Kapitel 18

Pia wollte nicht nach Hause.

Einige Momente stand sie unentschlossen vor der Haustür ihrer Schwiegermutter. So lange, bis ihre Füße sie in eine Richtung trugen, die Pia selbst am wenigsten erwartet hätte.

Camerota war zu dieser Uhrzeit wie leergefegt. Wenige Behausungen waren im Ortszentrum von innen beleuchtet. Pia hatte das Gefühl, dass Camerota langsam ausstarb, und irgendwie erkannte sie sich selbst darin. Auch sie starb gewissermaßen aus. So fühlte sie sich zumindest gerade.

Inzwischen hatte sie die offene Piazza erreicht, auf die sie zugesteuert war. Sie war schon ewig nicht mehr hier gewesen. Und dem Ort war anzusehen, wie die Zeit vergangen war. Keiner pflegte die Piazza. Dafür lag sie viel zu weit oben. Selten verirrte sich jemand hierher. Es gab auch nicht viel zu sehen. Außer der Burgruine, die so runtergekommen war, dass man ihre einstige Pracht nur noch erahnen konnte. Ein einziger Turm hatte es fast unbeschadet über die Jahrhunderte geschafft. Der Wachturm, der in Verbindung zu den Türmen an der Küste gestanden hatte, die immer wieder mit Rauch oder durch Spiegelreflexe Alarm geschlagen hatten. Wenn sich Piratenschiffe am Horizont zeigten.

Pia schob wild wachsendes Unkraut beiseite und war doch etwas überrascht. Es gab sie noch immer. Die Bank.

Lange Zeit war das ihre Bank gewesen. Der Mond schien hell, und Pia wusste genau, wo sie zu suchen hatte. An der Lehne. Direkt in der Mitte. Da war ein Herz eingeritzt.

P + P = Amore eterno

Das stand da.

Pia spürte, wie sich ihr Gesicht unwillkürlich zu einem breiten Lächeln verzog. Was war das doch für ein wunderbarer, unvergesslicher Abend gewesen. Der Abend, an dem Pasquale offiziell um ihre Hand angehalten hatte. Sie waren gemeinsam spazieren gegangen. Allein sein. Das war damals ihre erste Priorität gewesen. Und diese Piazza hatte ihnen schon damals etwas Privatsphäre geboten.

Pasquale war zu der Zeit ein total romantischer Bursche gewesen, und Pia erinnerte sich fast noch an jedes Wort, sogar an seine Mimik, die sie so unwiderstehlich gefunden hatte.

»Setz dich, Signora Pia, und mach deinen Kopf ganz leer!«

»Wie soll ich denn das anstellen, Pasquale? Ich denke doch immer gleichzeitig an so viele Sachen.«

»Eben. Aber jetzt sollst du an gar nichts denken. Entspann dich und schau in den Himmel. Kannst du sie sehen, die vielen Sterne?«

Die Sterne, ja. An jenem Abend hatten sie sich von ihrer besten Seite gezeigt. Dicke Lichttupfer auf schwarzer Leinwand. Nie waren sie Pia greifbarer erschienen. Und mit Sternen kannte sie sich ein bisschen aus. Ihr nonno hatte immer versucht, ihr die Konstellationen näherzubringen, an denen er sich auf dem Meer orientierte. Aber Pia war keine besonders gute Schülerin gewesen. Jedenfalls nicht in diesem Fach.

»Sie sind wunderschön.«

»Nichts im Vergleich zu deiner Schönheit.«

Pia hatte verlegen gekichert. Komplimente annehmen war ihr nie leicht gefallen. Aber Pasquale hatte ihre Hand genommen und sie gestreichelt.

»Du bist die schönste Frau, die mir je über den Weg gelaufen ist, Signora Pia. Und das meine ich ernst. Ich fühle mich geehrt, dass du dich überhaupt mit mir abgibst.«

Mit der freien Hand war Pia Pasquale über das Gesicht gefahren. Zärtlich. Liebevoll.

»Weißt du eigentlich wie schön du bist?«

»Ich?«

Da. Sein Lachen. Das schönste Lachen auf der Welt.

