Rom, Mitte Oktober
Eine Taube.
Doch.
Irgendwo hatte sich eine Taube da draußen versteckt.
Ganz bestimmt.
Pia war sich inzwischen sicher, obwohl sie den Vogel noch nie wirklich gesehen hatte. Dafür hatte sie ihn aber umso deutlicher gehört. Nur verpasste sie ihn immer. Sie wurde einfach zu langsam wach. Oder die Taube flog zu schnell davon. Dennoch konnte sich Pia bildlich vorstellen, wie ein dickes gefiedertes Tier auf einem der gegenüberliegenden Dächer saß und mit unbeteiligtem Gesicht gurrte. Immer und immer wieder – guru, guru, guru. So laut, dass der Ruf sogar das Stimmengewirr aus den Gassen und die alltäglichen Geräusche der Zimmernachbarn übertönte. Und so eindringlich, dass sich der Laut in Pias Unterbewusstsein schlich und sie aus ihrem tiefen Schlaf holte. Aber exakt in diesem Moment flog der Vogel wohl immer davon. Denn sosehr Pia sich auch jeden Morgen anstrengte: weit und breit keine Spur vom mysteriösen Weckdienst.
Pia lächelte, setzte sich auf und streckte sich wohlig. Daheim holte sie immer der Wecker aus dem Schlaf. So ein altes Ding mit schrecklichem Piep-Ton. Da war ihr eine Phantom-Taube schon lieber.
Vieles war ihr hier genau genommen lieber. Auch das Bett. Das bequemste Bett, in dem sie jemals gelegen hatte. Es war weich und flauschig und umarmte einen förmlich. Schon seltsam, dachte Pia, wie schnell man sich umgewöhnen konnte. Wie schnell dieses kleine, wundervolle Zimmer sich in ihr ganz persönliches Zimmer verwandelt hatte. Jeder Winkel des Raumes war ihr vertraut. Die dunkle Tapete. Das Gemälde mit den herrlichen Blumen. Der reizende Schminktisch, den sie sogar ein paar Mal benutzt hatte. Und der Teppich mit seinem ganz besonderen Farbenspiel.
All das war ein Traum. Aber ein wahrgewordener Traum. Denn Pia befand sich in Rom.
Wirklich, wirklich, wirklich!
Hätte ihr jemand das vor nur einer Woche erzählt, sie hätte demjenigen ins Gesicht gelacht und erheitert und erstaunt gefragt: »Nach Rom? Wer, ich? – In diesem Leben wohl nicht mehr …«
Und doch war sie hier. In Rom.
Plötzlich hellwach sprang Pia aus dem Bett, stieg dabei auf den flauschigen Teppich, der ihre nackten Füße beinah zu schlucken schien, und eilte dann zur kleinen Dachterrasse, die zu ihrem Lieblingsplatz geworden war. Sie riss die Balkontür, die ohnehin nur angelehnt war, vollständig auf, füllte die Lunge mit Sauerstoff. Fast hatte sie das Gefühl, dabei ebenso die römische Lebensweise zu inhalieren. Laut, heiter und gleichzeitig gelassen.
Schließlich trat Pia auf die winzige Terrasse, auf der eigentlich nicht viel mehr Platz hatte als ein rundes Tischchen mit zwei Stühlen. Dennoch war jeder weitere Millimeter angefüllt mit Blumentöpfen in sämtlichen Formen und Farben. Ein Paradies-Eckchen über der Ewigen Stadt. Nur die Taube war nirgends zu sehen.
Dann aber hob Pia den Blick etwas weiter.
Peng.
Ihr Herz machte einen Sprung – wie so oft in den letzten Tagen.
Ein Meer aus Dächern. So weit das Auge reichte.
