Camerota, Ende September
Don Rosario nahm sich die Freiheit, einmal auszuschlafen. Noch nie hatte er sich so erschöpft gefühlt wie an diesem Tag. Er lag einfach nur da. Und genoss die Stille. Von irgendwoher drangen Kinderstimmen an sein Ohr. Sie stritten um einen Ball. Don Rosario seufzte. Er liebte Camerota so sehr. Hier war die Welt noch heil. Wenn er da an all die schrecklichen Dinge dachte, die anderswo passierten, konnte er mit Stolz behaupten, dass sein kleiner Ort, hoch oben auf dem Hügel, bisher gegen jegliche Art von Gewalt immun gewesen war. Aber wie lange noch? Wann würden die Kinder, die sich jetzt um den Ball stritten, das Messer zücken und sich wegen einer ebenso banalen Angelegenheit gegenseitig abstechen? Don Rosario spürte, dass er nicht mehr die Kraft hatte, sich dem Bösen zu stellen.
Er hatte das Böse am falschen Ort zu finden geglaubt. Wie sehr hatte er sich getäuscht, oh, wie sehr. Es tat ihm im Herzen weh, dass er Pia beleidigt hatte. Das hatte sie wahrlich nicht verdient. Und die Tatsache, dass er es dann auch noch groß an die Glocke gehängt hatte während seiner Predigt in der Kirche … Also, darauf war er wirklich nicht stolz. Vielleicht hatte er mit dieser Geste nur sein schlechtes Gewissen zum Schweigen bringen wollen.
Nein, er fühlte sich gerade gar nicht wohl in seiner Haut. Müde erhob er sich und machte sich auf den Weg in die Küche. Er hatte ein paar dringende Dinge zu erledigen. Die konnte er einfach nicht mehr vor sich her schieben. Und heute wollte er sich richtig Mühe geben und gepflegt aussehen. Vor allem sein Haar musste ordentlich sein.
Unglaublich. Da hatte er so lange und ohne Erfolg nach dem richtigen Kamm gesucht, und am Vortag plötzlich war Antonio beim Aufräumen zwischen den Bänken auf das größte Geschenk gestoßen, das Don Rosario jemals erhalten hatte.
»Don Rosà, sehen Sie mal! Den habe ich gerade gefunden. Soll ich den entsorgen?«, hatte Antonio gefragt und ihm den wunderschönen Kamm hingehalten. Einen mit feinen, ganz eng aneinanderliegenden Zähnen. Schwarz. Glänzend. Wie neu.
Fast ehrfürchtig hatte Don Rosario den Kamm an sich genommen.
»Nein, nein. Wegwerfen werden wir den bestimmt nicht. Wäre doch schade drum.«
Jetzt stand er also in der Küche, fuhr sich mit dem Kamm durchs Haar und wusste, ohne in den Spiegel zu schauen, dass es perfekt saß.
Er zog sich an und blickte sich noch einmal in der winzigen Wohnung um, bevor er aufbrach. Er hatte ein ganzes Stück zu laufen. Aber das machte ihm an diesem Tag nichts aus. Er genoss sogar die Sonne, die ihm den Nacken wärmte, und deutete das wohlige Gefühl, das sich dabei in ihm ausbreitete, als gutes Omen.
Als er das Wohnhaus erreichte, war er etwas aus der Puste, aber sehr froh, endlich konkret etwas zu tun, um seinen Fehler wiedergutzumachen. Er klopfte an und hörte, wie ein Kind heiter kreischend zur Tür rannte. Pasquale Pio.
»Du musst immer erst fragen, wer da ist, okay?«, hörte er Elide geduldig erzählen. Die gute Elide.
»Wer ist da?«, erkundigte sich Pasquale Pio mit lieblicher Stimme.
»Don Rosario.«
Sofort wurde die Tür aufgerissen.
»Ist etwas passiert?«, erkundigte sich Elide, ohne ihn erst einmal zu grüßen. Er sah einen Augenblick lang die kleine, verschreckte Elide vor sich stehen, die er vor vielen Jahren aus dem Heim geholt hatte. Wann würde das Mädchen jemals lernen, sich zu entspannen.
