Camerota, Ende September
Er hatte es sich so angewöhnt, die Toten daheim abzuholen und mit einer Prozession zur Kirche zu bringen. Don Rosario fand das würde- und respektvoll. Viele seiner Kollegen warteten in der Kirche auf die Särge. Er nicht.
Als er etwas atemlos bei der Behausung von Mario Moscato angelangte, musste er ein bisschen drängeln. Wenn jemand in Camerota starb, kam der ganze Ort, um sich zu verabschieden. Es waren ja nicht mehr viele Bewohner übriggeblieben. Aber die paar, die es waren, hatten sich eingefunden. Die unzähligen Blumen machten das Atmen schwer. Irgendwann würde er das verbieten. Langsam konnte er sie nicht mehr riechen.
Bevor er eintrat, fuhr er sich mit der Hand über den Kopf, versuchte das Haar dabei zu glätten. Schwierig, so ohne Kamm. Und heiß war es. Don Rosario wunderte sich, dass noch niemand in Ohnmacht gefallen war. Die Leute waren hier drin zusammengepfercht wie Sardinen. Er erblickte Elide, rief sie mit einem Wink zu sich.
»Don Rosario?«
»Elide, kannst du hier mal lüften? Weißt du, die Blumen, die vielen Leute. Und wir bleiben mindestens noch 15 Minuten …«
Es schickte sich nicht, auch vom Gestank nach Tod zu sprechen. Präsent war er trotzdem.
»Natürlich, Don Rosario. Ich werde mich darum kümmern.«
Die Anwesenden nickten ihm zu, machten betroffene Gesichter. Und Don Rosario ging durch die Menge hindurch zu Mario Moscato, der im offenen Sarg aufgebahrt vor seinem Kamin lag. Rechts von ihm Sandrina. Wie in Trance saß sie da, berührte die Hand ihres Mannes. Ab und an kreischte sie und schlug sich vor Schmerz mit der Faust auf die Brust.
Don Rosario glaubte etwas Unehrliches in ihrer Gestik zu erkennen, schüttelte diesen Gedanken aber gleich wieder ab. Das war ganz sicher nicht der richtige Moment, Sandrinas Ehrlichkeit zu hinterfragen. Er wusste, zu was sie fähig war, kannte ihre ganz große Sünde aus der Vergangenheit. Dennoch wollte er glauben, dass ihr Schmerz aufrichtig war. Und diese Sache aus der Vergangenheit … Vielleicht würde er sie irgendwann einmal wieder darauf ansprechen. Diese Angelegenheit, ja, die musste einfach mal geklärt werden. Besser früher als zu spät.
Ermanno stand bei ihr. Mit Sandro und Letizia. Don Rosario runzelte die Stirn. Er war ja nun wirklich der Letzte, der irgendeine Ahnung von Kleidung hatte. Aber selbst ihm fiel sofort auf, dass Ermanno viel zu schick aussah. Zwar hatte der auf seine auffälligen Polohemden verzichtet und den Total-Black-Look gewählt. Trotzdem passte er in die bescheidene Bleibe seiner Eltern wie Berlusconi in einen Konvent.
Auf der anderen Seite des Sarges saß Pia, die wirklich mitgenommen aussah. Daraus schloss Don Rosario, dass sie ihrem Schwiegervater gegenüber ehrliche Zuneigung verspürt haben musste. Was auf Gegenseitigkeit beruht hatte. Der alte Mario hatte viel von Pia gehalten. Nicht selten hatte er sie ganz offen gelobt in der Bar, vor allen Leuten.
Pia war dennoch gefasst. Gab ihrem Mann Pasquale sichtlich Halt, der wie ein Roboter Beileidsbekundungen entgegennahm. Sie gaben schon ein harmonisches Bild ab. Pia und Pasquale. Clemente und Giovanna mit Matteo. Miriana, die sich zwar unwohl fühlte, sich aber der Situation angemessen verhielt. Auch sie hatte soeben lernen müssen, dass im Leben nicht immer alles nach Plan lief. Statt abzureisen, in die Großstadt, musste sie nun dabei zusehen, wie ihr Großvater beerdigt wurde. Ungerecht? Ja. Aber so war das eben manchmal.
Elide ging hin und her, versuchte sich nützlich zu machen. Eine schöne Familie.
Don Rosario atmete tief ein. Schon besser. Man konnte wieder Luft holen. Elide hatte brav die Fenster geöffnet und für etwas Durchzug gesorgt.
Ja, dachte Don Rosario. Manchmal übertrieb er es wohl. Das war ihm schon klar. Er versuchte stets, jedes noch so kleine Signal einzufangen. Er sah es als seine Aufgabe, Familien und deren Glück im Auge zu behalten. Viel zu oft und viel zu schnell hatte er schon alles auseinanderbröckeln gesehen. Das wollte er verhindern. Zeitig eingreifen, falls erforderlich. Aber hier bei den Moscatos war alles in Ordnung. Obwohl … Pia machte ihm schon etwas Sorgen …
Jemand tippte Don Rosario auf die Schulter und riss ihn unsanft aus seinen Überlegungen. Antonio. Er hatte ihn nicht kommen gehört. Das verhaltene Gemurmel hatte das Quietschen der Schuhe übertönt.
