Kapitel 22

»Pronto

»Don Rosario, ich bin es.«

Jemand flüsterte. Don Rosario verstand kaum etwas. Telefonieren fand er ja ohnehin schon anstrengend. Wenn er dabei aber nichts hörte, wurde er regelrecht rabiat.

»Wer auch immer hier anruft: Bitte etwas lauter sprechen, ja?«

»Don Rosario, ich kann nicht schreien. Pasquale hört mich sonst. Ich bin es, Sandrina.«

»Ach, Sandrina. Wie geht es dir?«

»Oh, Don Rosario, Sie müssen was tun. Pia …«

Sein Herz schlug ihm bis in den Hals. Er mochte Pia sehr, machte sich sofort Sorgen. Etwas am Tonfall der Alten versetzte ihn in Alarmbereitschaft.

»Was ist mit ihr?«

»Sie ist besessen!«

»Was?«

Er verstand schon wieder kein Wort.

»Sie hat etwa Schlechtes gegessen?«, wiederholte er das, was er zu verstehen glaubte. Aber warum erzählte Sandrina ihm das? Sie sollte besser einen Arzt holen.

»Nein. Besessen.«

Also doch gegessen.

»Sandrina, dann ruf den Dottore

»Der kennt sich mit so etwas aus?«

»Natürlich. Verdauungsprobleme kann er bestimmt lösen.«

Don Rosario überlegte, dass Sandrina ganz schön durcheinander sein musste.

»Verdauungsprobleme? Don Rosario, machen Sie Witze? Der Teufel ist in Pia. Verstehen Sie? Il Diavolo! Ich kann ihr nicht helfen, weil sie weggelaufen ist. Zu Tiziana«, schrie die Alte nun.

Vor Schreck fiel ihm der Hörer aus der Hand. Als er sich bückte, um ihn aufzuheben, merkte Don Rosario, wie stark er zitterte.

Der Teufel.

Sofort eilten seine Gedanken zu Severino, seinem einzigen Freund damals aus der Zeit im katholischen Internat. Severino hatte ihm zwei Dinge beigebracht: Jesus zu lieben und den Teufel zu fürchten.

»Pass auf dich auf«, hatte Severino zum Abschied zu Don Rosario gesagt.

Und er hatte diesen Rat stets befolgt. Auf den Teufel war er in den vielen Jahren aber niemals gestoßen. Dass er auf seine alten Tage doch noch Bekanntschaft mit ihm machen würde, das hätte Don Rosario nicht gedacht oder nicht mehr erwartet. Aber so war er, der Teufel. Unberechenbar.

Plötzlich spürte Don Rosario, wie das Adrenalin in seine Blutbahn schoss.

»Du willst ihre Seele, Satan? Nun, du wirst sie nicht bekommen!«, begann er bereits ein stilles Zwiegespräch mit seinem Feind.

»Keine Sorge, Sandrina. Ich werde nicht zulassen, dass Pia etwas zustößt.«

Dann legte er auf.

Panik.

Eiskalte Panik.

Lähmende Panik.

Dann aber die ersten klaren Gedanken.

Der Teufel.

Während seiner Ausbildung hatte Don Rosario von solchen Fällen gehört. Frauen, die sich den dunklen Mächten hingaben. Aber ausgerechnet Pia?

Was tun?

Don Rosario hatte keine ausdrückliche Erlaubnis, gegen den Teufel vorzugehen. Er durfte keine Exorzismen aussprechen, befand sich also in der Zwickmühle.

Dennoch zögerte er nicht lange, bevor er sein Zimmer verließ.

Mit oder ohne Erlaubnis. Er musste sich dem Feind stellen. Koste es, was es wolle.

»Möchtest du noch?«

Pia hob abwehrend die Hand. Sie hatte viel zu viel gegessen und war ganz seltsam entspannt. Es fühlte sich richtig an, mit Tiziana und William zu Abend zu essen. William war ihr gerade weniger fremd als ihr eigener Mann. Eigentlich bedenklich. Statt sich aber darüber Gedanken zu machen, musste Pia merken, dass sie das einfach so hinnahm. Genau wie das Knistern, das sich allmählich zwischen William und Tiziana aufbaute. Williams Hand, die wie zufällig Tiziana berührte. Tizianas Blicke, die das Feuer, das in ihr loderte, nur schlecht verbargen. Ein bisschen beneidete Pia ihre Freundin gerade darum. Um das herrliche Gefühl des Verliebens.

Pia erhob sich, machte sich aus Gewohnheit daran, den Tisch abzudecken.

»Nein!«, riefen Tiziana und William wie aus einem Munde. »Das machen wir.«

Pia wollte protestieren. Ließ es dann aber bleiben. Da gab es nichts zu protestieren. Es war nicht ihre Aufgabe. Nicht heute. Heute war sie ein Gast.

Eine Weile lang beobachtete Pia die beiden, wie sie abräumten und sich dabei unterhielten. Es ging um Pläne für den nächsten Tag. Und Pia wusste nicht, ob sie Tiziana warnen sollte. War ihr bewusst, dass sie dabei war, sich zu verlieben? Und hatte sie sich wirklich klargemacht, dass William irgendwann wieder abreisen würde?

Aber, ja. Natürlich wusste Tiziana das.

Und Pia wusste, dass sie irgendetwas tun musste. Sie konnte ja nicht ewig hier wohnen. Nur, was? Was sollte sie nur mit sich anfangen?

»Entschuldigt mich!«, bat sie und erhob sich. Sie brauchte ein paar Minuten für sich, ging ins Wohnzimmer und stellte sich ans Fenster, das nur einen Blick auf die enge Gasse bot. Sie öffnete es. Schnupperte. Nein, hier konnte man das Meer nicht riechen. Pia merkte, wie ihre Gedanken sich verloren, in eine Richtung schweiften, die mit der Unendlichkeit des Meeres zu tun hatte. Ganz am Rande nahm sie wahr, dass es im Flur zu rumoren begann.

