Kapitel 23

Rom, Mitte Oktober

Mit Marcello durch Rom zu spazieren war einfach wunderbar. Er vermittelte dabei den Eindruck, wahllos herumzulaufen. In Wahrheit gelangten sie aber stets zu neuen herrlichen Sehenswürdigkeiten, sodass Pia mit offenem Mund dastand und sich fragte, wie sie schon wieder an so ein tolles Bauwerk geraten war.

Heute Morgen waren sie zeitig losgegangen.

»Lust auf einen Spaziergang?«, hatte er sie gefragt.

»Immer doch.«

Und so war es wirklich. Sie bekam nicht genug von Rom. Von Marcellos Rom, das nicht nur aus den berühmtesten Monumenten bestand. Er zeigte Pia immer wieder winzige Details, die es wohl kaum im Reiseführer zu finden gab.

»Wie hübsch!«, bemerkte sie zum gefühlt tausendsten Mal an diesem Morgen.

»Das ist die Basilika Santa Sabina all’Aventino.«

Marcello führte sie über die Grünfläche zum Haupteingang der Basilika, die Pia schon von außen ganz besonders gefiel mit ihrer klaren Form und dem Mauerwerk in rötlichen Schattierungen.

Je näher sie dem Gebäude kamen, desto deutlicher wurde das Geräusch von plätscherndem Wasser. Pia erhaschte einen kurzen Blick auf den kleinen Brunnen, der sie sehr an die Fontana del Mascherone erinnerte. Marcello ging aber so zielstrebig auf die Basilika zu, dass Pia nicht anders konnte, als ihm zu folgen.

»Glaubst du an den Teufel, Pia?«

Bei dieser unerwarteten Frage blieb sie so abrupt stehen, dass sie ihre Handtasche verlor. Marcello kam sofort zu ihr zurück, um ihr beim Aufheben zu helfen. Ihre Köpfe stießen dumpf aneinander. Pia rieb sich die Stelle. Versuchte mit dem Schmerz und gleichzeitig mit den Szenen zurechtzukommen, die bei Marcellos Frage vor ihrem innerem Auge aufgetaucht waren. Szenen mit ihr als unfreiwilliger Protagonistin. Camerota, Don Rosario und Sandrina holten sie ein. Holten sie aus Rom. Vermiesten ihr den Moment.

Marcello schwieg, sah sie aber genau an.

»Wieso fragst du das?«

Ihr war gerade gar nicht nach Sprechen zumute. Aber sie musste wieder hinausfinden, aus diesem grässlichen Déjà-vu-Moment.

»Nur wegen einer Legende …«

»Welcher Legende?«

»Das zeige ich dir alles gleich.«

Pia riss sich zusammen, folgte Marcello durch eine sehr antik wirkende hohe Holztür ins Innere der Basilika. Fast augenblicklich vergaß sie den Teufel. Was für ein herrlicher Anblick! Im ersten Moment wusste Pia vor Erstaunen nicht, wohin sie blicken wollte. Letztendlich wurde ihre Aufmerksamkeit aber von dem halbkreisförmigen Teil der Basilika gefangen genommen, der sich hinter dem Altar befand. Über drei großen bogenförmigen Fenstern füllte ein buntes Fresko die Halbkugel und fiel dabei besonders auf, weil der Rest der Basilika in dezenten Grau-Weiß-Tönen gehalten war. Die Decke hingegen war flach und mit Holztafeln ausgekleidet.

»Wo sind denn die Bänke?«

»Die gibt es nicht.«

Pia bewegte sich in dem riesigen freien Raum und bewunderte den Marmor am Boden, der perlmuttfarben glänzte.

»Es werden also keine Messen mehr zelebriert?«

»Ganz im Gegenteil. Viele Paare wählen Santa Sabina aus, um hier zu heiraten.«

»Wobei die Gäste dann im Schneidersitz zusehen?«

»Nein.« Marcello schüttelte amüsiert den Kopf. »Zu diesen Gelegenheiten werden Stühle aufgestellt.«

Ja, das konnte Pia sich hingegen sehr gut vorstellen. Sie fand, dass das durch die Seitenfenster eintretende Sonnenlicht etwas Romantisches hatte. Die mächtigen Säulen, die an beiden Seiten standen und bogenförmig miteinander verbunden waren, verstärkten diesen Eindruck nur. Eine ganze Weile lang sah sie sich schweigend um. Bis sie merkte, dass Marcello ihr gar nicht folgte. Er hatte sich links vom Eingang an eine kleine weiße Säule gestellt, auf der ein schwarzes Element lag, das Pia nicht richtig identifizieren konnte. Ein Stein vielleicht. Zumindest sah das aus der Ferne so aus.

»La Pietra del Diavolo – der Stein des Teufels«, sagte Marcello nur und versuchte dabei, seiner Stimme einen beängstigenden Unterton zu geben.

Doch ein Stein.

