Kapitel 20

Rom, Mitte Oktober

Das Schminktischchen in Pias Hotelzimmer war ganz reizend. Zuerst hatte sie nur einige persönliche Gegenstände darauf abgestellt. Ihre Bürste zum Beispiel. Tiziana hatte so lange auf sie eingeredet wegen dieses monströsen Keramik-Dings mit Ionen-Technologie – was auch immer das bedeutete –, dass Pia sie halt genommen hatte, diese enorme Bürste. Ihr Haar wirkte dadurch auch nicht anders als sonst. Ein stinknormaler Kamm wäre bestimmt auch bequemer gewesen. Aber Tiziana hatte das Sagen, wenn es um Haare ging. Da ließ sie nicht mit sich reden. Ihre Freundin bestand auch darauf, dass Pia immer gut eingedeckt war mit Make-up und Kajal-Stiften und allerhand schimmernder Lippen-Cremes und dergleichen. Als Friseurin bekam sie unendlich viele Proben, die sie dann tütenweise bei Pia ablud. Doch obwohl Pia all das Material dazu hatte, schminkte sie sich nicht oft. An diesem Abend aber wollte sie es anders machen. Denn sie ging weg. Wohin, wusste sie noch nicht. Es war auch nicht weiter wichtig.

Zum ersten Mal setzte Pia sich daher an den hübschen weißen Schminktisch. Der Hocker war niedlich, fand sie. Mit seinem edlen Bezug, der elegant schimmerte, vermittelte er fast den Eindruck, sich als etwas ausgeben zu wollen, was er eigentlich nicht war. Man saß dennoch sehr bequem darauf.

Nur hatte Pia zunächst Schwierigkeiten, sich direkt im Spiegel anzusehen. Deshalb ließ sie ihre Augen von links nach rechts schwirren, erhaschte dabei nur Teilportraits aus den kleinen Nebenspiegeln, die wie Flügel am etwas größeren Hauptspiegel befestigt waren. Nach einer Weile aber wurde ihre Aufmerksamkeit von dem Gesicht angezogen, das ihr aus dem Hauptspiegel entgegensah, und ihre Augen beruhigten sich allmählich.

Als sie die Frau erkannte, die ihr entgegenblickte, verspürte Pia eine tiefe Rührung, die sie beinahe zum Weinen gebracht hätte.

Pia.

Ja, die Frau, die ihr entgegenblickte, war Pia.

Endlich erkannte sie sich wieder.

»Wo hast du all die Jahre gesteckt, Mädchen?«, fragte sie sich selbst und streckte dabei die Zunge heraus.

Es kam keine Antwort. Natürlich nicht. Eigentlich war es auch nicht so wichtig. Nur schön, dass sie sich wieder zurückgetraut hatte, die Pia voller Lebensfreude; die Pia, die sich Zeit für sich selbst nahm; die Pia, die auch mal wegging; die Pia, die das Meer ebenso sehr liebte wie Rom. Und diese Pia hatte gerade ganz große Lust darauf, ihre hellen Augen zu betonen und ihre Lippen, die auch ohne Lippenstift sehr schön und wohlgeformt waren, mit etwas Gloss zum Glänzen zu bringen. Ihre Haut hingegen, die sich gut gehalten hatte, wollte Pia nicht mit einer schweren Abdeckung belasten, sondern nur hie und da mit etwas Rouge bearbeiten.

Der Effekt war überraschend.

Pia fand, dass sie um Jahre jünger aussah, und dankte im Geiste Tiziana, die sie zu dieser Kurzhaarfrisur überredet hatte. Auch ihr schön geschwungener Hals kam dadurch hervorragend zur Geltung. Tiziana hatte mal wieder recht behalten. Aber was hatten sie diskutiert!

»Du wirst sehen. Ein Kurzhaarschnitt wird dich viel jünger aussehen lassen!«

»Ich will gar nicht jünger aussehen. Und ich mag meine langen Haare.«

»Lange Haare sind out, Pialein!«

»Du hast aber doch lange Haare …«

»Ich habe ja auch nicht dein perfektes Gesicht.«

»Ja genau … perfektes Gesicht …«

»Santo cielo! Diese Frau ist einfach nicht imstande, ein Kompliment anzunehmen.«

»Ach, verdammt, mach es. Aber wenn ich danach aussehe wie eine bescheuerte Matrone, dann wirst du was erleben!«

Die Drohung erwies sich als überflüssig. Denn sie war für diesen Kurzhaarschnitt geboren, wie Pia fand.

»Gar nicht so schlecht!«, lobte sie sich selbst und verließ den Schminktisch, um sich anzuziehen.

»Magst du Musik?«

»Klar.«

»Singst du auch? Unter der Dusche oder so?«

Marcello sah sie mit einem Augenzwinkern an. Sie wurden von einem Fahrer mit dem Hotelwagen irgendwohin gefahren. Ja, dachte Pia. An diese Art von Luxus konnte sie sich eventuell gewöhnen.

