Kapitel 25

»Magst du Pizza, William?«

»Sehr. Ich mag Italien generell. Vor allem italienische Pizza. Und italienische Frauen natürlich.«

Tiziana schaute kurz weg. Er wusste inzwischen, dass sie das immer dann tat, wenn sie nicht wollte, dass er ihre roten Wangen sah. Dabei fand er gerade das so unheimlich anziehend an ihr. Sie war keine Schauspielerin. Jede Gefühlsregung zeichnete sich deutlich in ihrem Gesicht ab. Und er fand Gefallen daran, sie etwas zu necken. Ihre herausfordernde Art, hinter der sich ein unschuldiges Wesen verbarg, weckte einerseits seinen Beschützerinstinkt, andererseits sein Verlangen. Diese gegensätzliche Mischung machte es ihm schwer, ihr zu widerstehen. Er sehnte sich danach, sie zu berühren. Tat es auch sehr oft, ohne dabei eine gewisse Grenze zu überschreiten. Dass sie das mochte, merkte er an ihrer Gänsehaut.

»Dann sind wir hier wohl genau richtig. Im Castello ist alles italienisch. Sogar die Stühle«, gab Tiziana sich kokett.

»Auf die freue ich mich ganz besonders«, scherzte William.

Sie betraten das kleine Lokal, das in einer verwinkelten Gasse in Camerota lag. Plötzlich wurde William klar, wie schwierig es für Tiziana sein musste, sich mit ihm zu zeigen, denn alle Anwesenden – nicht viele, um ehrlich zu sein – drehten sich ganz ungeniert zu ihnen um.

Tiziana grüßte in die Runde. William hob die Hand.

»Mein Onkel«, informierte Tiziana ihn und zeigte dabei auf einen bärtigen Mann, der einem Fußballspiel auf dem Bildschirm folgte.

Sie setzten sich, und Williams Blick verweilte einen Moment zu lange auf Tizianas Gesicht, die nicht wegschaute.

»Was darf’s sein?«, tönte es vom Tresen aus in ihre Richtung.

»Bier?«

»Gern.«

»Due birre

»William, ich wollte dir mal ganz offiziell danken. Dafür, dass du Pasquale mit seinem komischen Umbau hilfst. Und dafür, dass du davor für mich und Pia gekocht hast. Es ist … Ja, es ist mir peinlich, dass du während deines Urlaubs auf so eine irre Situation gestoßen bist. Du weißt hoffentlich, dass du dich sofort aus der Sache auslinken kannst.«

»Und was ist, wenn ich es gerne tue?«

Tiziana setzte das Glas ab, das der Barmann ihnen gebracht hatte. Sie hatte einen großen Schluck genommen. William konnte den Abdruck ihres Lippenstiftes darauf erkennen. Hastig wischte sie die Spur mit den Fingern weg.

»Das kann ich mir kaum vorstellen …«

»Und wenn ich dir erzähle, dass ich in Seattle vor Einsamkeit eingehe und mir nichts sehnlicher wünsche, als Menschen um mich zu haben, die mich brauchen? Die der Tatsache, dass ich morgens aufstehe, einen Sinn geben?«

Tiziana ließ die Worte eine Weile auf sich wirken. William merkte, dass sie sich detailliert Gedanken darüber machte.

»Ich weiß so wenig über dich, William.«

Es klang traurig, wie sie das sagte.

»Dann frag mich aus, Tiziana. Ich bin hier und ich bin bereit, dir alles über mich zu erzählen.«

»Das reicht nicht, William.«

»Wieso nicht?«

William beugte sich zu ihr hin. Noch nie hatte er so dringend das Bedürfnis verspürt, eine Frau zu berühren.

»Weil du am Ende trotzdem nach Seattle zurückgehen wirst.«

»Lass uns Seattle doch einfach eine Weile lang vergessen«, schlug er vor, hörte aber selbst, wie verzweifelt er dabei klang.