»Nein, nein«, sagte er beschwichtigend. »Kann ich kurz rein?«
»Natürlich!« Elide trat zur Seite. »Kommen Sie!«
Don Rosario bemerkte am Rande, wie nett die Wohnung eingerichtet war. Hübsch, richtig hübsch. Er ließ sich von Elide ins Wohnzimmer führen, setzte sich aufs Sofa und zog ein Spielzeugauto unter seinem Hintern hervor. Pasquale Pio nahm es ihm sofort aus der Hand.
»Ich will es kurz machen, Elide.«
Sie schaute ihn erwartungsvoll und wachsam an. Schwieg aber.
»Vergib Pia. Sie hat nichts Unrechtes getan.«
Elide senkte jetzt den Blick.
»Ich weiß, dass du Angst davor hast, sie zu sehr zu lieben, weil du schon einmal von einer mamma verlassen worden bist. Aber Pia ist nicht so wie deine leibliche Mutter. Sie würde dich niemals verlassen. Sie liebt dich wirklich.«
Diverse Male schluckte Elide, bevor sie antworten konnte.
»Ach ja? Und wo ist sie dann jetzt?«
»Wir haben sie verjagt, Elide. Dass sie im Moment nicht daheim ist, ist größtenteils unsere Schuld. Meine wie deine. Pasquales Schuld. Sandrinas Schuld. Ermannos Schuld. Wir alle sind schuld. Wir haben sie nicht verstanden. Gerade sie, die immer so verständnisvoll anderen gegenüber ist. Was ich damit sagen will, Elide: Du lenkst deine Liebe und Dankbarkeit auf die falsche Person. Ich habe nichts getan, um deine Solidarität zu verdienen. Du hast jetzt eine Familie. Du bist sicher. Öffne dich ihnen gegenüber, so wie du es Clemente gegenüber getan hast. Zeig ihnen, zeig Pia, wie wunderschön deine Seele ist. Glaub mir, du wirst es nicht bereuen.«
Daraufhin schwieg Elide ganz lange, während Pasquale Pio, der wohl merkte, dass in seiner Mutter etwas vorging, sie nur aufmerksam aus seinen dunklen Kulleraugen beobachtete.
Irgendwann nickte sie. Und als Don Rosario bemerkte, dass stumme Tränen an ihren blassen Wangen herunterliefen, war er sicher, dass seine Worte etwas bewirkt hatten. Noch nie, nie, nie hatte er Elide weinen gesehen. Als junges Mädchen nicht. Als junge Frau erst recht nicht. Er nahm ihre Hand, sah dabei zu, wie sie ihn so fest packte, dass ihre Knochen weiß hervortraten.
»Warum nur musste sie fort?«, presste Elide hervor und wischte sich mit der freien Hand über das Gesicht.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Don Rosario wahrheitsgemäß.
»Aber sie wird doch wiederkommen? Ich meine … Sie kann uns nicht so einfach verlassen, oder? Wir brauchen sie!«
»Natürlich wird sie wiederkommen!«
Davon war Don Rosario überzeugt. Woher er aber die Überzeugung nahm, wusste er selbst nicht genau zu sagen.
Er erhob sich, strich Elide über den Kopf. Hier war erst einmal alles gesagt worden.
Und jetzt, jetzt kam der wirklich schwierige Part seines Vorhabens. Er musste mit Sandrina reden.
Don Rosario nahm sich ein bisschen Zeit, um sich zu sammeln. Ganz gemächlich verließ er Camerota und ging die Straße entlang, die zu Pasquales und Pias Haus führte. Er merkte dabei, wie die Natur ganz allmählich ihre Vorkehrungen für die kältere Jahreszeit traf. Die Olivenbäume, die die Straße säumten, trugen unzählige Früchte. Noch waren sie nicht reif. Aber mit Gottes Hilfe würden die Bewohner von Camerota auch dieses Jahr wieder reichlich Olivenöl produzieren können. Zyklisch erneuerte sich die Natur von Jahr zu Jahr. Don Rosario fand diesen Gedanken wunderschön. Und ermutigend. Und Mut, den brauchte er jetzt irgendwie, denn er war es nicht gewöhnt, seine Macht wirklich einzusetzen. Er tat es auch nicht gerne. Aber in diesem Fall, ja, da musste es einfach mal sein.