Rund herum, dicht an dicht. Nagelneu, ramponiert. Windschief, kerzengerade. Sauber, verdreckt. Romantisch, quadratisch. Unmöglich, sie alle zu beschreiben. Unmöglich, sie alle einzuordnen. Roms Dächer. Pia hielt sich eine Hand auf die Brust. Überwältigend. Nur sie und Roms Dächer. Und unzählige Blumen, die in den vielen Töpfen auf dem Balkon wuchsen und gediehen. Keine Gedanken. Dafür tausend Eindrücke. Unter strahlend blauem Himmel, umgeben von klarer Luft, eingelullt von wohlig warmen Sonnenstrahlen. Ach, könnte sie diesen Moment doch ewig halten!
Aber ewig war hier nur die Stadt. Natürlich wusste Pia das. Trotzdem verdrängte sie hastig diesen Gedanken.
Einmal atmete sie noch tief ein, unterdrückte das Bedürfnis laut zu singen, drehte sich dann vom niedrigen Geländer weg und huschte hinein in das Zimmer.
Hotelzimmer.
Immer wieder musste Pia sich selbst daran erinnern. Sie konnte sich kaum vorstellen, es irgendwann einmal wieder verlassen zu müssen. Und wenn sie daran dachte, dass sie nur durch eine ganze Reihe glücklicher Zufälle hier gelandet war, wurde ihr ganz mulmig zumute. Dieses Zimmer war ein Geschenk des Schicksals. Das perfekte Geschenk!
Und perfekt war auch dieser neue Morgen, denn Pia wusste, dass sie nur zu warten brauchte. Auf die übliche kleine Geste. Nach der sie inzwischen förmlich hungerte. Denn kleine Gesten waren lebenswichtig. Nein, mehr noch, sie machten das Leben erst richtig lebenswert. Was Pia auch erst hier in Rom begriffen hatte. Sie hatte etwas vermisst, das sie gar nicht gekannt hatte. Kleine, freundliche Gesten, die ihr zu verstehen gaben, dass sie wichtig war. Dass jemand sich wirklich – richtig – Gedanken um sie machte. Dass dieser Jemand praktisch ein Fremder war, spielte in diesem Fall keine Rolle. Nicht für die neue Pia.
Deshalb schnappte sie sich das Buch, das sie gestern auf dem Nachttischchen abgelegt hatte, und ging damit wieder hinaus auf ihre Dachterrasse. Ja, dachte Pia. Sie hatte jetzt nämlich Zeit. Zeit für Bücher.
Irre!
Die Frage, wann sie das letzte Mal in aller Ruhe ein Buch gelesen hatte, war schwer zu beantworten. Pia konnte sich einfach nicht erinnern. Dabei hatte sie als junges Mädchen alles verschlungen, was sie in die Hände bekommen hatte. Egal ob Heftromane oder Kochbücher. Sogar Geschichtsbände. Hauptsache, sie hatte etwas zum Lesen. Wieso nur war ihr dieser Lesehunger abhandengekommen? Besser noch, wieso um alles in der Welt hatte sie das zugelassen?
Fragen über Fragen.
Wobei die Antworten eigentlich überflüssig geworden waren. Die Vergangenheit konnte man ja nicht mehr ändern. Deshalb, dachte Pia, blieb ihr nichts anderes übrig, als an der Zukunft zu arbeiten.
Komisch, nicht? Ausgerechnet in der Ewigen Stadt, in der die Vergangenheit so gegenwärtig war, wollte sie die Gegenwart aus der Distanz betrachten. Damit sie die richtige Nähe zum Jetzt wiederherstellen konnte. Irgendwie bizarr.
Pia machte es sich auf dem schweren Stuhl bequem, zog die Beine hoch wie ein junges Mädchen und schlug das Buch dort auf, wo ein Eselsohr sie daran erinnerte, bis wohin sie am Vortag gekommen war. Das Buch war gut. Eine wirklich tolle Liebesgeschichte und gleichzeitig eine Hommage an Rom. Ganz nach ihrem Geschmack. Der rote, einfache Einband unterstrich diesen Eindruck noch. Bald war sie so vertieft in die Lektüre, dass sie doch tatsächlich aufschrak, als es dann an der Tür klopfte. Tock tock. Ganz diskret.