»Ja, du!«

»Nein, ich bin nicht schön. Aber ich bin stark.« Er hatte zum Beweis seinen Arm hochgehalten und seine Muskeln gezeigt. »Und weißt du, was das Beste ist? Zusammen können wir noch stärker sein. Unbesiegbar.«

Pia hatte genickt. Sich die Worte durch den Kopf gehen lassen. Gemeinsam stark. Irgendwie war ihr dieser Gedanke ganz wunderbar erschienen. Und sie hatte sich an ihren Pasquale gelehnt. Seinem Herzschlag gelauscht. Gemeinsam. Auf der kleinen Bank. Im mittelalterlichen Borgo von Camerota. Am Fuße der Burgruine.

Wieso saß sie dann jetzt alleine hier?

Pasquale hatte recht gehabt. Gemeinsam waren sie unbesiegbar. Aber es schien Pia, als wären sie inzwischen auf Parallelen gelandet, die ganz, ganz nah beisammen waren. Leider, ohne sich dabei jemals zu berühren. Wie schrecklich, dass ihr das erst jetzt bewusst wurde.

»Pia?«

Sie schrak auf, hatte niemanden gehört oder gesehen. Die Nacht hatte den Besucher geschluckt. Was wohl an der Farbe seiner Kleidung liegen musste.

»Don Rosario. Spaziergang?«

Der Priester kam näher, setzte sich, ohne zu fragen, ob er denn durfte.

»Ich mag die Ruhe hier oben.«

»Ja. Und die Sterne.«

Don Rosario blicke gen Himmel.

»Stimmt«, gab er nach einer Weile zu. »Möchtest du dich mir anvertrauen?«

Dazu schwieg Pia so lange, bis sie beinahe vergessen hatte, was die Frage gewesen war. Erst als Don Rosario ihr eine Hand auf das Knie legte, schüttelte sie den Kopf.

»Gut, Pia. Aber verliere niemals den Mut. Es gibt immer einen Weg. Egal, was das Problem ist. Manchmal findet man die Lösung sogar, wo man sie am wenigsten erwartet. Direkt vor der Nase.«

Eine ganze Weile lang saßen die beiden schweigend nebeneinander. Und Pia gelang es tatsächlich, ihren Kopf komplett frei zu machen. Genau so, wie Pasquale es vor vielen Jahren von ihr verlangt hatte. Don Rosarios regelmäßiger Atem störte sie dabei nicht die Spur. Ganz im Gegenteil.

»Danke.«

Mit diesem einfachen Wort verabschiedete sich Pia.

Pasquale lag auf der Couch, als sie zu Hause eintraf. Er sprang aber gleich auf, als er sie hörte.

»Wo warst du denn so lange, Signora Pia?«

Sie ging ganz nah zu ihrem Mann hin, lehnte die Stirn an seine breite Brust. Sein Duft war so vertraut. Er schlang die Arme um sie, was sich himmlisch anfühlte.

»Ich war auf unserer Bank.«

Ja, dachte Pia. Sie würde ihrem Mann von der kurzen Reise in die Vergangenheit erzählen. Und dann wollte sie sein Gesicht sehen, wenn er sich daran erinnerte. Wenn er dieses Gefühl mit ihr teilte.

»Welche Bank?«

Pasquale war sichtlich verwirrt. Mühsam gelang es Pia sich zusammenzureißen. Natürlich, sie konnte Pasquale keinen Vorwurf daraus machen, dass er erst einmal nicht verstand, um welche Bank es ging. Immerhin war sie ja weggegangen, um mit Sandrina zu sprechen.

Also ließ sie von ihrem Mann ab, setzte sich auf die Couch, klopfte mit der Hand auf den freien Platz neben sich.

»Der Heiratsantrag. Die Bank mit dem Herz und unseren Initialen darauf.«

Jetzt aber! Nach dieser Erläuterung musste es bei Pasquale doch klingeln.

Sein Gesicht zeigte noch immer Verwirrung.

»Ich verstehe kein Wort. Du wolltest doch zu mamma, oder nicht?«

Das verstand sie schon, dass er dringend wissen wollte, welches Urteil seine Mutter ausgesprochen hatte. Trotzdem verletzte es sie, wie wenig Pasquale sich dafür interessierte, was es mit der Bank auf sich hatte.

»Ich war bei ihr.«

Pia suchte nach der richtigen Art und Weise, Pasquale die Pille zu versüßen.

