Neapel-Rom, Anfang Oktober
Pia kramte in ihrer Handtasche. Gewiss war es nicht möglich, allen Bettlern, die vor dem Bahnhof standen, lagen oder saßen, Kleingeld zu geben. Aber an dieser jungen Frau, die einen Säugling im Arm hielt, konnte sie einfach nicht vorbeigehen. Nicht jetzt. Und nicht nach der Nachricht, die sie gerade erst erhalten hatte.
Pia fand kein Kleingeld, was sie zunehmend nervös machte. Deshalb zögerte sie nicht länger, griff zu einem Geldschein, rollte ihn zusammen und steckte ihn der jungen Frau in die Hand.
Diese blickte überrascht auf. Tränen der Rührung standen in ihren Augen. Pia verstand dieses Gefühl, merkte aber erst Augenblicke später, dass diese Rührung ihrer eigenen erschreckend ähnlich war.
»Signora, das ist das Netteste, was mir seit Langem passiert! Grazie. Grazie di cuore«, sprach diese in einwandfreiem Italienisch und drückte ihr Kind noch fester an die Brust.
Pia konnte den Blick nicht von dem Kleinen wenden. Alles um sie herum verschwand. Der Lärm. Das Stimmengewirr. Das Hupen. Der Dreck. Die Menschen. Der Smog. Das Elend. Die Stadt. Die Menschen.
»Wie heißt er denn?«
Unwichtig eigentlich. Aber sie musste das einfach wissen.
»Liam.«
Die junge Frau lächelte, wie nur eine Mutter das konnte.
»Schön. Ungewöhnlich aber, nicht?«
»Der Vater ist Engländer«, erzählte die junge Frau weiter.
Und dann gab es nichts mehr zu sagen. Pia verkniff sich ein unpassendes Viel Glück, warf dem Baby eine Kusshand zu und ging.
Der Gedanke, dass die junge Frau nicht bereit war für die Rolle als Mutter, verfestigte sich, bis Pia fast das Gefühl hatte, er stünde wie ein Mensch neben ihr. Ein Mensch, der sie höhnisch anblickte, um sie daran zu erinnern, dass auch sie nicht bereit schien für diese Aufgabe, mit der sie am Morgen so unerwartet konfrontiert worden war.
Pia betrat das Gebäude fast fluchtartig, blickte auf die große Tafel und suchte nach ihrem Zug. Bahnsteig 12. Sie zog ihren Trolley hinter sich her und fand das Geräusch der kleinen Rollen, die über den Fußboden ratterten, seltsam tröstlich. Ganz automatisch setzte sie einen Fuß vor den anderen, folgte dem unsichtbaren Strom. Ein bisschen, als wäre sie in Trance. Ein Zustand, aus dem sie nach dem Telefonat heute Morgen noch gar nicht richtig erwacht war.
»Si avvisano i Signori viaggiatori che il treno interregionale per Roma Termini è in partenza dal binario 13«, tönte es aus den Lautsprechern. Die metallischen Worte dröhnten Pia in den Ohren. Rom.
Ein Zug nach Rom.
In die Ewige Stadt.
Pia blieb stehen. Dann ging sie ein paar Schritte gegen den Strom und schlug eine andere Richtung ein.
Rom.
Und ein falscher Zug, der zu dem Ziel wurde, das sie unbedingt erreichen musste.
Pia stieg ein. Wie selbstverständlich. All die anderen Zugfahrgäste schienen ein Ziel zu haben. Sie hatte auch eins. Doch, ganz bestimmt. Es fiel ihr nur gerade nicht ein. Aber es war da. Ihr Ziel. Irgendwo. Gut versteckt.
»Bist du verrückt geworden?«
Laut und deutlich hatte ihre innere Stimme diese Frage ausgesprochen.
Vielleicht. Vielleicht war sie es wirklich. Verrückt.
Aber dieses Verrücktsein fühlte sich zunehmend richtig an.
Wie um diesen Eindruck zu bestätigen, fand Pia auch sofort einen Sitzplatz. Und bevor sie es sich noch anders überlegen konnte ging es auch schon los. Kurz blickte sie sich in dem großen Zugfenster an. Sie sah aus wie eine ganz normale Reisende. Recht hübsch sogar, mit der neuen Frisur, die Tiziana ihr verpasst hatte. Komisch, dass der innere Tumult sich nicht in ihrem Gesicht widerspiegelte.
