Camerota, Ende September
»Hier bin ich!«, ließ eine strahlende Sandrina verlauten.
Pia starrte erst in das Gesicht der Alten, dann auf ihren Koffer. Definitiv keine Fata-Morgana. Sandrina, wie sie leibte und lebte, direkt vor ihrer Haustür.
»Nein!«, kreischte eine Stimme in Pias Kopf.
Dass ihre Schwiegermutter die Drohung wahrmachte, war der nächste Hieb an einem Tag, der schon so einige Schläge bereitgehalten hatte. Und dieser hier brachte Pia beinahe zum Torkeln.
»Willst du mich nicht reinbitten?«, forderte Sandrina ungehalten.
»Doch, sicher. Aber ich denke, wir müssen das erst besprechen.«
»Was denn?«
»Na das …«
Pia zeigte auf Sandrinas Koffer.
Die Verzweiflung, die sie dabei spürte, war lähmend.
»Wer ist denn da?«, meldete sich Pasquale aus dem Flur. »Mamma?«
»Ja, mein Junge, ich bin es. Jetzt bin ich endlich mit dem Aufräumen fertig und bereit, mein neues Leben zu beginnen.«
»Bei uns?«
Pia sah sich den Wortwechsel zwischen Mutter und Sohn an und betete, dass Pasquale Sandrina wegschickte. Sofort.
»Wo denn sonst?«
»Jetzt komm erst mal rein«, bot Pasquale an, was Pia dermaßen schockierte, dass sie sich wieder ins Gespräch einmischte.
»Pasquale, was machst du da?«
»Na, ich kann sie doch kaum vor der Tür stehen lassen!«
»Was ist denn heute mit deiner Frau los, Pasquale?«
»Sie ist etwas nervös!«
Und dieser Satz machte Pia, wenn überhaupt möglich, noch nervöser. Nein, mehr, fuchsteufelswild.
»Pasquale, schick sie weg!«, schrie Pia jetzt und merkte, dass dieses Ventil notwendig war, wenn sie nicht vor Wut platzen wollte.
»Ist deine Frau vom Teufel besessen?«, sprach Sandrina ihren Sohn direkt an.
»Signora Pia, ich sage doch nur, dass wir sie aufnehmen, bis wir eine bessere Lösung finden.«
»Pasquale, darf ich dich dran erinnern, dass deine Mutter dir erst das Land weggenommen hat, das du so sehr liebst.«
»Besessen. Sie ist besessen«, murmelte Sandrina gar nicht mal leise und bekreuzigte sich wiederholt.
»Hörst du das, Pasquale?«
Pia zeigte mit zitterndem Finger auf Sandrina, die immer noch vom Teufel sprach, der ihrer Meinung nach in Pia gefahren war.
»Du weißt doch, wie sie ist …«
»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast, Pasquale?«
»Ich sage gar nichts mehr, wenn du dich nicht erst mal beruhigst.«
»Richtig!«, mischte Sandrina sich wieder ein.
»Oh. Na wunderbar. Sehr gut, Pasquale. Zeig dich nur solidarisch mit ihr.«
Am Ende ihrer Kräfte merkte Pia, wie ihr die Tränen kamen. Dieser Streit, das Gespräch zuvor … Das alles wuchs ihr gerade mächtig über den Kopf. Und deshalb tat sie das Einzige, was ihr noch übrigblieb.
»Perfekt. Solange ihr das unter euch klärt, werde ich bei Tiziana wohnen.«
»Komm schon, Signora Pia. Benimm dich nicht wie ein Kind!«
Oh. Sie benahm sich also wie ein Kind?!
»Doch. Oh doch. Ich benehme mich jetzt wie ein Kind und packe meine Koffer. Falls du mir irgendetwas zu sagen hast, findest du mich bei Tiziana.«
»Lass sie gehen. Das Böse spricht aus ihr, Pasquale.«
»Ach, mamma, halt dich da raus, verdammt!«
Sandrina wandte sich beleidigt ab.
