Kapitel 16

Rom, Anfang Oktober

Todmüde, aber endlich mit dem Gefühl, angekommen zu sein, wälzte Pia sich im Bett. Sie fand nach dem ereignisreichen Tag keinen Schlaf. Wie um alles in der Welt sollte sie die ganzen Eindrücke nur verarbeiten? Und wie sollte sie ihr schlechtes Gewissen zum Schweigen bringen?

Natürlich dachte sie noch immer an ihre Familie. So einen Urinstinkt konnte man nicht einfach ausschalten. Dennoch war ihr endlich – auch dank Marcello – klar geworden, dass sie nichts Unrechtes tat. Und diese Gewissheit war stärker als ihr Schuldbewusstsein.

Trotzdem brachte es wenig, sich weiter in diesem wundervoll weichen Bett hin und her zu wälzen. Sie kannte sich. Auf diese Weise würde sie nicht zur Ruhe kommen. Daheim wäre sie jetzt wahrscheinlich zu Alberto in die Küche gegangen. Hoffentlich dachte jemand daran, ihren roten Fisch zu füttern. Komisch. Um Alberto machte sie sich Sorgen. Aber was war mit den anderen? Mit Pasquale? Warum tat sie ihm das an?

Fragen. Immer diese Fragen.

Pia schälte sich aus den Decken, die sie ganz eng um sich gewickelt hatte. Nicht, weil ihr etwa kalt war, nein. Der Grund war viel törichter. Sie war es einfach nicht gewöhnt, allein zu schlafen. Nackt fühlte sie sich dabei. Was ziemlich dumm war. Oder etwa nicht?

Ganz automatisch fand sie den Weg zur Dachterrasse. Barfuß trat sie hinaus. Der Boden war kalt. Es ging ein frischer Wind, sodass Pia sich ihre Jacke holte, damit sie nicht fror. Seufzend zog sie sich einen schweren Stuhl aus Gusseisen zurecht, der beim Kontakt mit dem Boden tiefe, vibrierende Geräusche verursachte. Eigentlich wirkte er unbequem. Das dicke Sitzkissen jedoch glich das gekonnt aus.

Wie herrlich es hier oben doch war!

Pias Blick wanderte zum Himmel hinauf. Oh. Überrascht stellte sie fest, dass Roms Sterne nicht halb so schön leuchteten wie die über Camerota. Nein, das war gar kein Vergleich. Dafür waren die Lichter um sie herum viel interessanter. Ja, es war mitten in der Nacht. Dennoch waren diverse Fenster noch immer beleuchtet. Vielleicht war auch Rom eine Stadt, die nie schlief.

Ein Geräusch drängte sich in ihre Gedanken. Ganz leise. Wie ein Hauch. An der Zimmertür. Wahrscheinlich nur Einbildung.

Oder?

Eigentlich hatte Pia gerade gar keine Lust aufzustehen, um nachzusehen. Aber ein komisches Gefühl ließ sie einfach nicht los.

»Va bene, va bene!«, murmelte sie, leicht von sich selbst genervt. Da war sicher nichts.

Falsch.

Da war sehr wohl etwas.

Etwas Weißes kontrastierte derart kräftig mit dem Fußboden, dass Pia den Eindruck hatte, davon angesprungen zu werden. Sie ging hin, hob es auf. Ein Umschlag. Sofort riss Pia die Tür auf. Was sie im Flur empfing, war gedämpftes Licht, Stille und sonst nichts.

Seltsam.

Pia schloss die Tür also wieder. Leise. Und ließ dabei den Umschlag keine Sekunde aus den Augen, als könne sie auf diese Weise dem gefalteten Papier etwas entlocken. Aber es war nichts weiter als das: ein weißer Umschlag. Aus gutem Papier. Das merkte Pia, weil es ihr schwer in der Hand lag. Einen kurzen Augenblick fürchtete sie, dass ihre Familie herausgefunden hatte, wo sie war. Ihr Herz klopfte in einer seltsamen Mischung aus Angst und Vorfreude. Wie konnte das denn sein? Aber es war nicht zu leugnen: Ein Teil von ihr hätte sich darüber gefreut, eine Nachricht von ihrer Familie – von Pasquale – zu erhalten. Was ja total dumm war. Es wusste ja niemand außer Tiziana, der sie eine SMS geschickt hatte, wo sie sich aufhielt. Ob sie wohl …? Aber nein! Sie konnte Tiziana vertrauen.

Wer aber kam sonst als Absender infrage? Und warum zögerte sie den Moment so weit hinaus, das Kuvert zu öffnen? Obwohl sie so neugierig war, schaffte sie es einfach nicht.

Um sich selbst zu beruhigen, ging Pia erst einmal wieder hinaus, setzte sich, atmete.

»Ist doch nur ein Brief!«, schimpfte sie ein bisschen mit sich selbst.