»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«

Die Pizza, die herbeigebracht wurde, lenkte sie ab. Aber William konnte nicht sagen, ob sie ihm schmeckte. Er war sich gar nicht richtig bewusst, was er überhaupt kaute und schluckte. Ihm war nur eines ganz klar: Dass er diese Chance, sich endlich wieder lebendig zu fühlen, nicht verlieren wollte. Dennoch ließ er das Thema fallen. Ihm lag zu viel an Tiziana, um sie in irgendeiner Form zu bedrängen oder in Verlegenheit zu bringen. Dabei wusste er selbst nicht, wie sie überhaupt in diese Situation geraten waren. Da war einfach diese starke Anziehungskraft zwischen ihnen. Eine Art Magie. Und alles andere wurde dabei nebensächlich.

Sie brachten das Essen irgendwie hinter sich, verließen das Castello schon sehr früh. Ein sagenhafter Mond zeigte sich am nächtlichen Himmel und erleuchtete die Gasse schwach, die zu Tizianas Wohnung führte.

»Weißt du, das Leben hat mir beigebracht, dass man jede Chance nutzen muss«, sagte Tiziana, als sie vor ihrer Haustür hielten. »Ein Augenblick nur, und alles kann vorbei sein. Ich werde sehr leiden, wenn du gehst. Aber ich würde es mir niemals verzeihen, wenn ich diese Chance, ein bisschen Glückseligkeit zu erleben, einfach so an mir vorbeiziehen lassen würde.«

William schluckte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Worte so eine Wirkung auf ihn haben würden. Sein Herz pochte wild und die Sehnsucht nach einem Kuss war überwältigend. Tizianas Lippen zogen ihn magisch an. Er konnte sich, seine Gefühle, seinen Kopf und sein Handeln einfach nicht mehr steuern. Ihr warmer Mund war zu seinem einzigen Ziel geworden.

»Ich werde dich jetzt küssen, Tiziana«, raunte er und machte einen Schritt auf sie zu.

Tiziana lehnte an der Hauswand. Ihr Atem ging schnell. Das Heben und Senken ihrer Brust war zu viel für William. Er streckte die Hand aus, spürte ihr seidiges Haar unter seinen Fingerspitzen, schloss die Augen und suchte ihren Mund. Sein eigenes Stöhnen war das Letzte, was er bewusst wahrnahm. Vielleicht war er ihr gefolgt, hinauf in ihre Wohnung. Vielleicht waren sie gemeinsam in ihr Schlafzimmer gegangen. Vielleicht hatte er sie in quälender Ekstase entkleidet. Und vielleicht war das alles unheimlich dumm, weil große Gefühle große Verantwortung bedeuten. Aber um nichts in der Welt hätte er dieses Erlebnis mit Tiziana missen wollen. Ihr Gesicht im Mondschein würde er niemals vergessen.

»Vergiss es!«

»Ach, Ma, komm schon. Das ist der beste Platz überhaupt.«

»Genau. Der beste Platz, wenn man vier Stockwerke hinunterfallen und sich dabei das Genick brechen möchte.«

Pia war schockiert und wollte nicht sehen, wie ihr Kind auf dem Fensterbrett saß und Pizza aß.

»Guarda che luna!«, sang Miriana. »Willst du dir im Ernst diesen Mond entgehen lassen?«

Ach verdammt! Vielleicht konnte sie ja mal über ihren eigenen Schatten springen. Vorsichtig nahm sie neben Miriana Platz. Ihr wurde augenblicklich schwindelig. Gleichzeitig schien ihr der Mond tatsächlich zum Greifen nah.

»Na los! Gib mir ein Stück Pizza.«

Miriana reichte ihr ein triefendes Margherita-Stück. Der Duft ließ Pia das Wasser im Mund zusammenlaufen.

»War doch besser, dass wir mit dem Pizzaessen bis zum Abend gewartet haben, hm, Ma?«

»Ja. Und der Mond ist wirklich toll. Irgendwie romantisch hier oben.«

Pia dachte an den Fischer, den sie an der Piazza gesehen hatte. Auch sie fühlte sich jetzt wie in einer Wohlfühl-Blase, hier mit Miri. So weit weg von ihren Problemen.

»Magst du mir mal von deinem gemeinen Typen erzählen?«

Wenn jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt für Mädchengespräche war, wann dann?