Etwas entschlossener betrat er die Auffahrt zum Haus. Er hörte es bereits aus dieser Entfernung klopfen und hämmern. Das hielt ihn aber nicht davon ab, seinen Plan weiter fortzuführen. Als er die Haustür erreichte, klingelte er.
Sandrina öffnete.
Sie war erfreut, ihn zu sehen.
»Don Rosario, buongiorno. Kommen Sie rein.«
»Eigentlich will ich nicht lange stören.«
»Wollen Sie vor der Haustür stehen bleiben?«
»Unter diesen Umständen ist es vielleicht besser …«
»Ach, Don Rosario, Sie wollen sicher mit mir schimpfen, weil ich in Pia den Teufel vermutet habe, aber …«
»Nein. Ich bin eigentlich aus ganz anderem Grund hier.«
»Na schön. Sagen Sie schon!«
Die Alte war etwas verunsichert. Das konnte er an ihren Augen erkennen, die nicht stillhielten, sondern hin und her glitten, wie Kugeln beim Flipper.
Don Rosario überlegte eine Weile. Er wusste nicht, wie er das Thema einleiten sollte. Es gab seiner Meinung nach keine Möglichkeit, seine … Bitte … schöner oder anders zu formulieren. Also fiel er einfach mit der Tür ins Haus.
»Nach so langen Jahren denke ich, dass es an der Zeit ist, deinen Söhnen reinen Wein einzuschenken.«
Treffer, versenkt.
Sandrina torkelte ein paar Schritte zurück, war aber rational genug, um die Tür etwas hinter sich zuzuziehen.
»Was … Was sagen Sie denn da?«
»Das hast du schon verstanden. Pasquale und Ermanno sollten wissen, dass sie Halbbrüder sind.«
»Nie im Leben«, zischte Sandrina regelrecht und beugte sich dabei zu ihm vor.
Was diese Geste zu bedeuten hatte, war Don Rosario nicht wirklich klar. Eine Drohung? Ein Angriff? Nur Show?
Er hatte jedenfalls keine Lust auf lange Debatten. Seiner Meinung nach gab es da gar nichts zu diskutieren.
»Du weißt, was zu tun ist, Sandrina«, beendete er also das Gespräch.
Mehr sagte er nicht. Mehr war auch nicht zu sagen.
Er wollte glauben, dass Sandrina seinen Rat befolgen würde. Diese Aufgabe konnte er ihr nicht abnehmen. Aber Ermanno immer noch zu verheimlichen, dass Mario nicht sein leiblicher Vater gewesen war, hatte jetzt keinen Sinn mehr. Der Moment war gekommen, dieser Familie zu Ehrlichkeit und Ruhe zu verhelfen.
»Und jetzt hol mir bitte Pasquale, ja?«
Ob es der Schock war oder es an seinem Tonfall lag, konnte Don Rosario nicht sagen. Sandrina jedenfalls lief beinahe ins Haus hinein und rief so laut nach Pasquale, dass man sie wohl bis hinunter nach Marina hören konnte.
Pasquale kam mit gesenktem Kopf zur Tür, hob ihn erst, als er praktisch schon vor Don Rosario stand.
Er sah müde aus. Etwas erloschen. Dennoch blitzte in seinen Augen ein Anflug von Tatendrang. Pasquale wischte sich den Schweiß von der staubigen Stirn. Und er wartete einfach nur ab.
»Pasquale, können wir reden?«
»Ich wüsste ja nur zu gerne, warum plötzlich alle mit mir reden wollen.«
Das klang genervt. Abweisend. Aber das war Don Rosario egal. Seine Mission würde er an diesem Morgen zu Ende bringen. So oder so.