»Hm. Unter der Dusche weniger. Manchmal habe ich für meine Kinder gesungen, als sie noch klein waren. Schlaflieder und dergleichen. Aber jetzt sind sie viel zu groß dafür, wobei …«

Pia brach den Satz ab, schaute durch die Scheibe nach draußen. Sie mochte die Lichter der Stadt, die sich an ihr vorbeibewegten. Und sie wollte nicht, dass diese Lichter verblassten, weil sie von dem Gedanken an ihre Kinder, an ihre famiglia – in den Schatten gestellt wurden.

Im Moment bevorzugte sie es, so wenig wie möglich mit der Pia zu tun zu haben, die sie bisher gewesen war.

Viel lieber verharrte sie in diesem aufregenden, kribbelnden Schwebezustand. Mit Marcello, ihrem Retter, der es sogar geschafft hatte, dass sie sich wieder schminkte, nur um in seinen Augen diese ganz subtile Art der Bewunderung zu lesen, wenn er sie ansah.

Das war spannend. Wirkte belebend. Und vor allem war es genau das, was sie jetzt wollte und brauchte.

»Wir sind gleich da«, unterbrach er ihre wirren Gedanken.

Sie hatte nicht aufgepasst, merkte nur, dass der Wagen langsamer wurde. Jetzt erblickte Pia auch eine Leuchtschrift. Und eine Menschenmenge.

Brancaccio.

Oh. Das Theater?

»Santo cielo, du gehst mit mir ins Theater?«

Marcello half ihr galant aus dem Wagen.

»Ich hätte dir die Augen verbinden sollen!«, erklärte er in gespielter Verärgerung.

Dieser einfache Satz ließ sie wohlig erschaudern. Sie liebte es, wie gewandt er mit Worten umgehen konnte, wie perfekt er den Punkt zwischen Spiel und Ernst traf.

»Im Gegenteil. Du hättest mir das viel eher sagen sollen. Dann hätte ich mich besser drauf vorbereitet.«

»Hm. Und wie genau bereitet man sich besser auf einen Theaterabend vor?«

»Na, keine Ahnung. Ich hätte mich über das Stück informiert, das wir uns ansehen.«

»Grease. Nur ein Musical.«

Für Pia war es viel mehr als das. Und das wusste Marcello sicherlich. Darauf ließ das begeisterte Leuchten in seinen Augen schließen. Pia erkannte, dass es ihm Freude bereitete, ihr eine Freude zu bereiten. Und ihr Herz klopfte dabei ganz wild. Ob es ihm ähnlich ging?

»Grease. Mit John Travolta. Kenne ich.«

»Siehst du, passt doch perfekt. Aber natürlich ohne John Travolta.«

»Nein! Grease ohne John Travolta?«, tat Pia ganz verzweifelt.

»Ohne John Travolta. Aber ich bin mir sicher, dass der Protagonist aus dem Musical mindestens ebenso gut aussieht wie das Original.«

»Na hoffentlich.«

»Und wenn nicht, kannst du vielleicht mit mir vorliebnehmen?«

Pia stockte kurz auf dem Weg zum Eingang. Aber nur ganz kurz. Sie musste das wieder lernen, wie man mit einem aufgeregten Herzen umging.

»Spiacente, das kann ich nicht versprechen. Du hast nicht die richtige Frisur. Und ich wette, du kannst weder singen noch tanzen.«

»Aber ich bin zumindest nett …«

»Das stimmt.«

»Na, dann muss das wohl reichen.«

Pia war überrascht, wie modern das Theater wirkte. Klare Linien, interessante Beleuchtung, Holz und rote Theater-Sitze. Und natürlich ein Logenplatz.

»Wie machst du das nur immer? Hast du prophylaktisch Plätze in ganz Rom reserviert?«

Das konnte doch nicht sein, dass Marcello nur mit dem Finger zu schnipsen brauchte, um in seiner Stadt immer alles zu erreichen und zu bekommen.

»Man hat so seine Beziehungen …«

»Aha.«

Pia setzte sich auf ihren Platz und nahm die knisternde Atmosphäre in sich auf. Aus ihrer Position konnte sie hervorragend auf die Bühne sehen, aber auch auf die vielen Menschen, die einen Stock tiefer nach ihren Sitzen suchten. Ob sie wohl auch so aufgeregt waren wie sie? Vielleicht saß da unten ja ebenfalls jemand, für den dieser Theaterbesuch eine absolute Prämiere darstellte. Diesen Gedanken fand Pia schön. Sie wollte ihr Glück gerne mit jemandem teilen.

»Aha? Was soll das denn heißen?«

Marcello hatte sich ebenfalls nach vorne gebeugt, wobei er gar nicht auf die anderen Leute schaute. Sein Blick ruhte auf ihr.