Pia ging etwas näher hin und erkannte, dass auf der Oberfläche des Steins drei Löcher zu sehen waren.

»Okay. Die drei Löcher stehen für die Finger des Teufels? Was hat der Gute mit dem Stein gemacht?«

Pia bemühte sich um einen ironischen Tonfall. Das Thema Teufel war für sie aber noch zu frisch und demütigend. Sie hörte selbst, dass sie nicht wirklich witzig klang.

»Der Legende nach soll hier im Mittelalter ein Kampf zwischen Satan und dem heiligen Domenico stattgefunden haben. Man sagt, der Teufel habe in seiner Wut, weil es ihm einfach nicht gelang, den armen Domenico zu besiegen, nach dem erstbesten Stein gegriffen und ihn auf den Heiligen geworfen. Dabei soll Satan seine Abdrücke hinterlassen haben.«

»Ach herrje. Und was wurde aus dem guten Domenico?«

»Nichts. Den hat der Teufel wohl verfehlt.«

»Das Gute gewinnt also letztendlich doch immer.«

»Immer!«

Marcello nickte, reichte Pia wieder die Hand und führte sie ins Freie. Erst draußen bemerkte Pia, wie kühl es in der Basilika gewesen war.

Gemächlich schlenderten sie durch den antiken Stadtkern Roms wieder zurück in Richtung Campo de’ Fiori.

»Und jetzt machen wir etwas für Touristen!«, meinte Marcello irgendwann.

»Haben wir das bisher nicht?«

»Nicht so richtig.«

»Wieso nicht?«

»Weil ich dir gerne das echte Rom zeigen möchte.«

»Das gelingt dir ziemlich gut«, fand Pia.

»Naja, ich hoffe, du wirst das nachher noch immer denken.«

»Dauernd sprichst du in Fragezeichen, Marcello!«

»Das macht aber auch Spaß.«

Sie waren an einer parkähnlichen Fläche angelangt, wo schon wieder ein Brunnen ein herrliches Wasserspiel zeigte. Auf einem felsenförmigen Gebilde knieten zwei männliche Meereswesen, die eine schwere Muschel auf dem Rücken trugen, aus der Wasser trat. Pia hatte törichterweise Mitleid mit den beiden Statuen mit Fischschwanz. Sie sahen angestrengt aus.

»Darf man hier Münzen hineinwerfen?«

»Pia, du verwechselst da etwas.«

»Dann lass mir wenigstens Zeit, dieses Schauspiel auf mich wirken zu lassen.«

»Später, ja?«

Marcello führte sie weg vom Wasser in Richtung einer weiteren Kirche, die einen seltsamen Turm hatte, der ganz viele bogenförmige Öffnungen aufwies.

»Rom und seine unzähligen Kirchen …«, witzelte Pia.

»Wir müssen nicht unbedingt rein. Was ich dir zeigen will, befindet sich in der Vorhalle.«

Und Pia wurde schon wieder neugierig. Wie machte Marcello das nur immer?

»Tada.« Er zeigte triumphierend auf ein rundes Relief, das an der Wand angebracht war.

In natura hatte Pia dieses Gesicht mit dem breiten Mund noch nie gesehen. Dennoch wusste sie, um was es sich handelte: La Bocca della Verità – der Mund der Wahrheit. Sie kannte das Relief aus einem Film mit Audrey Hepburn und Gregory Peck. Und jetzt stand sie davor! Wie genial!

»La Bocca della Verità!«, sagte sie begeistert.

»Dachte ich’s mir doch, dass dir das gefällt.«

»Oh ja!«

»So, und jetzt hältst du deine Hand da rein und beantwortest mir wahrheitsgemäß eine Frage. Falls du lügst, wirst du leider deine Hand verlieren.«

»Ich denke nicht im Traum daran.«

»Oh doch! Du glaubst ja wohl nicht, dass ich dich sonst von hier weglasse.«

»Ich weigere mich ganz einfach.«

»Das kannst du nicht.«

»Nein?«

»Nein.«

»Na schön. Aber du zuerst.«

Marcello krempelte sich, ohne zu zögern, den Hemdärmel hoch und steckte seine Hand in den großen Mund.

»Schieß los.«

Santo cielo, so schnell? Pia hatte sich noch nicht einmal darauf vorbereitet, was sie ihn denn nun fragen konnte. Sie wollte ihm nicht zu nahe treten, keine Grenze überschreiten, aber auch nicht als Spielverderberin dastehen.

»Okay. Wie oft warst du in deinem Leben verliebt?«

Blöde Frage.

Aber Pia fühlte sich gerade wie beim Flaschendrehen. Albern. Also waren alberne Fragen wohl keine Todsünde.

Marcello dachte angestrengt nach. Sie wartete gespannt ab. Und wartete. Und wartete. Während Marcellos Hand im Mund steckte und er noch weiter nachdachte. So intensiv, dass dabei sogar eine Falte zwischen seinen Augenbrauen auftauchte.