So diskret wie der Herr in Uniform, der vermutlich für das Klopfen verantwortlich war. Claudio. Das hatte Pia beim ersten Aufeinandertreffen dem Namensschild entnommen. Sie eilte zur Tür, öffnete schwungvoll, ohne sich für ihren Schlafanzug zu schämen.
»Signora, buongiorno«, grüßte Claudio leise, aber deutlich und verbeugte sich leicht, wobei er freie Sicht auf eine kahle Stelle auf seinem Kopf erlaubte. Auch nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, vermied er den direkten Blickkontakt. Bestimmt nicht aus Unhöflichkeit.
»Buongiorno, Claudio.«
Pia bedeutete ihm mit einer Geste hereinzukommen. Er wusste Bescheid. Schob den Servierwagen ungefragt in Richtung Dachterrasse. Nicht zum ersten Mal wünschte sich Pia bei diesem Anblick, über Claudios Grazie zu verfügen. Er machte seine Arbeit mit Hingabe. Das gefiel Pia. Und irgendwie gefiel ihr auch Claudio. Denn sie konnte sich gut vorstellen, dass sich unter der Uniform ein enormes Herz versteckte. Trotz seines Eifers versuchte er sich nicht an einer Konversation. Vielleicht war es ihm nicht erlaubt. Vielleicht war er kein guter Redner. Vielleicht war er sich auch nur zu sehr seiner Rolle als Bote bewusst. Und Pia blieb nichts anderes übrig, als ihn bei seiner Arbeit zu beobachten. Bedächtig stellte Claudio den macchiato auf dem runden Tischchen ab. Ohne Zucker natürlich. Daneben fand eine brioche ohne Füllung Platz. Und dann – als Highlight des ganzen Frühstücks – arrangierte er geräuschlos den großen Teller dazu, der mit einer Haube aus blank poliertem Edelstahl bedeckt war. Pia kannte diesen Teller bereits. Hatte ihn gleich am ersten Morgen in Rom gesehen. Damals noch mit Verwunderung. Heute mit großer Vorfreude, weil sie wusste, dass die Haube die ganz persönliche kleine Geste versteckte, auf die sie wartete. Und fast so, als wollte Claudio ihre Vorfreude nicht unnötig in die Länge ziehen, machte er einen Schritt zurück zu seinem nun leeren Wagen.
»Darf ich Ihnen sonst noch etwas bringen, Signora?«, erkundigte er sich.
»Vielen Dank. Ich brauche nichts mehr«, erwiderte Pia.
Sein Gesicht zeigte, dass er nichts anderes erwartet hatte. Er machte wieder seinen eleganten Diener und entfernte sich so lautlos, wie er gekommen war. Das dumme Spiel um Trinkgeld, das Claudio partout nicht annehmen wollte, sparten sie sich inzwischen.
Noch während Pia die Tür hinter Claudio schloss, fragte sie sich, ob er wohl wusste, was unter der Tellerhaube auf sie wartete. Diesen Gedanken verwarf sie aber sofort. Claudio doch nicht! Aus einem Impuls heraus öffnete sie trotzdem noch einmal die Tür. Warum auch immer, wünschte sie sich dringend jemanden zum Reden. Und Claudio hatte den Fahrstuhl noch nicht erreicht.
»Werde ich mich darüber freuen?«, rief sie ihm etwas zu laut hinterher.
Kaum war die Frage ausgesprochen, überdachte Pia ihren Satz noch einmal. Sie schüttelte den Kopf. Claudio konnte sie unmöglich richtig verstanden haben. Sie hätte viel direkter fragen sollen, ob er wusste, was die Haube verbarg. Doch nun war es zu spät. Oder etwa nicht? Verwundert bemerkte Pia, dass Claudio dabei war, wieder zu ihr zurückzukehren. Vielleicht lag es an seiner Gangart, die plötzlich viel aufrechter wirkte. Vielleicht lag es auch an seinem Gesichtsausdruck. Aber zum ersten Mal nahm sie den Mann vor sich nicht nur als Angestellten, sondern als Person wahr.
