Kapitel 24

Camerota, Ende September

»Bist du sicher, Pia?«

»Nimm es mir nicht übel, Tiziana. Aber ich muss hier eine Weile weg.«

»Das verstehe ich ja. Und ich halte es für eine gute Idee. Aber ich mache mir auch schreckliche Sorgen.«

»Brauchst du nicht, Tiziana. Wirklich nicht.«

Was nicht stimmte. Auch Pia selbst war ein wenig besorgt um sich. Sie hatte eine ganz miserable Nacht verbracht. Ihr Handy hatte beinahe ununterbrochen Nachrichten angezeigt. Die Kinder. Selbst vor denen musste sie sich rechtfertigen. Clem schimpfte. Giovanna bat um ein Gespräch. Einzig Miriana zeigte sich solidarisch, während Pasquale schwieg. Pia hatte Angst, dass sie zu viel kaputt machte. Gleichzeitig war sie aber seltsam gleichgültig.

»Dann steige ein. Und tu, was du tun musst!«

Pia umarmte Tiziana und stieg in den Zug.

Diese Idee, zu Miriana zu fahren, war ihr mitten in der Nacht gekommen. Sie musste unbedingt mit ihrer Tochter reden. Hatte ihr so viele wichtige Dinge zu sagen. So vieles zu erzählen. Das hätte sie schon längst tun sollen. Vor Mirianas Abfahrt. Warum nur hatte sie sich die Zeit dafür nicht genommen? Zeit zu reden. Nicht über Belangloses. Über die wichtigen Dinge des Lebens. Darüber, dass Miriana die Welt offen stand. Und dass sie diese Chance optimal nutzen musste. Stattdessen hatten sie über Hosen gesprochen. Wie dumm war das denn?

Der Zug fuhr los. Pia schaute noch einmal aufs Gleis. Suchte zwischen den vielen Menschen nach einem ganz bestimmten Gesicht. Fand es aber nicht.

Sie winkte Tiziana zu und versuchte die ganze Last zurückzulassen, die sie begleitete wie ein Schatten.

Don Rosario sah zunächst nur lange Schatten. Dann tippte ihm jemand auf die Schulter.

Er seufzte tief, drehte sich um und war nicht sehr überrascht, Tiziana zu sehen.

»Können wir reden?«, flüsterte sie ihm zu.

Don Rosario nickte. Er erhob sich von der knarrenden Holzbank und ging umständlich in Richtung Flur. Tiziana folgte ihm in sein Büro.

Obwohl Pias Freundin ihn um ein Gespräch gebeten hatte, so war doch er derjenige, der damit anfing.

»Wie geht es ihr?«, konnte er gar nicht schnell genug fragen.

»Sie ist nach Neapel gefahren.«

Don Rosario hob erstaunt die Augenbrauen.

»Ja. Pia war plötzlich der Meinung, ganz dringend mit Miriana sprechen zu müssen.«

Diese Information brachte Don Rosario durcheinander. Das klang so gar nicht nach Pia.

»Und, seien Sie unbesorgt wegen der Sache mit dem Teufel. Ich glaube nicht, dass Pia Ihnen ernsthaft böse ist.«

»Oh. Es ist schön, dich das sagen zu hören, Tiziana. Aber ich verheimliche dir nicht, dass ich mir Vorwürfe mache. Ich hätte Pias Gemütszustand viel eher richtig einschätzen sollen. Stattdessen habe ich mich mit ihren Antworten stets zufriedengegeben.«

»Dasselbe kann ich von mir behaupten.«

»Weißt du, ich vertraue Pia. Tust du es auch?«

»Natürlich. Darum geht es mir auch gar nicht. Wissen Sie, ich war heute bei Pasquale. Ich wollte mit ihm reden. Einen Schlachtplan aushecken. Ihm raten, sie anzurufen, sich mit ihr auszusprechen. Ich denke nämlich, dass Pias Krise erst dadurch entstanden ist, dass sie sich von ihrem Mann nicht verstanden gefühlt hat. Ich weiß, dass sie Pasquale liebt. Aber tut er es auch? Und ist die Liebe genug?«

»Ja. Ich sehe das ähnlich. Was hat Pasquale denn zu deinen Tipps gesagt?«

»Er sagte: ›Ich will nicht wissen, wo sie ist. Ich will nicht wissen, was sie gerade macht. Ich will keinerlei Information.‹ Das waren seine exakten Worte.«

»Oh.«

Don Rosario grübelte über das Phänomen Ehe nach. Und dass manche von ihnen ganz plötzlich zu Ende sein konnten.

»Ja.«

Sie schwiegen. Don Rosario hatte den Eindruck, dass das Gesagte den gesamten Raum ausfüllte und einfach kein Platz mehr für weitere Wort übrig war.