Als sie den Blick vom Zugfenster nahm, trafen ihre Augen die eines Mannes.
Madonna mia! Der Schaffner!
»Biglietti, per favore!«
Natürlich. Das war immerhin sein Job. Nur hatte Pia keine Fahrkarte. Dieses kleine Detail hatte sie in ihrem Zustand – einer Mischung aus Euphorie und Schock – vergessen.
Sie murmelte irgendetwas von Verspätung, spontaner Entscheidung und Zug verpassen. Der Schaffner hörte sich ihren Monolog ausdruckslos an, zückte inzwischen aber bereits Stift und Block. So einfach würde sie nicht davonkommen.
»Die Dame fährt mit mir.«
Ein Mitreisender, der Pia schräg gegenübersaß, hielt dem Schaffner eine Karte hin. Wahrscheinlich war er Mitglied in einem Club oder so etwas in der Art. Die Karte wurde jedenfalls genommen. Kommentarlos. Pia bekam dafür eine gestempelte Fahrkarte. Und der Schaffner zog endlich weiter.
Im ersten Moment wusste Pia nicht, wohin mit dem Blick. Ihr war die Situation peinlich. Nein, peinlichst. Sie spürte, dass die Schamesröte nur langsam aus ihrem Gesicht wich.
»Danke.«
»Nichts zu danken. Ich weiß, wie das läuft. Man eilt von einem Bahnsteig zum anderen und vergisst dabei mal den Koffer, mal den Kopf oder eben die Fahrkarte.«
Pia fand es nett, dass ihr Retter sich witzig gab.
»Lange Geschichte. Eigentlich hätte ich im Zug gen Süden sitzen müssen.«
Der Mann war so entspannt, dass Pia sich irgendwie von seiner Gelassenheit angesteckt fühlte. Sie merkte, wie ihre Muskeln nach und nach lockerer wurden. Und sie merkte, wie gut ihr Gegenüber aussah. Eine Tatsache, die sie fast schon wieder zum Erröten brachte. Der Mann lächelte, sagte aber nichts. Zeigte dabei eine ganze Reihe hübscher Zähne. Dass er aus dem römischen Raum kam, hörte man an seinem kaum angedeuteten Akzent.
»Pia.«
Der Mann hob fragend eine Augenbraue, und Pia merkte dabei erst richtig, wie harmonisch seine Gesichtszüge wirkten. Alles an ihm erschien perfekt. Aber nicht anmaßend. Selbst sein vermutlich maßgeschneiderter Anzug machte aus ihm keine steife Schaufensterpuppe. Ganz im Gegenteil – der sichtlich teure Stoff schmiegte sich wie eine zweite Haut an ihn und unterstrich seinen nahezu perfekten Körperbau.
»Ich heiße Pia.«
»Pia … che bel nome! Ich bin Marcello.«
Er hielt ihr die gepflegte Hand hin. Pia nahm sie und wunderte sich, wie schön es sich anfühlte, von tausend winzigen Stromschlägen durchströmt zu werden.
»Marcello … also … ich möchte natürlich für die Unkosten aufkommen.«
»Das ist gar nicht nötig, Pia. Meine Card erlaubt mir das Mitnehmen von einer weiteren Person.«
Pia schmolz ein bisschen dahin. Wie schaffte dieser Marcello es nur, ihren Namen so warm auszusprechen? Und mit einer derartigen Selbstverständlichkeit. Als würden sie sich seit Ewigkeiten kennen.
Aber wie konnte sie sich jetzt nur erkenntlich zeigen? Ihr kam eine Idee. Sie kramte umständlich in ihrer Reisetasche, nahm die Papiertüte mit ihrem Proviant heraus. Sie hatte einen halben Apfelkuchen eingepackt. Miriana hatte den partout nicht behalten wollen. Dabei war er ganz hervorragend gelungen. Pia hielt ihrem Retter ein Stück hin.
»Dazu kann ich ganz bestimmt nicht Nein sagen.«
Er nahm den Kuchen an, strahlte dabei über das ganze Gesicht. Und Pia wurde angenehm warm ums Herz.
Marcello nahm einen Bissen, schloss dabei vor Begeisterung die Augen und machte anerkennende Laute.
