FÜNF
Enna schloss die Tür auf und schaute bei Pia Sims ins Büro. »Guten Morgen. Schon lange hier?«
Pia Sims’ Auto hatte am Morgen noch vor Ennas Haus gestanden, vermutlich war sie mit dem Bus zur Arbeit gefahren. Der Abend mit ihr war angenehm und unterhaltsam gewesen, sie hatten viel gelacht, sich gegenseitig Anekdoten aus der Zeit an der Polizeiakademie erzählt und festgestellt, dass sich trotz der zehn Jahre, die vergangen waren, an der Polizeiausbildung nicht viel geändert hatte.
»Ich bin eine Frühaufsteherin«, antwortete Pia Sims. »Außerdem habe ich Berge von Arbeit auf dem Tisch.«
»In einer halben Stunde setzen wir uns in der Küche zusammen. Ich mache Kaffee.«
Pia Sims nickte und vertiefte sich wieder in die vor ihr liegende Akte. Enna ging weiter und begrüßte Jan Paulsen, dessen Tür weit offen stand.
Er sah auf. »Moin!«
»In einer halben Stunde Besprechung in der Küche.«
»Kein Problem.«
Enna sah noch kurz ihre E-Mails durch und machte sich dann auf den Weg. Als sie gerade dabei war, das heiße Wasser in den Filter zu gießen, klopfte jemand an der offenen Küchentür.
»Darf ich?«, fragte Jan Paulsen.
»Klar! Der Kaffee braucht aber noch ein paar Minuten.«
»Deshalb bin ich nicht hier.«
»Okay?«
Er kam auf Enna zu und lehnte sich am Kühlschrank an. »Entschuldigungen sind nicht gerade meine Stärke.« Er atmete schwer. »Mein Spruch gestern … Selbst wenn Ihr Mann noch leben würde, wäre er … für’n Arsch gewesen.«
»Schwamm drüber, Herr Kollege. Wir sollten uns auf die Arbeit konzentrieren, dann wird es vielleicht auch irgendwann mit der Chemie zwischen uns dreien klappen.«
Er zögerte, bevor er antwortete: »Meine Traumstelle ist das hier nicht und wird es sicher auch nicht werden.«
Enna zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, keiner von uns hatte vor, in den Akten von Altfällen herumzuwühlen. Aber bisher machen Sie auf mich nicht den Eindruck, als wenn Sie zum Jammern neigen.«
Jan Paulsen zog die Augenbrauen zusammen. »Nein, eigentlich nicht, aber ob das mit der Chemie klappt – da bin ich mir nicht sicher.«
In diesem Augenblick klopfte Pia Sims an den Türrahmen. »Darf ich?«
»Was wissen wir über die Familie des Kindes?«, fragte Enna in die Runde, als alle mit einer Tasse Kaffee am Tisch in der Küche saßen.
Pia Sims sah auf ihre Notizen. »Zum Zeitpunkt der Entführung lebte das Ehepaar Hansen mit seinen beiden Töchtern in Aurich. Sie ist heute sechsundvierzig, er zwei Jahre älter. Ich vermute, dass sie sich inzwischen getrennt haben, da sie nicht mehr unter der gleichen Adresse gemeldet sind. Der Vater wohnt weiterhin in Aurich, während die Mutter in Oldenburg
eine Wohnung hat. Maries Schwester Imke ist zweiundzwanzig und lebt in Australien.«
»Weitere Verwandte in der Nähe? Damals, meine ich«, fragte Paulsen.
Pia Sims nickte. »Die Mutter kam ursprünglich aus Süddeutschland und hat dort drei Geschwister, der Vater ist in Aurich aufgewachsen, er hat einen Bruder, der ebenfalls in der Nähe von Aurich wohnt.«
»Wir sollten den Vater und seinen Bruder sowie die Mutter befragen«, schlug Enna vor. »Wie kommen wir an die Schwester ran?«
Pia Sims hob die Hand. »Ich denke, ich habe ihren Facebook-Account gefunden. Mit Ihrem Einverständnis werde ich sie dort anschreiben und hoffe, dass wir sie per Skype befragen können.«
»Ja, das ist eine gute Idee.« Enna hielt kurz inne. »Das wäre also das Familienumfeld. Was ist mit dieser Freundin von Marie? Anne Wagner, richtig?«
»Sie hat letztes Jahr Abitur in Aurich gemacht und studiert jetzt hier in Oldenburg«, sagte Pia Sims. »Adresse und Telefonnummer habe ich.«
»Perfekt! Dann können wir sie ja vor Ort befragen. Gibt es Neuigkeiten aus dem Archiv zu den Aufnahmen der Befragung?«
»Ich habe heute noch einmal telefonisch nachgefragt. Sie sind bisher nicht zu finden. Entweder entsorgt worden oder falsch abgelegt. Die Kollegin dort sucht weiter, hat mir aber keine großen Hoffnungen gemacht.«
»Warten wir’s ab«, sagte Enna. »Bleiben noch die Lehrer, die die Kinder begleitet haben.«
Paulsen räusperte sich. »Das habe ich in Absprache mit …«, er zögerte kurz, »… mit der Kollegin Sims übernommen. Der Lehrer, Holger Martens, hat seitdem dreimal den Wohnsitz und gleichzeitig auch die Arbeitsstelle gewechselt. Ein halbes Jahr
nach Wangerooge ist er nach Osnabrück, zwei Jahre später nach Hannover und wieder drei Jahre danach nach Rotenburg. Das liegt dreißig Kilometer hinter Bremen. Die ersten Stationen waren Grundschulen, jetzt arbeitet er an einer Gesamtschule und unterrichtet in den Klassen fünf und sechs.«
»Ungewöhnlich häufige Wechsel für einen Lehrer, oder?«, warf Pia Sims ein.