»Don Rosario, was können wir tun?«

Er erhob sich.

»Gar nichts, Tiziana, gar nichts. Wir müssen Pia jetzt einfach vertrauen. Und der Herr, in seiner unendlichen Güte, wird den Rest tun. Weißt du, der Herr zeigt sich manchmal ganz unerwartet. Oft schickt er Schutzengel, die wir nicht als solche erkennen. Oder er lässt kleine Wunder geschehen, die wir als glücklichen Zufall abtun. Bete für sie, Tiziana, und habe Geduld.«

Don Rosario sah, dass er Tiziana mit seinen Worten gerührt und berührt hatte. Genau das hatte er gehofft. Diese Frau hatte eine reine Seele. Und er wusste aus Erfahrung, dass nur sensible Menschen seine Worte tatsächlich begriffen. Er war froh, dass Tiziana zu ihnen gehörte. Insgeheim fragte er sich, ob sie seine Worte nicht auch ein bisschen auf ihre ganz neue … Freundschaft zu diesem Amerikaner projiziert hatte. War er nicht auch wie zufällig auf sie getroffen? Wer konnte schon sagen, was der Herr mit ihnen vorhatte? Don Rosario war gespannt und sich ziemlich sicher, dass sein Boss seine Hand schützend über dieses vielleicht zukünftige Paar halten würde.

Irgendetwas schien mit Pias Handy nicht in Ordnung zu sein. Sie erhielt andauernd Nachrichten von ihren Kindern. Clem schimpfte noch immer. Und Giovanna flehte sie förmlich an, sich zu melden, wozu Pia jetzt einfach nicht den Nerv hatte. Pasquale hingegen schrieb kein einziges Mal? Das konnte doch nicht stimmen! Sie schaltete das dumme Handy wieder aus. Sah sich eine Weile lang die vorbeiziehende Landschaft an, war letztendlich aber richtig froh, Neapel endlich zu erreichen.

Als der Zug zum Stehen kam, war Pia schon bereit auszusteigen. Sofort schlugen ihr Hitze und Lärm entgegen. Pulsierendes Leben zeigte sich in jeder Ecke, und Pia fühlte, wie die neapoletanische Energie langsam auf sie abfärbte. Sie schlängelte sich durch Menschengruppen hindurch und spürte, wie die Sorgen ein wenig von ihr abfielen. Hie und da hörte sie laute Gespräche in heiterem neapoletanischen Akzent mit und ertappte sich dabei, wie die totale und unnachahmliche Gelassenheit dieser Stadt anfing, auf sie überzugehen. Obwohl sie nicht wirklich geübt darin war, schnappte sie sich vor dem Bahnhofsgebäude ein Taxi. Wahrscheinlich wäre sie zu Fuß sogar schneller gewesen. Aber, hey, diesen Luxus wollte sie sich gönnen.

»Signò, arò Vi porto? Wohin soll es gehen?«, erkundigte sich der Fahrer mit einem Lächeln. Er hatte tolle blaue Augen, die konzentriert nach vorne blickten, während er langsam aus der langen Taxi-Schlange fuhr.

»Piazza del Plebiscito, per favore

Pia fragte sich, ob sie dem jungen Taxifahrer wie eine Frau von Welt erschien. Sie wünschte sich das sehr. Wollte, aus welchem Grund auch immer, nicht wie das wirken, was sie eigentlich war: eine Frau aus der weit entfernten salernitanischen Provinz.

»Bella Piazza del Plebiscito, vero? Haben Sie hier geschäftlich zu tun, Signò?

Offensichtlich war der Taxifahrer auf ein Gespräch aus. Pia sollte es recht sein, freute sich sogar, dass er vermutete, sie sei geschäftlich in der Stadt.

»Ich besuche meine Tochter«, gab sie offen zu.

»Sie haben eine Tochter, die alt genug ist, allein hier zu leben? Kann ich gar nicht glauben.«

Pia lächelte, erschrak kurz, als der Fahrer eine rote Ampel komplett ignorierte, rief sich aber wieder ins Gedächtnis, wo sie eigentlich war und was über den Verkehr in dieser Stadt erzählt wurde.

»Sie studiert hier.«

»Ah. Unsere Uni ist die beste. Gute Wahl.«

»Davon bin ich überzeugt.«

»Stellen Sie sich vor, meine Schwester ist hingegen nach Mailand, um zu studieren. Ich meine, Mailand!«

Der junge Mann schnalzte abfällig mit der Zunge.

»Mailand ist aber doch auch eine sehr schöne Stadt«, wagte Pia einzuwenden.