»Buonissima!«
»Ja?«
»Mehr als das. Ich kann mit ziemlicher Sicherheit behaupten, nie einen besseren gegessen zu haben.«
»Nun übertreiben Sie aber …«, wiegelte Pia ab. Insgeheim war sie aber mehr als entzückt über dieses Kompliment. Pasquale lobte ab und an ihre Kochkünste. Aber bei ihrem Mann klang das nicht halb so charmant.
Ja, Pasquale. Ihr Ehemann. Der irgendwie gerade, in Proportion zu den zurückgelegten Kilometern, in weite Ferne rückte. Das hier war etwas ganz anderes.
»Tue ich nicht! Ganz im Gegenteil stehe ich jetzt in Ihrer Schuld.«
»Unsinn!«
»Doch, doch. Ich muss mich irgendwie revanchieren.«
»Aber nein.«
»Pia«, Marcello hatte ihre Hand genommen – schon wieder – und sah sie jetzt ganz direkt an, »darf ich Ihnen Rom zeigen?«
Puh. Eigentlich war das doch alles verrückt.
»Bitte.«
Er bettelte förmlich und schaffte es dabei, seinen Augen einen Ausdruck zu verleihen, dem Pia einfach nicht widerstehen konnte.
Oder doch? Eine ganze Weile kämpfte sie mit sich. Bis schließlich der Teil von ihr gewann, der all dem entfliehen wollte, was im Moment nicht passte. Und das war eine ganze Menge.
»In Ordnung!«, hörte sie sich selbst sagen, während sie gleichzeitig ihrem Verstand verbot, diesen Entschluss jemals infrage zu stellen.
»Wie heißt Ihr Hotel?«
Eine denkbar einfache Frage. Auf die Pia keine Antwort wusste. Vielmehr fühlte sie sich davon vollkommen überrumpelt. Hotel … So weit hatte sie nicht gedacht.
Marcello wartete geduldig eine Antwort ab. Als keine kam, sprach er weiter.
»Sie können erst einmal bei mir übernachten.«
Pia versteifte sich sofort. Ihr Gegenüber schien es zu bemerken.
»In meinem Hotel halte ich immer ein Zimmer für ganz spezielle Gäste frei«, fügte er gleich hinzu.
»Sie haben ein Hotel?«
»Ein kleines …«
Pia hörte heraus, dass es bestimmt ein viel tolleres Hotel war, als er sie glauben lassen wollte.
»Das erleichtert mir die Suche natürlich ungemein. Vielen Dank.«
»Keine Ursache. Sie können es so lange benutzen, wie Sie wollen, und sind dabei natürlich mein Gast.«
»Das kommt nicht infrage. Ich zahle selbstverständlich dafür!«
»Sie wollen mir diese Freude nehmen? Dagegen widerspreche ich ganz vehement. Es gibt nichts Schöneres für mich als Gastfreundschaft. Und ich liebe es, meinen Gästen Rom zu zeigen. Mein Rom. Oder besser gesagt das Rom, das in keinem Reiseführer steht. So, wir sollten zum Ausgang gehen. Wir sind bald da.«
Pia blieb nichts anderes übrig, als aufzustehen und die Diskussion auf einen späteren Moment zu verschieben.
»Es ist sehr klein …«, sagte Marcello fast entschuldigend und hielt Pia an der Rezeption die Karte hin, die die Zimmertür entriegelte. »Ein Mitarbeiter hilft dir mit dem Koffer.«
Während der Taxi-Fahrt zum Hotel hatten sie sich das Du angeboten. Und das muffige Taxi hatte sich für Pia prompt in Aschenputtels prunkvoll geschmückte Kutsche verwandelt. Sie konnte nicht anders, als dauernd zu lächeln. Obwohl sie vom Taxi aus nicht viel mehr sah als Autos, Autos, Autos, färbte Roms magische Atmosphäre doch sofort auf ihr Gemüt ab. Und Marcello war mit Rom völlig eins.
Es war alles so berauschend. Ein bisschen unwirklich vielleicht. Aber keine einzige Sekunde hatte Pia den Eindruck, einen Fehler zu begehen.
Sie war in Rom. Und nirgendwo anders sollte sie sein.