Pia zuckte mit den Schultern und entgegnete: »Aha, weil ich mir schon vorstellen kann, was du mit Beziehungen meinst.«

Sie entfernte sich von dem durchsichtigen Geländer und machte es sich auf dem roten Polster bequem.

»Und was meine ich damit?«

Marcello war jetzt ganz offensichtlich neugierig. Pia machte es Spaß, mit ihm zu spielen. Momentan lebte sie nicht nach irgendwelchen Regeln.

Sie beugte sich leicht zu ihm hinüber und flüsterte: »Du kannst es ruhig zugeben, dass Roms Frauenwelt dir zu Füßen liegt und nur darauf wartet, dass du sie um etwas bittest. Ich habe das schon mitbekommen, wie die Dame an der Kasse förmlich dahingeschmolzen ist, als du um Logenplätze gebeten hast.«

Marcello lachte laut auf.

»Unsinn.«

»Gar kein Unsinn.«

Als Marcello sich räusperte, wurde Pia erst klar, dass sie sich vielleicht etwas zu weit vorgewagt hatte.

Glücklicherweise konnte Marcello aber nichts darauf erwidern, weil das Licht exakt in dem Moment heruntergedimmt wurde, und die nächste Stunde über war Pia kaum ansprechbar. Viel zu sehr genoss sie das Spektakel. Und sie nahm sich gierig all das, was ihr geboten wurde.

»Das war einfach wundervoll!«, begeisterte sich Pia noch immer, obwohl sie schon fast wieder am Hotel angelangt waren.

»Schön, dass es dir gefallen hat.«

»Ich … ich …, ja, toll. John Travolta hin oder her.«

Pia merkte, dass sie mit den Händen fuchtelte und bremste sich ein bisschen. Sie kam sich ja vor wie ein Kind beim ersten Besuch auf dem Rummel. Was hatte sie nur alles verpasst in ihrem bisherigen Leben?

Als der Wagen vor dem Hotel hielt, war sie zwar schon etwas ruhiger, aber längst noch nicht bereit, sich auf ihr Zimmer zurückzuziehen. Natürlich wagte sie es nicht, Marcello um irgendetwas zu bitten. Glücklicherweise bot er sich selbst an. Und das war das Beste an ihm. Sie brauchte gar nichts zu sagen. Er verstand ohnehin.

»Wollen wir den Abend noch bei einem Glas Wein ausklingen lassen?«

»Oh, ja, bitte!«

Obwohl Pia noch immer daran arbeitete, ihren Enthusiasmus in Grenzen zu halten, war sie dennoch begeistert aufgesprungen bei Marcellos Vorschlag.

»Komm. Ich führe dich zu einem meiner Lieblingsplätze«, forderte er sie auf, und Pia ließ sich nur zu gerne bei der Hand nehmen.

Wenn es etwas gab, was sie fast so sehr liebte wie die frühen Stunden auf ihrer Dachterrasse, dann waren das Roms Nächte. Dieses Stimmengewirr. Die Lichter, die der Stadt ein vollkommen neues Gesicht verliehen. Und diese unvergleichliche Atmosphäre, die geradezu berauschend wirkte und den Eindruck vermittelte, dass in dieser Stadt alles möglich war.

Alles.

Sogar, dass Pia, die verheiratete Frau und Mutter aus dem süditalienischen Nirgendwo, eine fantastische Nacht erlebte.

Und die Nacht wurde wahrlich grandios in der kleinen Wine-Bar, gleich am Campo de’ Fiori. Pia verliebte sich sofort in das kleine Lokal, das die Ecke eines alten Gebäudes einnahm und mit seiner charakteristischen Einrichtung Lust auf Wein und noch ganz andere Dinge machte. Offene, wandhohe Vitrinen waren angefüllt mit bunten Flaschen aus der ganzen Welt. Marcello bestellte eine, die so viel kostete, dass Pia ganz schwindelig wurde, bevor sie überhaupt getrunken hatte. Vielleicht wirkte die teure Flasche auf dem Holztisch aus recycelten Fässern etwas fehl am Platz.

Wie ich, überlegte Pia und trank das Glas Rotwein mit wenigen, tiefen Schlucken aus.

Als sie das nun leere Glas abstellte und bemerkte, dass Marcello nur an seinem genippt hatte, spürte Pia, wie sie rot wurde. Hatte sie das teure Gesöff jetzt wirklich so wenig elegant heruntergekippt? Diese dumme Nervosität! Pia war es einfach nicht gewöhnt, auszugehen. Sie wusste nicht, wie man es richtig machte. Aber offensichtlich sehr genau, wie man es falsch machte.

»Weißt du, ich bin sehr oft hier, Pia. Aber noch nie habe ich mich so wohl gefühlt wie mit dir«, bemerkte Marcello breit lächelnd und prostete ihr zu.

Vielleicht passe ich ja doch ganz gut hierher, war Pias nächster Gedanke.

Als Marcello ihr das zweite Glas einschenkte, sagte sie daher nicht Nein.