Miriana zuckte mit den Achseln, nahm noch einen Bissen Pizza.

»Von mir aus. Aber nachher bist du dran.«

»Ich kenne keinen gemeinen Typen.«

»Haha. Du weißt genau was ich meine, Signora Pia. Auch du wirst dich nicht ewig vor deinen Verantwortungen drücken können«, imitierte Miriana den Tonfall ihres Vaters.

»Dio santo, ich habe ein Monster erschaffen.«

Miriana lachte laut, legte dann aber los: »Also, was willst du hören?«

»Zum Beispiel, wie er heißt. Und wie er aussieht.«

»Ich wünschte, ich könnte sagen, dass er echt beschissen aussieht. Aber das stimmt leider nicht. Er sieht so gut aus, dass es in den Augen schmerzt, Ma. Also, so richtig. Dafür hat er einen total bescheuerten Namen.«

»Sag schon.«

»Isidoro.«

Pia prustete los und bemerkte, wie zerkaute Pizza-Stückchen auf Mirianas Hand landeten.

»Igitt.«

Miriana trocknete ihre Hand sofort an Pias Hose ab.

»Isidoro ist schon wirklich ungewöhnlich.«

»Ja. Seinen richtigen Namen kennen natürlich nur wenige. Ganz bescheiden darf man ihn Il Principe nennen, wenn man eine Antwort von ihm will.«

»Oh. Klingt irgendwie eitel.«

»Ein bisschen schon. Aber er singt in einer Band. Das ist also praktisch sein Künstlername.«

»Vielleicht könnt ihr euch mal aussprechen?«

»Da gibt es nichts zu sagen. Jungs lasse ich jetzt erst einmal sein.«

Pia setzte einen ironischen Blick auf.

»Nein, ehrlich, Ma. Ich bin hier, weil ich was lernen will. Damit meine ich nicht nur das Studium, weißt du? Jungs sind mir dabei nur hinderlich.«

Santo cielo, wann war denn das passiert, dass ihre kleine Miriana erwachsen geworden war? Sie klang so vernünftig. Und Pia kannte ihre Tochter gut genug, um zu wissen, dass sie jedes ihrer Worte ernst meinte.

Sie hatte sich umsonst Sorgen gemacht. Und Pasquale hatte sie zurecht auf ihre übertriebenen Ängste hingewiesen.

Ach, Pasquale.

»Jetzt bist du aber dran, Ma!«

Pia stieg vom Fensterbrett, ließ Neapels Nacht draußen und legte sich aufs Bett.

»Kennst du das, wenn man richtig glücklich ist? Selbst wenn es nur ein paar Sekunden dauert, das richtige Glücksgefühl hält einen, wenn es sein muss, über Monate warm. Verstehst du, was ich meine?«

Miriana nickte, legte das letzte Stück Pizza zurück auf das Papier, das der Straßenverkäufer zum Zusammenrollen benutzt hatte.

»Ich kann mich nicht mehr an meinen letzten Glücksmoment erinnern«, fuhr Pia fort.

Sie merkte, wie ihre Worte den Raum füllten. Und sie fand es befreiend, die Dinge mal beim Namen zu nennen.

»Der Alltag hat mich aufgefressen. Schuld daran bin nur ich selbst. Wahrscheinlich habe ich so oft zurückgesteckt, dass ich dabei mich selbst verloren habe. Und jetzt muss ich das wiedergutmachen.«

»Und das alles macht dich sauer auf papà

Darüber musste Pia erst einmal nachdenken.

»Ich glaube, ich bin sauer auf ihn, weil er das nicht erkannt hat.«

»Naja, aber du weißt doch, wie Männer sind«, erklärte Miriana und verdrehte die Augen.

»Klar. Ich verlange ja auch nicht von ihm, dass er für mich das Glück neu erfindet. Ein bisschen Verständnis aber, das brauche ich von ihm.«

»Papà liebt dich.«

»Das weiß ich, Miri. Und ich liebe ihn.«

»Aber du weißt nicht, ob das reicht.«

Eine Feststellung. Keine Frage.