Klein oder nicht, Pia war das egal. Selbst eine Abstellkammer konnte in diesem Hotel nicht hässlich sein. Sie hatte sich auf den ersten Blick in das Gebäude verliebt. Trotzdem machte sie sich innerlich auf ein nicht so tolles Zimmer gefasst.
»Oh«, war daher das Einzige, was sie herausbrachte, als ein Hotelangestellter die Tür aufsperrte und ihren Koffer hineintrug. Es war bildhübsch.
»Wir wünschen einen angenehmen Aufenthalt, Signora.«
Und dann war Pia plötzlich allein. Das Karussell ihrer aufgewirbelten Emotionen kam so abrupt zum Stehen, dass sie sich erst einmal setzen musste.
Was machst du hier?, schrie ihre innere Stimme so laut, dass Pia gegen ein dumpfes Gefühl ankämpfen musste, das sich ganz plötzlich irgendwo zwischen Bauch und Brust ausbreitete. Die fremde Umgebung infizierte auch ihr Selbstvertrauen und ließ es rapide schrumpfen.
Ein Telefon läutete.
Pia begriff erst nach dem vierten Läuten, dass es sich um ihr Zimmertelefon handelte. Es hörte nicht auf. Läutete immer weiter. Bis das Geräusch sie irgendwie in die Wirklichkeit zurückholte.
»Sì?«, meldete sie sich etwas atemlos und noch immer völlig perplex.
»Kannst du in etwa einer Stunde unten an der Rezeption sein?«
Ein paar Mal blinzelte Pia verwirrt.
Rezeption klang für sie gerade so erreichbar wie der Mond. Eine Antwort auf Marcellos Frage fiel ihr daher, trotz größter Anstrengung, nicht ein.
»Pia?«
»Ja?«
Kurzes Schweigen.
»Hör zu: Stell dir einfach vor, dass du eine Person ohne Vergangenheit und Zukunft bist! Für dich gibt es nur das Hier und Jetzt. Und aus diesem Hier und Jetzt nimmst du so viel mit, wie irgend möglich. Meinst du, du schaffst das?«
Es war der warme Ton. Oder vielleicht die Eindringlichkeit, die sie aus Marcellos Worten heraushörte. Die Nachricht jedenfalls erreichte Pia.
Sie nickte, wollte ihm vertrauen. Musste ihm vertrauen. Wie im Zug zuvor, als sie ihm mit erstaunlicher Leichtigkeit so viel von sich erzählt hatte.
»In einer Stunde, sagtest du?«
»Ja. Beschäftigungstherapie.«
»Ich werde mich bemühen«, behauptete sie und fragte sich plötzlich, was er genau mit Beschäftigungstherapie meinte. Sie errötete beim Gedanken daran, wie attraktiv er war. Ein Mann, dem die Frauen zu Füßen lagen und der etwas von einem Filmstar aus vergangenen Tagen hatte. Wie seine selbstsichere Art auf andere wirkte, hatte sie an den Blicken der Mitreisenden gemerkt. Und nun galt seine Aufmerksamkeit ihr. Das war verwirrend. Das war aufregend. Das war daher auch momentan kein Gedankengang, den sie weitergehen konnte.
»Etwas später geht natürlich auch.«
»Und etwas eher nicht?«
Marcello lachte und lockerte damit die Stimmung noch weiter auf.
»Komm, wann immer du willst, va bene?«
»Benissimo!«
Marcello hatte die Gabe, ihren Aufenthalt in Rom richtig erscheinen zu lassen. Wenige Gesten, wenige Sätze, und schon rückte wieder alles an den richtigen Platz.
Vielleicht konnte sie es ja schaffen, ihre Sorgen für ein paar Stunden zu vergessen.
»Was machen wir denn nun?«, fragte sie ihn also später an der Rezeption betont gelassen und folgte ihm aus dem Hotel hinaus.
»Wir gehen zu einem Kochkurs.«
»Netter Scherz.«
»Nein. Ernsthaft.«
Sie blieb stehen, um ihm besser ins Gesicht blicken zu können. Entweder war er ein richtig guter Schauspieler oder er sagte die Wahrheit. Kochen war jetzt so ziemlich das Letzte, auf das Pia Lust hatte. Das Wechselbad der Gefühle hatte sie ganz schön geschlaucht.
