Camerota, Ende September
Don Rosarios Plan besagte, dass er Sandrina einen Besuch abstatten sollte. Das machte er routinemäßig, um den Hinterbliebenen Trost zu spenden. Er mochte den direkten Kontakt und hatte mehr als einmal bemerkt, dass er wirklich in der Lage war, Menschen zu ermutigen, ihnen neue Hoffnung zu geben. Dennoch merkte er, wie er versuchte, sich vor diesem Hausbesuch zu drücken. Sandrina machte ihn mit ihrer Litanei schläfrig. Sie ließ es kaum zu, dass er mal zu Wort kam. Und das war ja nicht Sinn der Sache. Don Rosario seufzte. Erhob sich mühsam. Stellte das Tässchen in der Spüle ab und gab sich einen Ruck. Heute stand Sandrina auf dem Plan und basta.
Kaum hatte Don Rosario die Tür hinter sich zugezogen, da hörte er seinen Namen. Unwillkürlich zuckte er zusammen. Ihm fiel der Schlüssel aus der Hand, was ihn reichlich nervte. Aber er fluchte nicht. Und war allein deshalb schon sehr stolz auf sich.
»Buongiorno, gut, dass ich Sie noch erwische!«
Antonio.
Na, dann konnte der sich jetzt bücken. Don Rosario zeigte nur stumm auf den Schlüssel am Boden, und Antonio verstand, hob den Schlüssel auf und reichte ihn Don Rosario, der ihn sicher in der Hosentasche verstaute.
»Buongiorno. Wieso? Ist was?«
»Nein, nein.«
Schweigen.
Aber Don Rosario kannte Antonio lange genug, um ihm an der Nasenspitze anzusehen, dass etwas im Busch war.
»Na gut, Antonio. Ich muss ohnehin los«, pokerte er, um doch noch zum Ziel seiner Neugierde zu gelangen.
»Ich begleite Sie …«
»Von mir aus.«
Zwei Türen weiter begann Antonio zu sprechen.
»Gestern war ich auf der Piazza.«
»Aha.«
»Es war warm, die Kinder saßen im Schatten.«
»Und?«
»Und dann ist die Signora Tiziana vorbeigekommen.«
Instinktiv horchte Don Rosario auf.
»Mhm.«
»Sie war nicht allein.«
Es wurde langsam interessant.
»Sondern?«
»In Begleitung eines Ausländers.«
Don Rosario brauchte sich nicht zu erkundigen, um welchen Ausländer es sich handelte.
William.
Das war ihm ohnehin schon klar.
Töricht, dass er auch nur angenommen hatte, dass William und Pia … Nein, diesen Gedanken wollte er gar nicht zu Ende denken. Einfach absurd. Pia liebte ihren Pasquale.
Antonio strahlte. Und Don Rosario verbarg nicht, dass er sich freute, wenn Antonio für ihn den Spitzel spielte. Vier Augen sahen mehr als zwei.
»Verstehe. Gut gemacht, Antonio. Komm, ich spendiere dir etwas an der Bar.«
Nicola schenkte Antonio Bier ein, kratzte sich dabei an der Stirn. Er überlegte wohl.
»Don Rosà, gestern, da war übrigens dieser Amerikaner wieder da.«
Antonio und Don Rosario wechselten einen Blick.
»Ach ja?«
»Ist er irgendwie mit der Signora Tiziana verwandt?«
»Nicht, dass ich wüsste. Wieso?«
»Na, sie waren ziemlich vertraut.«
»Inwiefern?«
Nicola hob die Schultern, stellte dann Tassen in die alte Spülmaschine.
»Na, Sie wissen schon. Vertraut-vertraut.«
Don Rosario grinste in sich hinein. Die Männer von Camerota hatten einen ausgeprägten Beschützerinstinkt ihren Frauen gegenüber. Was sie natürlich nicht einmal unter Folter zugeben würden.
»Danke für die Information, Nicola. Ich bin mir sicher, Tiziana weiß, was sie tut.«
»Hm. Ich weiß nicht. Sie kennt sich doch gar nicht aus mit Ausländern. Die sind immer alle so eingenartig Was ist, wenn er ihre Ehre kompromittiert?«
»Du machst dir Sorgen um Tizianas Ehre, ja? Und um ihr Glück kümmerst du dich nicht, was, Nicola?«
Nicola schluckte ein paar Mal.
»Naja, ich mein ja nur …«
Don Rosario verließ die Bar wenig später. Seine schlechte Laune wegen des Besuchs bei Sandrina war wie weggeblasen. Er freute sich für Tiziana. Sie war so lange allein gewesen. Ein bisschen Aufmerksamkeit von dem netten Amerikaner konnte da gar nicht schaden. Etwas Ernstes würde ja ohnehin nicht daraus werden. Der Amerikaner musste irgendwann abreisen, und Tiziana würden die Erinnerungen an ihre gemeinsam verbrachten Tage eine Weile lang warmhalten. So war das im Leben.