Ja. Ein Brief. Den irgendwer mitten in der Nacht unter ihrer Zimmertür durchgeschoben hatte. Was war denn bitte so wichtig, dass man damit nicht bis zum nächsten Tag warten konnte? Pia war sich nicht sicher, das wissen zu wollen. Dennoch beobachtete sie ihre Hände dabei, wie sie den Umschlag öffneten und ein Karte herausnahmen.

Pia,

»Ganz und gar man selbst zu sein

kann schon einigen Mut erfordern.«

– Sophia Loren –

Hast du Mut, cara Pia?

Marcello

P. S. Giulietta aus der Osteria ist ganz begeistert von dir. Sie hat angerufen und lässt fragen, ob du bei ihr arbeiten willst.

Pia ließ die Karte sinken.

Giulietta.

Unwillkürlich musste Pia wieder an die imposante Frau denken. Und das Lob, das sie von ihr erhalten hatte.

»Das machst du wirklich gut, bellezza«, hatte Giulietta während des gemeinsamen Kochens mit etwas Verwunderung in der Stimme zu ihr gesagt. An Marcellos Blick hatte Pia erkannt, dass eine derartige Bemerkung wohl eher eine Seltenheit war.

Bei Giulietta arbeiten.

Gemeinsam mit ihr römische Artischocken zubereiten, wie sie es erst vor ein paar Stunden gemacht hatten.

»Schön. Und jetzt legen wir sie ins Zitronenwasser, damit sie sich nicht hässlich verfärben«, hatte Giulietta geduldig erklärt und dabei ihre dicken Arme verschränkt.

»Das Öl darf nicht zu heiß sein, sonst verbrennt die Außenschicht und innen bleibt die Artischocke roh«, erinnerte Pia sich weiter an die vielen Anweisungen, die sie von Giulietta bekommen hatte.

Und plötzlich erschien ihr der Gedanke, bei Giulietta zu arbeiten, möglich. Gar nicht mehr absurd.

Mut?

Ja, auch dazu brauchte es Mut. Der ihr vermutlich fehlte.

Aber man konnte das doch sicherlich erlernen, Mut zu haben, nicht? Eigentlich war es doch schon mal ganz schön mutig, hier in Rom gelandet zu sein. Okay, manch einer würde ihre Handlung vielleicht als kapriziös bezeichnen. Doch so einfach war das nicht.

Was für eine Lawine an Überlegungen!

Noch nie hatte Pia sich selbst so sehr unter die Lupe genommen wie nach Marcellos Brief. Ihm hatte ein Satz gereicht, um das Dilemma auf den Punkt zu bringen.

Wie war das denn möglich, dass ein komplett Fremder sie innerhalb kürzester Zeit so gut verstand? Nach einem einzigen Gespräch im Zug und dem gemeinsamen Abend bei Giulietta, an dem sie ab und zu auf seine gezielten Fragen nach ihrer familiären Situation geantwortet hatte. War Marcello besonders clever? Oder verhielt sich die Sache umgekehrt – hatte ihre Familie ihr einfach zu wenig Beachtung geschenkt und dabei nicht bemerkt, wie sehr sie sich verändert hatte? Natürlich veränderte man sich mit der Zeit. Natürlich musste man im Leben auch Prioritäten setzen und seine eigenen dabei manchmal zurückstellen. Aber das hieß ja nicht, dass man sich in dem ganzen Prozedere komplett selbst verlieren musste.

Hast du Mut, cara Pia?

Und?

Pia hatte das Gefühl, sich selbst eine Antwort schuldig zu sein. Vermutlich hatte Marcello die Frage aus genau diesem Grund gestellt.

Also holte sie tief Luft, blickte sich wieder um. Sie hatte beinahe vergessen, wo sie sich befand. Nur langsam kehrte das Bewusstsein, in Rom zu sein, wieder zurück. Peng. Ihr Herz machte einen Satz. Verdammt, ja! Das war mutig. Und vielleicht konnte sie es schaffen, diesen Mut weiter auszubauen.

Pia ging zu Bett.

Aber an Schlaf war weiterhin nicht zu denken. Denn dieser neu errungene Mut stellte sie auch vor die Frage, wie man sich denn nun fremden Männern gegenüber verhielt, die nachts vor der Zimmertür standen. Marcellos offensichtliches Interesse schmeichelte ihr, das konnte sie gar nicht leugnen. Aber nur, solange ein gewisser Sicherheitsabstand eingehalten wurde.

»Leidest du an Schlaflosigkeit?«

Pia beäugte Marcello im Licht des römischen Morgens. Er sah eigentlich ganz frisch aus. Ausgeruht. Und er duftete so angenehm und nicht die Spur aufdringlich nach einem Parfum, das sie auf unerklärliche Weise an sein Hotel erinnerte. Blumig, edel, traditionsbewusst.