»Ich kann kochen.«
»Natürlich kannst du kochen. Das stellt auch niemand infrage. Aber das ist ein ganz spezieller Kochkurs. Bei einer ganz besonderen Person.«
»Du machst mich neugierig, weißt du das?«
»Ist ja auch meine Absicht.«
Unwillkürlich lachte Pia, obwohl ihr eben noch gar nicht danach zumute gewesen war.
»Dann erzähl jetzt aber auch!«
»Na gut. Der Kochkurs findet in einer sehr alten Osteria statt. Die Besitzerin selbst zeigt nur wenigen Auserlesenen, wie traditionelle römische Gerichte zubereitet werden.«
Sie mussten einer Gruppe Jugendlicher ausweichen. Einer Gruppe lauter, rotzfrecher Jugendlicher. Die waren aber auch überall gleich.
»Und wir gehören zu den Auserlesenen? Wie hast du das denn angestellt?«
»Ich kenne die Besitzerin.«
»Oh.«
»Und es ist nicht so, wie du denkst. Ich kenne sie nämlich schon seit Ewigkeiten. Wir haben in der Wohnung über der Osteria gewohnt. Und sie hat mich praktisch großgezogen. Dafür gesorgt, dass ich immer genug aß. Meine Eltern waren viel zu beschäftigt im Hotel, um sich um mich zu kümmern. Nur gut, dass ich Giulietta hatte.«
»Ja. Mir ging es ähnlich. Bei mir war es meine nonna.«
»Hatten deine Eltern auch so wenig Zeit für dich?«
»Nun, wir hatten kein Hotel, aber geschuftet haben meine Eltern auch die ganze Zeit. Papà war morgens auf dem Boot und nachmittags auf dem Bau. Mamma hat bei den älteren Leuten aus dem Ort den Haushalt in Ordnung gehalten. Als ich ganz klein war, hat sie mich immer mitgenommen. Aber irgendwann wurde mir das zu langweilig. Stell dir das vor, als kleines Mädchen dauernd stillhalten zu müssen, um die Alten nicht beim Schlafen oder sonst etwas zu stören. No. Das war nichts für mich.«
Pia hielt kurz inne und wunderte sich den Bruchteil einer Sekunde über ihre plötzliche Redseligkeit. Wie schaffte Marcello das nur?
»Du siehst, wir haben mehr gemeinsam, als es scheint.«
»Da hast du wohl recht.«
»Ich bin jedenfalls richtig froh, Giulietta gehabt zu haben. Außer meiner Frau hat mich nie wieder jemand so umsorgt wie sie.«
Er hatte eine Frau? Wieso überraschte sie das so sehr? Wobei … Er wirkte ja schon irgendwie gebunden, obwohl er keinen Ehering trug.
»Du bist verheiratet?«, hakte sie trotzdem noch einmal nach, fand die Frage aber gleich darauf unheimlich dumm. Schließlich hatte er das doch gerade gesagt.
Sie versuchte einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen. Es wirkte kurz schmerzlich verzerrt, was sie spontan dazu veranlasste, seine Hand zu nehmen.
»War …«, stellte er richtig. »Etwa 20 Jahre lang. Für mich war ja gleich nach unserem ersten Treffen klar, dass wir heiraten sollen. Aber da war ich sieben Jahre alt, und sie wollte warten, warten, warten«, erzählte er heiter und gleichzeitig etwas melancholisch.
Pia dachte daran, wie Marcello wohl mit sieben Jahren ausgesehen haben mochte, und fand es äußerst romantisch, dass er seine Sandkastenliebe zur Frau genommen hatte.
»Und jetzt seid ihr getrennt?«
Das musste sie einfach wissen!
»Angela ist vor fast genau sieben Jahren gestorben.«
Pia hielt abrupt an und zwang Marcello dadurch, einen Schritt zurückzugehen.
»Das tut mir leid.«
»Das muss es nicht. Ich komme damit zurecht.«
Er lächelte offen und aufmunternd, wie er es wahrscheinlich immer tat, wenn er darüber sprach, dachte Pia. Sie blickte forschend in sein nahezu perfektes Gesicht, registrierte jede seiner lässig-eleganten Gesten. Versuchte zu verstehen, wie ehrlich er eben gewesen war.