»Entweder sie geht oder ich tue es!«
Pia war so verletzt. Pasquale demütigte sie mit jedem Wort, das er von sich gab.
»Wo soll ich sie denn hinschicken?«
»Naja. Denk einfach darüber nach. Mich findest du bei Tiziana.«
Pia stürmte hinauf in ihr Zimmer, packte ihren Koffer und ging.
Was sie am meisten verletzte, war, dass Pasquale nicht versuchte, sie aufzuhalten.
»Unglaublich, oder?«
»Dreist. Die Alte hat es faustdick hinter den Ohren. Wieso ist sie nicht zu Ermanno gegangen?«
»Woher soll ich denn das wissen? Ich spreche doch weder mit ihm noch mit ihr.«
»Merda!«
»Ja.«
»Bist du denn sicher, dass sie gekommen ist, um zu bleiben?«
»Sie hatte einen Koffer dabei.«
»Merda!«
»Ja.«
»Und du, stell deinen Koffer erst einmal ab, ja? Du weißt, du kannst so lange bleiben, wie du willst.«
Pia blickte sich um. Tiziana wohnte in einer kleinen Wohnung im Ortskern. Sie war hübsch eingerichtet. Trotzdem hatte Pia plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Wie war sie nur auf diese absurde Idee gekommen, sich hier einzuquartieren? Ihr war nach Weinen zumute.
Tiziana nahm sie bei der Hand und zog sie mit sich. Sie setzte sich auf die Couch und klopfte auf den leeren Platz neben sich. Pia ließ sich darauffallen.
»Ich weiß, was du jetzt denkst. Alles. Von der Tatsache, dass du dein Weggehen bereits bereust, bis hin zu deinen Zweifeln, ob du es hier wohl aushalten wirst.«
Pia legte wortlos ihr Gesicht in ihre Hände. Tiziana kannte sie gut. Viel zu gut.
»Ich kann dich verstehen. Extreme Gesten sind nie einfach, Pialein. Aber notwendig. Ich bin ehrlich gesagt froh, dass du endlich einmal reagiert hast.«
»Ja, ganz toll habe ich reagiert …«
»Ja, verdammt, das hast du! Endlich zeigst du einmal, dass auch du nur ein Mensch bist. Wie lange, meinst du, kann man seine wahren Bedürfnisse zurückstecken, bevor man explodiert und irgendetwas Unüberlegtes tut, hm?«
Lange genug.
»Du bist jetzt durcheinander. Das ist ganz normal. Komm erst mal wieder runter und nutze die Gelegenheit, um dir darüber klar zu werden, wie du in Zukunft leben willst. Denn dass dich dein Leben, wie es bisher abgelaufen ist, nicht richtig glücklich macht, das ist offensichtlich. Hier geht es nicht um Pasquale. Auch nicht um Sandrina. Oder Miriana. Hier geht es um dich.«
Pia rieb sich die Augen. All das, was Tiziana gerade zu ihr sagte, hörte sie nicht zum ersten Mal. Aber zum ersten Mal verstand sie die Worte richtig.
»Ich bin nicht mehr glücklich, Tiziana.«
Es schmerzte sehr, das laut auszusprechen. So sehr.
»Ich weiß, Pia, ich weiß. Und jetzt müssen wir herausfinden, was es ist, das dich so unglücklich macht.«
Pia lehnte sich zurück, streckte die Arme über ihren Kopf. Sie blickte an die Decke. Oh, eine neue Lampe. Wann war die denn gekauft worden? Und wieso wusste sie nichts davon? War sie in letzter Zeit wirklich so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie nicht mehr, wie sonst immer, ein Teil von Tizianas Alltag war?