»Wie kommst du denn darauf?«, beantwortete er die Frage mit einer amüsierten Gegenfrage. Dass seine dunklen Augen dabei geradezu funkelten, zeugte von seiner guten Laune. »Na, so normal ist das ja nicht, dass du mir mitten in der Nacht Briefe vorbeibringst …«

Sie hatte ihrer Aussage einen scherzhaften Ton geben wollen, war sich aber nicht sicher, ob ihr das tatsächlich gelungen war. Dennoch fand sie es erschreckend einfach, ganz ehrlich zu Marcello zu sein. Mit ihm zu reden – das war … gut. Es tat ihr gut.

Marcellos Gesicht zeigte keine Emotionen. Nur seine Lippen bewegten sich leicht. Als würde er versuchen, nicht zu lächeln. Da! Jetzt sah man sie doch, die winzigen Fältchen um seine Mundwinkel.

»Normal«, er machte eine kurze Pause, »das ist doch wohl ein ziemlich dehnbarer Begriff, oder?«

»Vero. Das stimmt«, gab Pia ihm recht und versuchte, mit ihm Schritt zu halten.

»Du bist eine kluge Frau, Pia.«

Was hatte das denn jetzt zu bedeuten?

Klug?

Naja, dachte Pia. Sie hätte das jetzt nicht als ihre hervorstechendste Eigenschaft bezeichnet. Aber wenn Marcello …

Zu spät merkte sie, dass er abrupt stehen geblieben war, sodass sie ein paar Schritte zu ihm zurückgehen musste. Der Wind wehte ihm eine Haarsträhne ins Gesicht, die er souverän wieder an die richtige Stelle schob. Rhett Butler, schoss es Pia durch den Kopf. Neben diesem Mann kam sie sich manchmal vor wie ein kleines Mädchen. Marcello war groß und hatte eine beeindruckende Figur. Lange Arme und feingliedrige Hände, mit denen er sicherlich ganz wunderbar Klavier spielen könnte.

»Will dir vielleicht jemand einreden, dass du es nicht bist?«, fragte er jetzt und fuhr sich mit dem Finger in den Kragen, um das hellblaue Hemd ein wenig zu lockern, das sich effektvoll von seiner gebräunten Haut abhob. Da musste Pia erst einmal nachdenken. Die Antwort gefiel ihr nicht.

»Am meisten wohl ich selbst …«

»Dann rede dir diesen Quatsch gleich wieder aus. Du bist sehr wohl klug. Und allemal klug genug, um meinem Brief die richtige Bedeutung beizumessen«, sagte er jetzt betont liebevoll, wobei er seiner tiefen Stimme noch mehr Wärme verlieh.

Dann ging er einfach weiter. Und Pia musste fast rennen, um ihn einzuholen.

»Hast du es eilig?«

Marcello schaute auf seine Armbanduhr, die von exzellentem Geschmack zeugte und golden auf seinem Arm funkelte.

»Ein wenig.«

Er hatte nicht verraten, wohin er sie führen wollte. Aber es ging ganz eindeutig in Richtung Fluss.

»Schwimmzeug habe ich nicht dabei.«

Pia sagte irgendetwas, ohne groß darüber nachzudenken. Sie wollte die Atmosphäre etwas auflockern.

»Schade«, kommentierte Marcello trocken. »Schwimmzeug wäre sicher von Nutzen. Aber es wird auch ohne gehen.«

»Was?«

Endlich hielt Marcello an und reichte ihr die Hand.

»Komm schon, Pia, entspann dich. Es wird ein wundervoller Tag werden.«

Und wieder sollte Marcello recht behalten.

Es wurde ein wundervoller Tag. Und gleichzeitig ein lehrreicher.

Ja, Pia lernte zum Beispiel, dass sie, als Kind des Meeres, Flusswasser fürchtete. Was Marcello unheimlich amüsierte. Gemeinsam mit Unmengen von Touristen teilten sie beide sich ein Plätzchen auf dem neongelben Linienschiff, und Pia vergaß bei der ungewohnten Perspektive auf Rom ihre unbegründete Furcht fast sofort. Beeindruckende Brücken führten ihr einmal mehr die historische Imposanz dieser Stadt vor Augen. Und der Tiber fügte sich so geschmeidig und sanft in die verschiedenen Zonen der Stadt, dass man fast den Eindruck bekam, er wäre erst nachträglich hinzugefügt worden, obwohl in Wahrheit die Stadt um ihn herum entstanden war.

Als sie der Tiberinsel, von der Marcello bereits erzählt hatte, näher kamen, stand Pia auf.

»Können wir uns die Insel irgendwann genauer ansehen?«

»Sicher.«

Dass die Insel sie ein bisschen an Marina erinnerte, erwähnte Pia dabei nicht. Auch nicht, dass sie in Gedanken kurz ganz weit weg war.