»Lass uns weitergehen«, forderte er sie auf.
Und sie ließ sich von ihm mitziehen, obwohl sie das Thema gerne noch vertieft hätte.
Marcello hielt schließlich in einer engen Gasse, durch die kein Auto passte. Ein einfaches Holzschild wies auf die Osteria hin.
»Hier, liebe Pia, bin ich aufgewachsen.«
Mit ausladenden Handbewegungen zeigte er Pia seine Gasse.
»Nun, ich würde ja gerne sagen, dass die Gegend sehr schön ist. Aber sie erinnert mich eher an unsere engen Gassen aus dem Ort.«
»Dann bin ich aber gespannt, was du gleich über die Osteria sagen wirst.«
Pia bereitete sich bereits innerlich auf ein schäbiges Lokal vor. Sie nahm sich vor, trotzdem erfreut zu wirken. Dass Marcello sehr viel an diesem Ort lag, war ja klar. Und das wollte sie ihm nicht vermiesen.
Das Holzschild zeigte auf ein Portal, das in einen Innenhof führte. Und schon hier war Pia positiv überrascht. Der Innenhof war nämlich ganz reizend. Rustikal, aber hübsch. Rankengewächs zog sich an Holzgestellen hoch und sorgte für eine geradezu magische Atmosphäre. Eine Art Holzbühne, die man über eine Treppe erreichen konnte, bot genug Platz für einige Tische, die aber durch das dichte Grün fast vollständig abgeschirmt waren.
»Wunderschön!«
»Nicht wahr? Komm, lass uns reingehen. Giulietta wartet sicher schon auf uns.«
Gemeinsam betraten sie die kleine Osteria. Marcello musste sich etwas bücken. Der niedrige, enge Flur, in den sie sofort nach dem Eintreten gelangten, wirkte nicht gerade einladend. Aber die gekonnt eingesetzten Lichter verliehen ihm etwas Geheimnisvolles. Und gerade deshalb ging man letztendlich wohl doch den Flur entlang. Wurde dann auch gleich dafür belohnt. Denn der kleine Speisesaal war hingegen sehr hell und erinnerte an das Esszimmer eines Wohnhauses. Unzählige dekorative Details waren im ganzen Raum verteilt. Die Tische waren mit schweren Leinentüchern gedeckt. Und das Geschirr sah fast so aus wie das aus nonnas Anrichte.
Eine Frau kam in den Gastraum und füllte ihn augenblicklich mit ihrer Präsenz aus.
»Bonasera«, trompetete sie mit sehr offensichtlichem römischem Akzent und breitete ihre dicken Arme aus.
»Giulietta!«
Marcello ging ein paar Schritte auf sie zu und ließ sich tatsächlich herzen wie ein kleiner Junge.
Giulietta nahm dann sein Gesicht in beide Hände und verkündete energisch: »Du bist viel zu dünn, a’ Marcé!«
Sie tätschelte noch einmal liebevoll seine Wangen, bevor sie ihn wieder freigab.
»Giulietta, das ist Pia, ein ganz besonderer Gast.«
Bei Giuliettas neugieriger Musterung wurde Pia doch etwas unwohl zumute. Das komische Gefühl hielt aber wirklich nur ganz kurz, denn nun breitete die korpulente Frau erneut die Arme aus. Und obwohl Pia eine etwas sterilere Umarmung bevorzugt hätte, konnte sie doch nichts gegen die lebendige Kraft von Giulietta ausrichten. Sie wurde so heftig geknuddelt wie schon lange nicht mehr.
»Bellezza, du glaubst wahrscheinlich, dass du kochen kannst, nicht?«, fragte Giulietta direkt, als sie Pia wieder freigelassen hatte.
»Nun, ich versuche mein Bestes.«
»Das ist nicht gut genug, bellezza. Komm mit, bei mir kannst du lernen, wie man wirklich gut kocht.«
Und schon machte Giulietta sich auf den Weg in Richtung Küche.
Pia und Marcello wechselten einen amüsierten Blick und folgten ihrer Gastgeberin.
Beschäftigungstherapie … Plötzlich verstand Pia, was Marcello damit gemeint hatte. Hier in Giuliettas Küche, inmitten von Töpfen, Kochlöffeln und frischen Zutaten, rückte alles andere ganz weit weg.