Dann wurde die Wohnzimmertür aufgerissen.

Pia schrak auf. Und erschrak doppelt, als sie die Besucher erkannte … Oder vielmehr, als sie erkannte, in welch seltsamem Zustand sie sich befanden.

Der alte Raffaele, zum Beispiel, der knurrte. Laut und deutlich. Und Antonio, der fletschte die Zähne, versteckte sich dabei aber hinter Don Rosario, der besonders schlimm aussah. Irgendwie … erhitzt. Fiebrig. Sein Kopf war hochrot. Das Haar stand in alle Richtungen ab. Und er hatte ein kleines Kreuz bei sich, das er jetzt erhob. Auf sie richtete. Genauer gesagt … gegen sie. Fehlte nur noch, dass Raffaele Knoblauch aus der Tasche zog, während Antonio mit Hammer und Silberpfahl auftrumpfte.

»Sind Sie auf Vampir-Jagd?«, war das Erste, was Pia einfiel. Noch lachte sie selbst über ihren Witz. Als sie aber merkte, dass niemand mit einstimmte, begann sie sich ernsthaft Sorgen zu machen.

»Was ist los, Don Rosario?«

»Mein liebes Kind, ich werde dich befreien, so wahr mir Gott helfe.«

»… so wahr ihm Gott helfe«, unterstrichen Raffaele und Antonio die Worte des Priesters tapfer.

Der Tonfall gefiel Pia überhaupt nicht. Sie suchte fragend Tizianas Blick, die aber nur die Schultern hob und nicht minder perplex wirkte.

»Ich verstehe nicht …«

»Ich weiß, Pia, ich weiß. Er beherrscht deine Sinne. Er ist stark. Aber wir sind stärker!«, brüstete der Priester sich jetzt und zeigte auf seine Begleiter.

»… wir sind stärker.«

Schon wieder Raffaele und Antonio, die als Echo fungierten. Pia versuchte die Männer zu ignorieren. In einer anderen Situation hätte sie sich wahrscheinlich darüber kaputtgelacht, wie peinlich ernst sich die drei Herren nahmen.

»Wer beherrscht meine Sinne?«

Was war das nur für ein verwirrendes Gespräch?

»Der Teufel, mein Kind, der Teufel.«

»Ja, der Teufel!«

Dieses Mal hatte nur Raffaele den Mut gefunden, die Worte des Priesters zu wiederholen. Antonio blickte sichtlich beunruhigt auf Pia, wartete offensichtlich eine Reaktion ab, die aber ausblieb.

»Was ist mit dem Teufel?«, fragte nun Tiziana, die ungefähr so aussah, wie Pia sich fühlte. Nämlich völlig verwirrt. William kam hinzu.

»Wie Sandrina mir berichtete, gibt es Grund zur Annahme, dass du besessen bist«, versuchte Don Rosario zu erklären. Inzwischen schien er sich seiner Sache nicht mehr ganz so sicher. Das Kreuz hielt er dennoch unbeirrt in die Höhe. Jetzt aber zitterte seine Hand dabei.

»… und ich verwette meinen Hut darauf, dass die Alte sich mit so was auskennt«, mischte sich Raffaele schon wieder ein. Antonio versteckte sich sicherheitshalber hinter dem Priester.

»What’s happening, cazzo?«, fragte William in die eisige Stille hinein.

Pia konnte an nichts anderes denken als an das c-Wort, das William gerade ausgesprochen hatte. Irgendwer musste ihm sagen, dass das nicht in Ordnung war. Vermutlich wäre es jetzt wichtiger gewesen, über Don Rosarios merkwürdige Worte nachzudenken. Aber das schaffte sie einfach nicht. Williams Fluch war das Einzige, was sie jetzt beschäftigte. Mit dem, was Don Rosario eben von sich gegeben hatte, wollte sie sich nicht befassen. Nein.

Don Rosario räusperte sich wiederholt, senkte das Kreuz.

»Nun, Sandrina hat mich angerufen und behauptet, dass der Teufel in dich gefahren ist!«

»… in dich ge…«

Raffaele brach ab und schluckte laut.

Was Don Rosario da sagte, klang in Pias Ohren so grotesk, dass sie doch tatsächlich lachen musste. Aber das Lachen war bitter. Fast wäre sie daran erstickt. Antonio fiel trotzdem nervös mit ein und handelte sich prompt einen scharfen Blick von dem Priester ein, der ihn augenblicklich zum Verstummen brachte.

»Wissen Sie, Don Rosario. Mich verletzt es nicht im Geringsten, dass Sandrina so etwas behauptet. Was mir aber richtig – ganz arg – wehtut, ist die Tatsache, dass Sie diese Absurdität geglaubt haben.«

»Aber … ich«, versuchte er sich zu verteidigen.

»Sie werden verstehen, dass ich Sie bitten muss, zu gehen.«

»Pia, lass mich doch …«

»Raus hier! Alle drei!«, hörte Pia sich selbst sagen. Es hatte sie große Mühe gekostet, nicht laut zu schreien.

»Don Rosà, bekomme ich trotzdem das versprochene Bier?«, wollte Raffaele sehr unpassend wissen.

»Pia, das war wohl ein Missverständnis«, gab Don Rosario verlegen zu und schob den alten Raffaele unsanft zur Seite.

Pia interessierte das nicht. Sie wollte es nicht hören. Gar nichts wollte sie mehr hören. Denn sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. Das alles war so demütigend.