Und Don Rosario wollte heute plötzlich besonders nett sein und Sandrina sogar eine Kleinigkeit mitnehmen. Ninetta würde schon etwas für die Alte haben.
Ausnahmsweise traf Don Rosario Ninetta mal im Laden an. Sie hatte weder Gesichtscreme noch Lockenwickler auf und sah dabei eigentlich ganz ordentlich aus.
»Ich brauche eine Kleinigkeit für Sandrina.«
»Ach, das ist ja ein Zufall. Sie war gestern selbst hier.«
»Tatsächlich?«
»Ja.«
Kurzes Schweigen.
»Was hat sie denn gekauft? Ich meine … damit ich ihr nicht dasselbe kaufe.«
»Selbstgemachte Seife. Die von der alten Costanza. Da schwört Sandrina ja drauf.«
»Na, selbstgemachte Seife hätte ich ihr mit Sicherheit nicht mitgenommen.«
»Ja, ich habe auch gar keine mehr. Sie hat alles aufgekauft, weil Pia ja nur Waschmittel aus dem Supermarkt benutzt.«
»Was hat Pia denn mit Sandrinas Seife zu tun?«
Ninetta hob in gespielter Unwissenheit die Achseln.
»Weiß ich doch nicht.«
Irritiert gab Don Rosario sich geschlagen. Er wurde gerade nicht schlau aus dieser Seifen-Geschichte.
»Suchen wir ihr einfach etwas anderes, ja?«
»Klar. Aber Sie müssen dann wahrscheinlich zu Pia.«
Wieso schon wieder Pia?
»Sandrina zieht doch jetzt zu ihr!«, rückte Ninetta endlich mit der Neuigkeit heraus.
Diese Information erschlug Don Rosario fast. Sofort überrollte ihn eine Welle des Mitleids. Er konnte sich fast bildlich vorstellen, wie es sein musste, mit so einer uneinsichtigen Person wie Sandrina zu leben. Die reinste Tortur. Das hatten Pia und Pasquale nicht verdient.
»Wollen Sie ihr trotzdem etwas kaufen?«, mischte Ninetta sich mit ihrer penetranten Stimme wieder in seine Gedanken. »Ich muss ja gestehen, dass ich nicht viel hier habe im Moment. Gestern habe ich nicht nur die gesamte Seife verkauft, sondern noch viel mehr. Ein Amerikaner war da.«
»Mit Tiziana.«
Eine Feststellung.
»Genau. Sie haben davon schon gehört?«
Ninetta wirkte beinahe empört.
»Ja. Davon habe ich schon gehört.«
William wusste, dass er dabei war, sich zu verlieben. Und er wusste das so genau, weil es schon so lange nicht mehr passiert war. Dieses Kribbeln. Das Herzklopfen. Die Anziehungskraft. Und die schwindende Vernunft. Alles alte Bekannte, von denen er nicht gedacht hätte, dass er sie noch mal wiedertreffen würde.
Das kühle Nass tat gut auf seiner Haut. Jede Armbewegung, die ihn weiter hinaus brachte und ihn körperliche Anstrengung kostete, machte seinen Kopf freier. Frei von Seattle, frei von Harris Constructions. Aber nicht frei von Tiziana. Irgendwie hatte er den Eindruck, dass diese beiden Welten nicht zusammen in seinem Kopf bestehen konnten. Sie schlossen sich gegenseitig aus. Denn ganz rational betrachtet, war Tiziana einfach nicht kompatibel mit seinem Leben. Seinem Leben in Seattle.
Trotzdem kreiste seit gestern jeder seiner Gedanken um sie.
Tiziana.
Es war ihre Weiblichkeit, die ihn schier wahnsinnig machte. Sie hatten nichts Besonderes unternommen. Einen Spaziergang durch Camerota. Aber William hatte irgendwo einmal gelesen, dass man besondere Menschen daran erkannte, dass ihre Besonderheit auf das Umfeld abfärbte. Wo sie auch hingegangen waren, hatte sich die Welt verwandelt. Mit Tiziana hatte sogar dieser kleine Laden – Arte Camerotana oder so – gewirkt wie ein Palast.
Und sie hatte sich gar nicht aufgedrängt, nein, vielmehr hatte sie ihn mit freundlicher Distanz behandelt. Aber an dem verräterischen Blitzen in ihren Augen hatte er sehr wohl erkannt, dass auch sie etwas für ihn empfand.
Ein Spiel.
Ja, William hatte den Eindruck, dass ein Spiel begonnen hatte, zwischen ihm und Tiziana. Er kannte das Spiel. Es war so alt wie die Menschheit selbst.