»Ich weiß es nicht. Ich meine, ich weiß nicht, was es ist. Keine Ahnung. Ich habe wundervolle Kinder. Und einen Mann. Der mich, trotz seiner Eigenarten, immer noch liebt. Da bin ich mir sicher. Ich habe alles. Wieso will ich noch mehr?«
»Weil da drinnen«, Tiziana legte ihre Hand auf Pias Brust, »irgendwo eine große Leere herrscht. Und die müssen wir füllen.«
Fast spürte Pia diese Leere körperlich. Ein schwarzes Loch. Dunkel. Unendlich. Tief. Und alles zerstörend.
»Hilf mir dabei!«, hauchte Pia.
»Das werde ich. Verdammt, das werde ich! Und wenn es das Letzte ist, was ich tue!«
Pia warf sich in Tizianas Arme. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie weinte. Erst als Tiziana ihr die Tränen wegwischte, wurde ihr das bewusst. »Das wird schon wieder, Pia. Das bekommen wir hin!«
Pia fühlte sich gerade so schwach, dass sie kein Wort über die Lippen bekam. Sie wusste nicht richtig, was mit ihr passierte. Aber sie spürte ganz genau, dass sie dabei war, sich selbst zu suchen.
Stimmen.
Ja.
Von irgendwoher drangen Stimmen an ihr Ohr.
»Pasquale?«, murmelte sie und erschrak etwas beim Klang ihrer eignen Stimme. Ein Wispern. Mehr nicht. Pia räusperte sich und blinzelte. Eine Lampe. Tizianas Lampe. Die neue Lampe.
Erst allmählich drang die Gewissheit zu Pia durch. Sie war noch immer bei Tiziana. Und sie war auf der Couch eingeschlafen.
Jetzt nahm sie es ganz deutlich wahr: Die Stimme gehörte zu einem Mann. Ihr Herz machte einen irrationalen Sprung. Wahrscheinlich war Pasquale gekommen, um sie zu holen. Dennoch schaffte Pia es nicht, ihren Kopf zu heben. Erschlagen. Ja, regelrecht erschlagen war sie.
Tiziana kicherte. Es klang nach tausend winzigen Glocken. Und als Pia noch besser hinhörte, konnte sie die männliche Stimme ganz eindeutig zuordnen.
William.
Was machte der denn hier?
Der Gedanke an William gab ihr die Kraft, sich zu erheben. Langsam wurde es ihr peinlich, dass dieser nette Amerikaner nichts anderes zu sehen bekam als ihre dramatische Seite.
Pia fuhr sich über das Gesicht, erhob sich, bemerkte erst dabei, dass sie zugedeckt worden war. Sie legte die Decke weg und ging auf die Stimmen zu.
Sie fand Tiziana und William in der winzigen Küche vor. Der beengte Raum schien ihnen nichts auszumachen.
»Pialein. Na endlich. Ich dachte schon, du wirst nie wieder wach!«, begrüßte Tiziana sie.
William nickte ihr freundlich zu. Pia registrierte, dass er Tizianas Schürze umhatte.
»Er kocht für uns.«
Obwohl Pia noch immer durcheinander war, musste sie lächeln. Sie mochte William. Und sie mochte es, dass er sich auch an den Herd stellte. Kein Wunder, dass Tiziana ihn toll fand. Toller als toll.
»Und was kocht er Leckeres?«
Sonderbarerweise verspürte Pia sogar etwas Hunger.
»Na rate mal!«
Sie schnupperte. Es roch nach Fleisch.
»Hamburger?«
Tiziana kicherte.
»Ja, Hamburger!«
Pia fand das plötzlich so komisch, dass sie selbst das Kichern nicht unterdrücken konnte.
»Was ist so lustig an meinen Hamburgern?«, wagte William irgendwann zu fragen.
Pia sah Tiziana an, und wie auf Kommando prusteten sie beide los. Gar nichts war lustig an seinen Hamburgern. Aber so befreiend gelacht hatte Pia schon seit Ewigkeiten nicht mehr.