»Antò, was gibt’s?«
»Die Leichenbestatter sind da und wollen den Sarg schließen.«
Don Rosario nickte, wusste, was er zu tun hatte.
»So, ich muss jetzt alle Nicht-Angehörigen bitten, den Raum zu verlassen«, sprach er mit ruhiger, aber fester Stimme. Sandrina jaulte auf wie ein getretener Hund. Die Leute machten sich dennoch daran, hinauszugehen, um der Familie ein persönliches Abschiednehmen zu ermöglichen.
Als nur noch die famiglia bei Mario stand, näherte sich auch Don Rosario.
»Lasst uns uns alle bei der Hand nehmen«, schlug er vor.
Die Familie stellte sich so nah wie möglich an den Sarg. Sandrina klammerte sich an Ermanno, dem das sichtlich unangenehm war.
Don Rosario sprach das letzte Gebet, bei dem Mario noch unbedeckt dalag. Er tat es betont langsam, weil er wusste, dass jeder jetzt auf seine Weise Abschied nahm. Auch er selbst. Bilder, die Mario zeigten, als es ihm noch gut ging, entstanden in seinem Kopf. Wie oft er wohl in den vielen Jahren beim Kartenspielen gegen ihn gewonnen hatte? Und dieses eine Mal, als sie so heftig gestritten hatten. Um was war es noch einmal gegangen? Ach ja. Das Boccia-Turnier. Fast hätte Don Rosario bei der Erinnerung gelächelt.
»Dann würde ich jetzt vorschlagen, wir lassen die Männer vom Bestattungsdienst ihre Arbeit machen.«
Kein Vorschlag. Eher ein Befehl. Das hatte er so ausgemacht mit dem Bestattungsinstitut. Es machte deren Arbeit leichter. Erfahrungsgemäß verkrafteten es die Wenigsten, dabei zuzusehen, wie der Sarg verschraubt wurde.
Nach der Messe war Don Rosarios Dienst getan. Zum Friedhof ging der Priester nie mit. Das war die Aufgabe der Familie und der Bestatter. Manchmal war Gianni, der Totengräber, nicht schnell genug, Platz für neu eintreffende Särge zu schaffen. Dann lag der Sarg ohnehin noch eine Weile im dafür vorgesehenen Raum. Marios Seele befand sich jetzt dort, wo sie hingehörte. Mehr konnte er nicht für ihn tun.
Eine Weile blieb Don Rosario noch in seiner Kirche, wartete in der Sakristei auf irgendein Familienmitglied, das ihm eine Spende vorbeibrachte. Eigentlich fand er das unheimlich demütigend, aber er war darauf angewiesen, wenn er seine Kirche weiterhin so wunderbar in Schuss halten wollte. Nein, natürlich behielt er nichts davon für sich. Aber er war penibel, was die Kirche anging. Konnte es nicht ausstehen, wenn Putz bröckelte oder mal wieder ein Mikrophon streikte. Allein die Reparatur des Glockenbandes hatte ihn schon wieder eine Menge gekostet.
Deshalb war er erleichtert, als es leise an der Tür klopfte.
Pia.
Anders hätte er es nicht erwartet.
»Komm rein, Pia.«
Sie sah noch müder aus. Nein, mehr als das.
»Don Rosario, jetzt mussten Sie so lange warten. Tut mir leid …«
Sie griff in ihre Handtasche, setzte sich kurz und schaute erst nach einem kurzen Moment wieder auf.
»Tut mir leid, dass du noch einmal hierher musstest.«
Sie zuckte mit den Achseln.
»Ach, keine Sorge.«
Ohne weitere Erklärung legte sie ihm einen Briefumschlag hin, den er wortlos nahm und einsteckte.
»Wie geht es euch?«
»Den Umständen entsprechend …«
»Lass dich von der Trauer nicht überwältigen, mein Kind.«
»Es ist nicht die Trauer … Ich meine, natürlich bin ich traurig, aber …«
»Aber?«
»Ach nichts, schon gut. Es ist kein einfacher Moment. Miriana geht. Nonno Mario stirbt. Damit muss man erst einmal klarkommen.«
»Das verstehe ich. Lass dir Zeit. Und lade dir nicht immer so viel auf.«
»Ich werde es versuchen …«
»Was ist mit Sandrina?«
»Was soll mit ihr sein?«
»Wird sie bei Ermanno unterkommen?«
»Bestimmt. Ist doch ihr Liebling.«
Dazu hätte Don Rosario eine ganze Menge zu sagen gehabt. Aber er durfte nicht.
»Gut. Dann geh jetzt, Kind. Ruh dich aus.«
Pia erhob sich sofort.
