die ließen sich ebenso wenig wegwischen wie der Grund ihrer … ja … Flucht.
Und Pia wusste gerade exakt, wie alles angefangen hatte.