»Gegenseitige Liebe, das ist schon sehr viel mehr, als so manches Paar hat.«

»Fährst du also wieder nach Hause?«

»Natürlich!«

Pia hatte es selbst noch nicht gewusst, bis sie es ausgesprochen hatte.

Nach Hause.

Aber ja!

Sie würden das schon irgendwie hinbekommen.

Ganz sicher.

Und wenn sie ehrlich war, dann vermisste sie Pasquale bereits.

»Was passiert mit nonna

Sandrina.

»Da wird uns schon etwas einfallen.«

Woher sie diese Zuversicht nahm, war ihr schleierhaft.

»Ma, ich bin total müde. Wollen wir schlafen?«

Pia nickte, war selbst schon ganz schläfrig.

Angezogen, wie sie waren, streckten sie sich auf dem Bett aus und kuschelten sich aneinander. Das war so angenehm, dass sie schon bald entspannt einschliefen.

Am nächsten Morgen holte Mirianas Handy sie beide unsanft aus dem Schlaf.

»Ja?«, meldete sich Miriana mit belegter Stimme. »Hi, Giò. Ja, sie ist hier. Okay. Ma, es ist Giovanna.«

Pia nahm das Gerät entgegen, richtete sich mühsam auf. Irgendwie fühlte sie sich komplett erschlagen. Sie hatte so tief geschlafen, dass ihr das Erwachen vorkam wie ein Aufstieg aus dem Zentrum der Erde.

»Hallo Schatz, tut mir leid, dass ich nicht zurückgerufen habe …«

»Ich bin schwanger.«

Mit einem Mal war Pia hellwach. Sie kreischte sogar – fast so gekonnt wir Miriana – vor Freude.

»Oh, was für eine tolle Nachricht, Schatz. Ich freue mich so.«

Erst jetzt bemerkte sie, dass Giovanna schwieg.

»Du freust dich doch auch?«

»Ja, natürlich …«

»Aber?«

»Aber mein Chef, der mitbekommen hat, wie ich bei der Arbeit gekotzt habe, fragt jetzt schon, wann ich nach der Geburt vorhabe, meinen Posten wieder einzunehmen.«

Pia wusste, wie viel Giovanna an ihrer Arbeit lag. Sie hatte das Immobilienbüro mitaufgebaut, ihre ganze Professionalität eingebracht und diverse wichtige Verkäufe geleitet. Giovanna konnte sich vermutlich nichts Schlimmeres vorstellen, als ihren Job zu verlieren.

»Du hast doch als Mutter deine Rechte.«

»Ach, Rechte, mamma. Komm mir nicht mit Rechten! Du weißt doch, wie das läuft. Man ist schneller weg vom Fenster, als man schauen kann.«

»Ich finde trotzdem nicht, dass der Job deine Freude auf das Kind trüben sollte.«

Miriana gestikulierte neben ihr wild. Registrierte wohl erst jetzt, dass sie bald Tante werden würde.

»Ich bin so in Sorge, mamma. Kannst du dich denn nicht um das Kind kümmern? Danach meine ich? Ihr baut doch ohnehin gerade um. Meinst du, ein Zimmer für das Kind springt auch dabei heraus?«

»Aber sicher doch«, sagte Pia ganz automatisch. Aber sie war immer noch dabei, diverse Informationen zu verarbeiten.

Zum einen fühlte sie sich gerade von der Tatsache überrumpelt, dass Pasquale, obwohl sie gegangen war, seinen Umbau offenbar trotzdem begonnen hatte. Ohne Rücksprache mit ihr. War es ihm denn ganz egal, dass sie weg war? Wie hatte sie sich nur so sehr in ihrem Mann täuschen können? Zum anderen war ihr, bei aller Liebe, einfach nicht danach, sich rund um die Uhr um einen Säugling zu kümmern.

»Fantastisch!«, bemerkte Giovanna gerade. »Dann kann ich papà ja Bescheid geben.« Und schon war sie aus der Leitung verschwunden.

Pia fiel das Handy aus der kraftlosen Hand.

Sie musste das klären. Und zwar sofort.

»Miri, ich muss los!«

Voller Hektik packte sie und verließ die WG.

Sie musste das klären. Einfach nur klären.