»Schön? Bah! Das hier ist schön. Napule into core sempe! Neapel ist in meinem Herzen, Signò

Er zeigte auf die wundervollen palazzi, die rechts und links die Straße säumten, ließ dabei das Steuerrad komplett los und brachte Pia dazu, ein Stoßgebet gen Himmel zu richten. Sterben wollte sie eigentlich noch nicht. Irgendwie hatte der Mann aber recht. Neapel war reizend. Und Neapel lag am Meer. Was der Stadt in Pias Augen gleich tausend Pluspunkte verlieh.

»Eccoci!«, informierte der Fahrer sie. Er hielt direkt an der wundervollen Piazza und gewährte ihr sogar Rabatt. »Signò, Napule into core sempe!«, rief er ihr statt eines Grußes zu, wobei er sich theatralisch eine Hand aufs Herz hielt.

Pia ging zum Geländer hin, das die Piazza elegant vom direkt darunterliegenden Meer trennte. Sie atmete tief durch und sog genüsslich den typisch fischigen Duft ein. Die Sonne wärmte ihr Gesicht und eine Möwe zeigte gerade, zu welch eleganten Bewegungen sie fähig war. Pia entdeckte einen Fischer, der wie jemand wirkte, der in einer Blase der Zufriedenheit lebte. Unwillkürlich beneidete sie ihn um seine Gelassenheit. Über ihm tobte die Stadt, in seinem Universum hingegen gab es nur ihn, seine Angel und das Meer. Sie konnte nicht anders, als sich an diesem beinahe poetischen Anblick zu ergötzen, und fand ihre eigenen Probleme gerade richtig winzig.

Dann hob sie den Blick.

Der Vesuv.

Herrlich.

Sie ließ das Bild des harmonisch wirkenden Hügels über dem Blau des Meeres so lange auf sich wirken, bis sie sich sicher war, dass es sich für immer in ihre Netzhaut eingebrannt hatte.

»Mamma

Miriana kreischte. Sie war überrascht. Und total erfreut. Das merkte Pia an den kleinen Flecken, die sich an ihrem Hals gebildet hatten.

»Was ist? Lässt du mich nicht rein?«

Statt ihre Mutter hereinzulassen, warf Miriana sich ihr an den Hals. Pia fiel beinahe um, war sich bei der Wärme des körperlichen Kontakts aber plötzlich sicher, genau das Richtige getan zu haben.

»Cool … Ich meine, ich finde es echt cool, dass du hier bist.«

Endlich machte Miriana den Weg in die Wohnung frei. Innen war es überraschend ruhig. Überraschend aufgeräumt. Überraschend wenig Uni-WG, dachte Pia. Oder hatte sie sich einfach ein falsches Bild gemacht?

»Wollen wir gleich in mein Zimmer, Ma?«

»Gerne.«

Das Zimmer war hübsch, sonnendurchflutet, und Pia erkannte zwei ihrer Kissen wieder, die sie im ganzen Haus gesucht hatte.

»Es ist richtig toll!«

»Ja, nicht?«

Miriana ließ sich gewohnt lässig aufs Bett fallen, und Pia hatte plötzlich Lust, es ihr nachzutun.

»Ja, Ma, lass dich fallen!«, riet Miriana ihr, und sie wusste wohl gar nicht, wie recht sie mit ihrer Aufforderung hatte.

Pia streckte sich neben ihrer Tochter aus und blickte zusammen mit ihr an die Decke. Es war ungewohnt und gleichzeitig vertraut.

Miriana sprach als Erste wieder, drehte sich Pia zu und lehnte ihren Kopf auf den angewinkelten Arm.

»Was ist das hier jetzt, Ma? Ich meine … Was ist los mit dir?«

»Ich brauchte mal eine Auszeit.«

Das klang so einfach. Und so richtig. Die Schritte bis zu dieser Erkenntnis waren aber die schwierigsten gewesen, die Pia jemals gegangen war.

»Kann ich mir vorstellen. Du hast ja nie, nie, nie Urlaub gemacht. Und wir sind alle manchmal echt anstrengend.«

»Ja, das seid ihr manchmal …«

Pia ließ den Satz in der Luft hängen.

»Aber, ich meine, was hast du jetzt vor?«

Ihre Tochter wollte es ganz genau wissen. So war sie schon immer gewesen. Selbst wenn es um ein Rezept ging, musste Miriana alle Zutaten kennen. Und die Garzeit. Und die Art und Weise, wie man eine Zutat dazuzumischen hatte. Und am besten noch, in welchem Supermarkt man die Zutat bekam.

»Ich weiß es nicht«, gab Pia daher offen zu. Was sie ihrer Tochter jetzt schuldete, war die Wahrheit.

»Du wirst aber doch wieder zurückgehen, oder?«

Ein deutliches Ja lag Pia bereits auf den Lippen.