»Marcello, also so genau will ich es eigentlich nicht wissen«, bemerkte Pia irgendwann. Die Leute, die auch zur Bocca della Verità wollten und hinter ihnen anstanden, wurden langsam ungeduldig.

»Machst du Witze? Es geht hier um meine Hand. Und ich brauche die noch.«

Pia lachte. Marcello konnte so wunderbar albern sein.

»Bitte heute noch!«

»Na, gut. Aber willst du das auch wirklich wissen, schöne Pia?«

»Unbedingt!«

Und erst recht, nachdem er sie als schön bezeichnet hatte.

»Va bene! Also, die Wahrheit ist, dass ich mich jeden Tag aufs Neue verliebe. In die Frauen. In Rom. Aber vor allem in das Leben. Vivila! Lebe das Leben. Das hat Angela immer gesagt. Und genau das versuche ich!«

Etwas überwältigt von der Situation, erreichten Pia seine Worte erst ganz allmählich.

Marcello hingegen kniff nach seiner Antwort die Augen zusammen, fast so, als erwartete er, seine Hand tatsächlich zu verlieren. Aber siehe da, er zog sie heil aus dem Mund.

»Und jetzt du«, forderte er Pia sofort auf, die noch immer zu verarbeiten versuchte, was er eben gesagt hatte. Sie verspürte einen kurzen, törichten Anfall von Bedauern. Dicht gefolgt von einem Gefühl ungeheurer Leichtigkeit. Marcello war kein Mann, der mit zufälligen Bemerkungen um sich warf, nein. Und dafür war sie ihm plötzlich unheimlich dankbar.

Etwas widerwillig streckte sie daher ihre Hand aus. Der Mund schien endlos groß zu sein und fühlte sich kalt an. Kein angenehmes Gefühl.

»Also, schieß los«, forderte sie Marcello auf.

»Okay. Warum warst du vorhin so schockiert, als ich den Teufel erwähnt habe?«

Oh. Das war aber unfair. Diese Frage war persönlich. Diese Frage war ernst. Kein Spaß. Pia zog die Hand sofort heraus.

»Das ist eine viel zu lange, viel zu blöde Geschichte, um sie auch nur zu erwähnen.«

»Ich mag lange, blöde Geschichten.«

Sein Kommentar prallte aber irgendwo an der Wand ab, erreichte Pia nicht.

Marcello überspielte den Moment gekonnt.

»Komm, gehen wir rüber.«

Pia nickte. Mit rüber meinte Marcello über den Tiber. Das wusste sie inzwischen ganz gut.

Erst in der Via della Lungaretta hielten sie wieder an.

»Lust auf ein wenig Erfrischung?«

Die Bar, auf die Marcello fragend zeigte, war verlockend.

»Gern.«

Sie setzten sich an einen Tisch, der draußen stand. Es war noch früh am Tag. Trotzdem war Pia ganz froh, dass sie unter einem Sonnenschirm Platz gefunden hatten. Il sole di Roma konnte einen ganz schön zum Schwitzen bringen. Vor allem, wenn man Kilometer weit lief.

»Due Orangina, per favore

Marcello fragte schon gar nicht mehr, was Pia trankt. Er bestellte direkt. Pia stand auf das erfrischende Getränk, und Marcello hatte sich bei ihr angesteckt, wie er oft behauptete.

Sie entspannten sich und sahen dem rundlichen Kellner dabei zu, wie er seine Arbeit verrichtete und das Getränk in die Gläser füllte, dass es dabei zischte.

»Salute«, prostete Marcello ihr zu. Er war so ernst dabei, als hätte er Champagner im Glas.

»Salute

Pia nickte ihm zu und horchte auf das klirrende Geräusch, das die Gläser dabei verursachten.

»Vor meiner Abreise kam der Priester aus dem Ort zu mir, weil meine Schwiegermutter, die bei uns eingezogen ist, behauptet hat, dass ich vom Teufel besessen bin. Und er wollte mich davon befreien.«

Marcello sah so überrascht auf, dass Pia lachen musste. Sie hatte schon die ganze Zeit überlegt, wie sie das am besten in Worte fassen konnte, was sich bei ihr daheim abgespielt hatte. Denn sie wollte Marcello plötzlich davon erzählen. Die Seele frei machen von dem ganzen Dreck.

»Okay. Netter Versuch. Und jetzt im Ernst.«

»Das ist mein Ernst. Bitterer Ernst.«

Marcello schüttelte den Kopf. Aber Pia merkte, dass er versuchte, ein Lachen zu unterdrücken. Verständlich. So von außen betrachtet wirkte die Angelegenheit durchaus witzig.

Pia nippte an ihrem Glas.

»Und hat diese lange und blöde Geschichte auch ein Ende?«

»Auf jeden Fall.«

»Ein gutes oder schlechtes?«

»Kommt drauf an, wie man es sieht. Ich habe den Priester rausgeschmissen und … Tja, jetzt bin ich hier.«

»Also ein gutes …«