»Nun, dann rede ich einfach, und du hörst zu«, schlug Don Rosario vor, der ganz genau wusste, wie man Pasquale nehmen musste.
»Kein Wort über Pia! Kein einziges Wort über sie.«
Wie verzweifelt er war, ließ Pasquale erst jetzt durchblicken.
Don Rosario verstand nicht, warum er jeden abblockte, der auch nur ein Wort über Pia verlieren wollte. Tiziana hatte es versucht. Sie hatte Pasquale beruhigen und ihm mitteilen wollen, dass Pia wohlauf und in Rom war. Pasquale hatte es nicht zugelassen. Dabei war Don Rosario sich so sicher, dass alles in diesem Mann danach schrie, eine Information über seine Frau zu erhalten. Er musste doch umkommen vor Sorge!
»Gut. Kein Wort über Pia.« Don Rosario hob die Hände. »Wollen wir ein paar Schritte gehen?«
Pasquale zuckte mit den Achseln, sah aber etwas erleichtert aus. Legte dann letztendlich sein Werkzeug weg und drehte sich in Richtung Garten. Don Rosario folgte ihm.
Im Garten standen Möbel herum. Dazwischen lagen Werkzeug sowie Bau- und Verpackungsmaterialien. Irgendwie war Don Rosario sogar froh, dass Pia sich das nicht mitansehen musste. Ehrlich gesagt war ihm schleierhaft, wie Pasquale in so einem Moment auch nur daran denken konnte, sein Haus praktisch auf den Kopf zu stellen.
»Wie geht es mit dem Umbau voran?«, erkundigte sich Don Rosario höflichkeitshalber und war sich natürlich bewusst, dass er meilenweit vom Thema entfernt war, das ihn hierher geführt hatte.
»Sehr gut, danke. Wir sind bald fertig.«
»Tolle Leistung!«
»Ist nicht nur mein Verdienst. Der Amerikaner hat mir eine Menge Tipps gegeben, und Matteo hat mir ebenfalls sehr geholfen.«
»Ein feiner Kerl, nicht?«
»Oh ja.«
»Wie findest du es, dass er und Tiziana … na, du weißt schon.«
»Ich glaube, sie hätte keinen besseren Mann finden können.«
»Ja, nicht wahr? Das denke ich auch. Hast du ihm übrigens Schimpfwörter beigebracht? Man erzählt mir, dass er damit um sich wirft wie ein Jongleur.«
Pasquale versuchte ernst zu bleiben. Es gelang ihm nicht. Sein Gesicht wurde von einem amüsierten Lächeln erhellt. »Naja, sagen wir es einmal so. Matteo nimmt kein Blatt vor den Mund. Und ich verrate dem Amerikaner einfach nicht die richtige Bedeutung, wenn er dann fragt, was das schon wieder für lustige Ausdrücke waren.«
»Jetzt wo Matteo Vater wird, sollte er das aber besser lassen!«, tat Don Rosario besonders streng und hielt unter einem Olivenbaum.
»Ja, nun, er wird es schon lernen, sich wie ein Vater zu benehmen.«
»Natürlich!«
Pasquale blickte in die dichte Baumkrone, unter der sie standen.
»Die Oliven sehen dieses Jahr ausgesprochen gut aus«, bemerkte er nach einer Weile.
»Ja. Das denke ich auch.«
Als Pasquale den Blick wieder senkte, richtete er ihn direkt auf Don Rosario.
»Nun, Sie werden mir verzeihen, Don Rosario. Aber ich muss weitermachen.«
»Aber natürlich. Danke für deine Zeit.«
Don Rosario verabschiedete sich und ging.
Kein Wort über Pia.
Trotzdem hatte er das Gefühl, dass es in ihrem Gespräch um nichts anderes gegangen war. Irgendetwas sagte ihm, dass er zufrieden sein konnte. Denn Pasquale hatte auf ihn wie ein Mann gewirkt, der einen ganz bestimmten Plan verfolgt.