»… und was hat sie gesagt?«

»Dass Ermanno das Land braucht, um dort Gemüse für das Restaurant anzubauen.«

»Tut er nicht.«

»Ich weiß.«

Er schlug so hart auf den Wohnzimmertisch, dass die Fernbedienung herunterfiel und aufbrach. Dann schauten Pia und Pasquale gemeinsam der Batterie nach, die aus dem Gerät gesprungen war, jetzt über den Boden rollte und erst stoppte, als sie an der Tür angelangt war.

»Es tut mir leid, Pasquale.«

Pasquale ging ein paar Schritte auf und ab, hob die Batterie vom Boden.

»Ich wollte … Ich meine … Ach, schon gut.«

»Ist es nicht, Pasquale. Und als krönenden Abschluss hat deine Mutter mir mitgeteilt, dass sie zu uns ziehen wird.«

»Sie will zu uns?«

»Sieht so aus. Rede mit ihr.«

»Was soll ich ihr denn sagen?«

»Ja, keine Ahnung. Dass sie zu Ermanno soll.«

»Bestimmt hat sie das nur so dahergesagt.«

»Mir kam das nicht so vor.«

»Mal jetzt nicht gleich den Teufel an die Wand, ja?«

»Pasquale, du musst das klären. So schnell wie möglich. Ich will nicht, dass sie plötzlich mit einem Koffer bei uns vor der Tür steht.«

»Das wird sie nicht. Vertrau mir.«

Der letzte Satz raubte Pia schier den Atem. Weil sie es nicht konnte. Ihrem Mann vertrauen.

Wütend und enttäuscht – weil sie das Gefühl hatte, dass es einfach keine Worte gab, die diese Situation klären konnten – ließ sie ihn einfach stehen und ging hinauf in ihr Zimmer. Wo sie aber erst Stunden später in einen unruhigen Schlaf fiel.

»Mamma

Pia wusste nicht so recht, ob sie träumte oder wach war, aber sie hielt definitiv einen Hörer ans Ohr. Den vom Haustelefon, das eigentlich nie jemand benutzte. Es stand im ersten Stock im Flur. Gleich bei Pasquales und ihrem Schlafzimmer. Pia musste sich abstützen, ihr war ganz schwindelig. Wie war sie hier gelandet? Das Letzte, an das sie sich erinnern konnte, war, dass sie sich nach dem Streit mit Pasquale schlafen gelegt hatte. War sie so schnell aus dem Bett gehüpft?

»Miriana?«

Wie spät war es? Was war nur los?

Pia fror.

Zitterte am ganzen Körper.

Sie hörte es am anderen Ende der Leitung schluchzen.

»Madonna mia! Was ist los, Kind? Bist du verletzt?«

Ganz lange ging das Schluchzen weiter. Pia konnte die bitteren Tränen förmlich am Gesicht ihrer Tochter entlanglaufen sehen.

Sie ließ sich an der Wand herunterrutschen. Lauschte weiter. Versuchte etwas zu hören, was nicht ihrem eigenen Herzschlag glich.

»Mamma

»Kind, bitte, erklär mir, was los ist!«

Pia wollte nicht schreien. Sie wusste, dass das bei ihren Kindern rein gar nichts nutzte.

»Mamma. Singst du das Lied für mich?«

»Welches Lied, mein Schatz? Welches?«

Jetzt kämpfte Pia selbst mit den Tränen.

»Unser Lied, mamma. Bitte.«

Pia versuchte sich zusammenzureißen. Wenigstens wusste sie, um welches Lied es sich handelte. Ein selbsterfundenes Kinderlied, das sie Miriana als kleines Mädchen immer vorgesungen hatte. Aber der ganze Rest? Den verstand sie überhaupt nicht. Das Warum dieser seltsamen Bitte. Mitten in der Nacht.

Dennoch. Pia sang. Wenn ihr Kind sie darum bat, tat sie es. Mit zittriger Stimme, aber mit all der Liebe, die in ihr steckte.

Sie merkte, wie das Schluchzen auf der anderen Seite leiser wurde. Selbst Mirianas Atem schien sich zu beruhigen.

»Miriana. Bist du in Ordnung?«

»Jetzt ja. Schlaf gut, mamma. Ti amo

Und – klack – war sie aus der Leitung verschwunden.

Was um alles in der Welt war denn das gewesen?

Lange starrte Pia auf den Hörer in ihrer Hand. Sie rappelte sich erst auf, als ihr so kalt war, dass aus dem Zittern richtiges Schlottern wurde.