»Das weiß ich auch nicht«, war hingegen das, was sie letztendlich sagte.

Miriana legte sich wieder auf den Rücken. Sie seufzte. Und Pia nahm ihre Hand. Alles gut, wollte sie damit ausdrücken.

»Weißt du, Ma, neulich, als ich dich nachts angerufen habe, da war ich nicht auf Drogen oder so. Ich meine, hey, ich muss auf dich wie eine Irre gewirkt haben. Mitten in der Nacht sollst du mir ein Lied singen …« Miriana kicherte. Und Pia war froh, dass sie darüber lachen konnte.

»Okay. Keine Drogen … sondern …?«

»Ach, ich meine, ich hatte etwas mit einem Typen.«

Pia wartete ab. War sich nicht sicher, was genau das bedeutete. Sie spürte aber, dass Miriana gerade mit sich haderte.

»So richtig, meine ich.«

Hat er dir wehgetan? Hast du dich geschützt? Wolltest du es auch? Wer ist dieser Typ? Tausende besorgte Fragen schossen durch Pias Kopf. Sie schluckte sie allesamt herunter.

»Bist du sauer?«

Pia richtete sich auf, winkelte die Beine an, lehnte sich gegen die Wand. Sie legte die Arme über die Knie, die merklich zitterten.

»Wie könnte ich, Miriana? Wie könnte ich sauer auf dich sein, Schatz? Sex gehört dazu. Klar, es gibt Regeln, die man einhalten muss. Aber die kennst du alle.«

»Nicht alle …«

Oh Gott, sie ist schwanger!, dachte Pia panisch.

»Wie meinst du das jetzt?«, stieß sie hervor.

»Regel Nummer 273: Lass dich nicht von einem Typen verarschen! Klartext: Ich war nur eine Wette. Hops ins Bett und dann arrivederci

»Oh, verdammt!«

Pia legte einen Arm um Miriana.

»Ja, das kannst du laut sagen.«

»Es tut mir leid, Miri.«

»Mir allerdings auch.«

»Weißt du, diese Erfahrungen gehören irgendwie dazu, Schatz. Das Leben besteht aus ganz vielen kleinen Päckchen. Mal ist etwas Schönes drin, mal etwas Hässliches. Meist sind die hässlichen leider gerade die, die notwendig sind, um zu den vielen, vielen schönen zu gelangen.«

»Schöner Scheiß!«

»Ich weiß. Und ich muss gestehen, dass ich mir Vorwürfe mache.«

»Wieso denn das?«

»Weil ich dich nicht richtig auf das Leben vorbereitet habe. Ich habe dich viel zu sehr beschützt. Die hässlichen Dinge von dir ferngehalten und dich vor der Abreise nicht einmal vor Typen gewarnt, die einfach Idioten sind.«

»Bist du etwa deshalb hier?«

»Ja. Ich wollte … Ich meine, ich wollte das zumindest teilweise nachholen, Miri. Du bist stark. Stärker, als du glaubst. Und ich will, dass aus dir eine tolle, unabhängige Frau wird. Vielleicht habe ich es vermasselt. Aber vielleicht sage ich dir die richtigen Worte doch noch rechtzeitig.«

»Mensch, Ma, ernsthaft? Wenn ich hier sitze und dir doch so cool von einer echt beschissenen Begebenheit erzählen kann, dann habe ich das doch einzig und allein deiner Erziehung zu verdanken. Ja, ich hatte eine echt üble Nacht. Aber, hey, ich habe mir von dir was vorsingen lassen und dann war es wieder gut. Ma, ich glaube, du weißt gar nicht, was für eine Stärke und Kraft du ausstrahlst. Wenn ich nur ein bisschen nach dir gerate, dann kann mir im Leben rein gar nichts passieren. Klar?«

Pia versuchte, die Worte ihrer Tochter zu verarbeiten. Ein größeres Kompliment hatte sie noch nicht erhalten.

»Das sagst du nicht einfach so daher?«

Ein bisschen hasste Pia sich für die Unsicherheit, die in ihrer Stimme mitklang.

»Ma, sehe ich etwa so aus?«

Sie schaute ihre Tochter an.

»Nein, nicht wirklich.«

»Sag ich doch.«

Pia sah, wie ihre Tochter grinste, und merkte erleichtert, wie auch ihre Mundwinkel sich hoben.

»Tja, und jetzt?«

»Ich habe irgendwie Lust auf Pizza!«

»Oh. Cool. Weiter vorne in der Gasse können wir uns eine holen. Hast du Lust?«

»Ja. Definitiv. Und Äpfel brauche ich.«

»Sag bloß, du willst hier einen Apfelkuchen backen.«

»Was dagegen?«

»Absolut nicht.«