»Womöglich sollten Sie beim Öffnen sitzen, Signora«, empfahl Claudio. Er hatte sie also verstanden und gab mit seiner Antwort auch zu, dass er den Inhalt kannte. Es störte Pia gar nicht. Ihr war auch egal, wie er zu diesem Wissen gekommen war.
»Er übertreibt, nicht wahr?«
»Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen, Signora.«
Pia nickte. Natürlich nicht.
»Aber ich kann Ihnen wohl sagen, dass es ihm große Freude bereitet, Sie zu beschenken. Nehmen Sie es einfach so hin«, riet Claudio ihr achselzuckend.
Womit habe ich das verdient?, fragte Pia sich nicht zum ersten Mal. Dann aber fiel ihr wieder ein, dass sie ja nicht darum gebeten hatte, mit Aufmerksamkeiten überhäuft zu werden. Dieser Gedanke beruhigte sie irgendwie.
Claudio berührte leicht ihren Arm und holte Pia dadurch aus ihren Gedanken zurück.
»Sie sollten Ihren macchiato trinken, Signora, er wird sonst kalt«, bemerkte er sanft und suchte unverhofft ihren Blick.
Santo cielo, Claudio hat ja blaue Augen, schoss es Pia durch den Kopf. Wieso überraschte sie das nur so sehr?
Sie nickte. Etwas verwirrt. Ging aber letztendlich doch wieder in ihr Zimmer und dann direkt auf die Terrasse, wo sie Platz nahm.
Der Milchschaum auf ihrem Kaffee war zusammengefallen, sah gar nicht mehr schön aus. Sie nahm den Löffel und rührte damit in der hellbraunen Flüssigkeit herum. Wie ein Maler mit dem Pinsel. Aber aus ihrem Frühstücksgetränk ließ sich kein Kunstwerk mehr herstellen. Deshalb trank sie in wenigen großen Schlucken aus und stellte auf diese Weise die Inszenierung des perfekten Frühstücks wieder her. Den Teller mit der Haube ignorierte sie vorerst geflissentlich. Stattdessen nahm sie die brioche zur Hand, biss ab, kaute, schluckte. Und seufzte.
Wen wollte sie hier auf den Arm nehmen? Natürlich konnte sie es kaum erwarten herauszufinden, was sich unter der Haube verbarg. Welche Besonderheit er sich heute für sie ausgedacht hatte.
Entschlossen nahm sie die Tellerhaube ab. Zum Vorschein kam ein Briefumschlag. Und eine kleine Schachtel. Nichts Ungewöhnliches also. Nette Aufmerksamkeiten. Alles wie gehabt.
Aber das blaue Schächtelchen hatte etwas an sich, das sich nicht in die Kategorie nette Aufmerksamkeiten packen ließ. Obwohl es dezent wirkte mit seiner perfekten Satinschleife. Pia ließ den gestrigen Tag noch einmal Revue passieren. Sie waren spazieren gewesen. Hatten hie und da gehalten. Sie hatte sich diese wahnsinnig teure Bluse gekauft. Und … richtig! Sie hatten diesen urigen Goldschmied besucht. Bottega delle cose preziose hatte auf der einfachen Ladentür gestanden. Ein Puzzlestück, das ins Bild passte.
Aber er konnte doch nicht wirklich …? Oder etwa doch?
Ohne weiter darüber nachzudenken, nahm sie die Schachtel und zog an der Satinschleife. Dass ihre Hand dabei leicht zitterte, fand Pia töricht. Und noch viel törichter fand sie, dass ihr Herz Kapriolen schlug. Als sie endlich sah, was sich in der Schachtel befand, hielt sie den Atem an.
Wie um alles in der Welt hatte er das erraten?