»Danke, Don Rosario. Arrivederci.«
Don Rosario hoffte inständig, dass Sandrina nicht auf die Idee kam, bei Pia einzuziehen.
Sieben Mal hatte sich die bodenlange Gardine am Schlafzimmerfenster in der letzten Minute aufgebäumt. Das wusste Pia so genau, weil sie mitzählte. Seit gefühlten Stunden bereits. Der leichte Wind blies herein, hob den dünnen Stoff an, ließ ihn kurz lebendig erscheinen, um dann gleich wieder trist zurückzufallen. Die Bewegung beruhigte Pia, sah für sie aus wie das Spiel der Wellen. Und machte sie gleichzeitig noch wacher als wach.
Pia bestand auf das offene Fenster im Schlafzimmer. Sie bildete sich ein, das Meer zu riechen, das Luftlinie nur wenige Kilometer weit entfernt lag. An guten Tagen reichte die Brise bis zu den Hügeln hinauf. Keine unüberwindbare Distanz. Dennoch war es nicht dasselbe. Sie vermisste das Meer. Und brauchte deshalb das offene Fenster.
Pasquale kam zu Bett, als die Brise sich schon lange gelegt hatte und die Gardine nur noch leblos an ihrer Stange hing. Er war vorsichtig und leise. Offenbar wollte er sie nicht wecken. Dabei lag sie immer noch hellwach und mit weit aufgerissenen Augen im Dunkeln.
»Was hast du noch so lange gemacht?«
Pasquale ließ sich müde ins Kissen fallen.
»Du bist wach, Signora Pia?«, murmelte er und rieb sich die Augen. Dann gähnte er. Und steckte Pia tatsächlich damit an.
»Ja.«
»Kannst du nicht schlafen?«
»Nein.«
»Ich auch nicht. Hab noch eine Weile mit Miriana geplaudert und dann ferngesehen.«
Verständlich. Pasquale hatte gerade seinen Vater verloren. Wieso es ihr hingegen so miserabel ging … das würde sie auch gerne wissen.
»Wie geht es dir wirklich, Pasquà?«
Diese Frage im dunklen Schlafzimmer, wo es nur sie beide gab, machte Pia traurig. Und dann fing sie plötzlich an zu weinen. Was sie unheimlich nervte. Was gab es denn da zu weinen?
»Hey …«
Pasquale setzte sich auf, zog sie mit seinen starken Armen an sich, legte sacht ihren Kopf auf seine Brust. Küsste ihr Haar und klopfte mit der freien Hand beruhigend auf ihren Rücken. Dieser Mann roch so vertraut. Fühlte sich noch viel vertrauter an. Obwohl Pasquales Hand sich schwer und ein wenig rau anfühlte, konnte sich Pia im Moment keine schönere Berührung vorstellen. Sie hörte sein Herz klopfen.
»Ich will mich in nächster Zeit intensiv um das Projekt Hütte kümmern«, sagte Pasquale ganz unerwartet in die Stille hinein.
Pia war verwirrt und musste sich erst einmal aus dem wohligen Gefühl der Umarmung kämpfen. Sie schniefte laut.
Die Hütte schon wieder? Das war seit Neuestem Pasquales Lieblingsthema. Aber was hatte die Hütte jetzt bitte in dieser intimen Situation zu suchen?
»Keine Sorge, das wird nicht teuer. Ich habe schon mal auf Mirianas Laptop im Internet nach günstigem Material geschaut und probeweise ein paar Anzeigen aufgegeben, will einfach mal sehen, ob überhaupt jemand Interesse hätte.«
Pia musste sich richtig zwingen, seinen Worten zu folgen. Sie kam sich vor wie auf einer Achterbahn. Dass Pasquale auf einmal richtig eloquent war, machte es auch nicht einfacher, sich auf seine Worte zu konzentrieren.
Ohnehin war sie etwas skeptisch, was Pasquales Idee anging. Zwar lag die Hütte sehr idyllisch im Grünen und man hatte einen fantastischen Meerblick, aber zu den Stränden kam man nur mit dem Auto. Ob das den Touristen nicht zu umständlich war?
»Ich möchte endlich etwas mehr Geld in der Tasche haben. Und das ist die Chance!«, machte Pasquale unbeirrt weiter.
Nun, viel lieber hätte Pia über dieses komische Gefühl geredet, das sie schon den ganzen Tag verfolgte. Und über Pasquales Trauer auch. Aber es war selten, ihren Mann mal so begeistert und leidenschaftlich zu erleben. Schade, dass er ein denkbar schlechtes Timing ausgewählt hatte. Sie war mit dem Kopf einfach ganz woanders. Pia zuckte mit den Achseln.
Pasquale drückte sie fester.
»Dass mein papà gestorben ist … das bricht mir das Herz. Und ich bin auch traurig, dass Miriana geht!«, flüsterte er ihr dann ins Ohr. Und Pia musste wieder weinen. So lange, bis sie in Pasquales Armen einschlief.