Er machte kehrt, schwamm nun wieder in Richtung Strand. Es tat so gut, wie das Meereswasser sich um seinen Körper schmiegte. Und es tat so gut, sich einfach gleiten zu lassen. Er war entspannt wie schon lange nicht mehr. Vielleicht konnte er sich diesen Zustand antrainieren.
Wie um sich selbst auf die Probe zu stellen, tauchte William ab. Das Wasser war paradiesisch klar. Ohne Mühe konnte er bis auf den Grund blicken. Fische bewegten sich flink unter ihm. Er hatte große Lust sie zu fragen, was sie von Tiziana hielten. Ja, er hatte große Lust, mit jemandem über dieses prickelnde Gefühl zu sprechen, das ihn erfüllte. Er hatte sogar schon überlegt, Bruno anzurufen, es letztendlich aber doch gelassen.
Pia.
William tauchte wieder auf.
Ja, vielleicht konnte er mit Pia reden.
Pasquale war zu Hause geblieben. Sie hatten geredet. Den ganzen Vormittag lang. Aber irgendwie aneinander vorbei. Pia hatte ihm von dem nächtlichen Telefonat mit Miriana erzählt und ihn noch einmal darum gebeten, mit Sandrina über ihre Umzugspläne zu sprechen. Und Pasquale hatte gefragt, was sie davon hielt, wenn sie einen Teil des Erdgeschosses für Touristen ausbauen würden.
»Hier in unserem Haus kann niemand uns etwas sagen«, argumentierte Pasquale und kritzelte irgendwelche Raumaufteilungen auf ein Papier.
»Ja, aber so ein Umbau mitten im Haus wird anstrengend. Wir wohnen ja hier.«
»Ach, das machen wir ganz schnell. Vielleicht kann Matteo mir helfen. Und der Amerikaner hat sowieso angeboten, dass er mir ein paar Tipps gibt.«
»Ich muss sagen, ich bin nicht wirklich begeistert.«
»Geht das auch ein bisschen genauer? Wenig begeistert, also nein?«
»Dio santo, Pasquale, lass mir ein paar Tage Zeit, um darüber nachzudenken.«
Pasquale warf ungehalten seinen Stift quer über den Tisch, an dem sie saßen. Er landete bei Pia auf dem Schoß, und sie hätte ihn liebend gerne genommen und Pasquale an den Kopf geschmissen.
»Tut mir leid«, hatte ihr Mann dann aber schnell gesagt und entschuldigend die Hand gehoben.
»Ich sage ja nicht Nein, Pasquale. Aber es gibt doch im Moment wahrlich Dringenderes zu besprechen. Was willst du, zum Beispiel, in Sachen Sandrina tun?«
Pasquale hatte vom Papier aufgesehen, auf dass, er sich wieder konzentriert hatte.
»Gar nichts. Du hast da bestimmt irgendetwas falsch verstanden.«
»Dauernd unterstellst du mir, dass ich Dinge falsch verstehe. Glaubst du, ich bin blöd?«
»Das glaube ich natürlich nicht. Aber ich denke, dass dich die Tatsache, dass Miriana ausgezogen ist, komplett aus der Bahn geworfen hat. Du telefonierst nur noch mit ihr herum …«
»Und warum sagst du das mit einem vorwurfsvollen Ton?«
»Weil ich glaube, dass du sie nicht dauernd bemuttern sollst. Auf Distanz ist das nicht gut. So lernt sie nie zurechtzukommen.«
»Aha. Dann hältst du mich also für eine schlechte Mutter?«
»Das habe ich nie gesagt.«
Pia schlug jetzt hart mit der Hand auf den Tisch.
»Aber du denkst es!«
Sie kam gerade nicht richtig mit. Wie waren sie denn bitte in dieses Streitgespräch geraten?! Und was für Wahrheiten kamen hier plötzlich ans Licht?!
Pasquale überlegte lange, bevor er antwortete.
»Ich denke, wir hätten strenger zu Clem sein sollen. Auf sein Studium bestehen. Und Miriana, die muss ihre eigenen Fehler begehen. Andernfalls wird sie nie zu einer starken, unabhängigen Frau.«
»Ach, tatsächlich? Und wieso klingt das wie ein stummer Vorwurf an mich?«
Pia sprang auf und begann durchs Zimmer zu tigern.
»Signora Pia, ich mache dir keine Vorwürfe … Aber ich weiß, dass du dir selbst welche machst!«
Diese Aussage traf Pia hart. Weil ihr klar wurde, dass Pasquale den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Müde fuhr sie sich durchs Haar.
Sie setzte sich wieder, wollte das klären. Mit Pasquale. Mit sich selbst.
Aber es kam nicht dazu, denn es klingelte unerwartet an der Tür.