»Sehe ich auch so«, kam es sofort von Paulsen. »Weiter gab es drei Lehrerinnen, die an der Fahrt teilgenommen haben. Eine von ihnen ist pensioniert und lebt auf Mallorca.« Er grinste. »Ich erkläre mich gern bereit, sie vor Ort zu befragen, falls unser Budget dafür ausreicht.«
Pia Sims schaute genervt, sagte aber nichts.
»Okay, wahrscheinlich eher nicht«, fuhr Paulsen fort. »Also werden wir sie telefonisch befragen müssen. Die anderen beiden Lehrerinnen sind noch an der Grundschule in Aurich tätig.«
»Gut«, sagte Enna. »Den Herbergsvater habe ich gestern noch überprüft. Er arbeitet immer noch im Landschulheim. Wir werden ohnehin in den nächsten Tagen nach Wangerooge fahren müssen, um uns ein Bild von den Örtlichkeiten zu machen. Aber erst, nachdem wir Maries Umfeld befragt haben.«
»Dann legen wir einfach los, oder?« Paulsens Stimme klang ungeduldig. »Ich fahre nach Aurich und nehme mir Vater und Onkel vor.«
»Ist in Ordnung, aber bitte mit … Fingerspitzengefühl.«
Paulsen stand auf. »Klar, was sonst.« Er nickte den beiden Ermittlerinnen zu und verließ die Küche.
Pia Sims sah ihm verdutzt hinterher, schien etwas sagen zu wollen, schwieg dann aber.
»Arbeitet Maries Mutter?«, fragte Enna.
»Ja, sie ist bei der Raiffeisenbank angestellt. Soll ich sie anrufen, wann sie Zeit für uns hat?«
Enna stand auf und begann, den Tisch abzuräumen. »Ja, bitte tun Sie das.«
Enna parkte vor einem sechsstöckigen Mietshaus und schaltete den Motor aus. Pia Sims hatte bei ihrem Anruf erfahren, dass Andrea Hansen wegen eines Bandscheibenvorfalls krankgeschrieben war.
»Wie gehen wir vor?«, fragte sie Enna. »Wahrscheinlich soll ich mich erst mal zurückhalten und Sie fragen?«
»Ehrlich gesagt habe ich auch noch nie Zeugen – und dazu auch noch die Mutter des Opfers – zu einer Tat befragt, die neun Jahre zurückliegt. Wir müssen sehen, wie sich das Gespräch entwickelt, und spontan reagieren.«
Enna überflog die zwanzig Klingelschilder und drückte dann auf einen der oberen Knöpfe. Kurz darauf summte der Türöffner und eine Frauenstimme sagte, nachdem sich Enna und Pia Sims vorgestellt hatten: »Vierter Stock, rechts.«
Die Wohnungstür stand offen. Als sie eintraten, hörten sie Andrea Hansen rufen: »Ich bin im Wohnzimmer. Kommen Sie doch bitte herein.«
Die blonde Frau saß in einem Sessel und bat die beiden Ermittlerinnen, sich zu setzen. »Können Sie sich ausweisen?«
Enna trat auf sie zu und reichte ihr ihren Ausweis. Andrea Hansen warf einen Blick darauf und gab ihn zurück. »Entschuldigung, aber ich bin vorsichtig geworden. Sogar im letzten Jahr hatte ich noch einen Anruf von so einem Pressegeier, der mich interviewen wollte.« Sie zeigte auf den Tisch, auf dem eine Flasche Mineralwasser und zwei Gläser standen. »Wenn Sie etwas trinken wollen, schenken Sie sich doch bitte ein. Ich bin etwas eingeschränkt in meiner Bewegungsfreiheit.«
Pia Sims hatte ihr bereits am Telefon erklärt, dass eine neu gegründete Abteilung Altfälle bearbeitete und sie sie aus diesem Grund sprechen wollten.
»Danke, dass Sie uns trotz des Bandscheibenvorfalls empfangen«, begann Enna. »Wir sind noch ganz am Anfang der Ermittlungen, haben inzwischen die Akten studiert und würden Ihnen jetzt gern ein paar Fragen stellen.«
Andrea Hansen stöhnte leise. »Ich weiß nicht, ob ich das wirklich will und kann.« Sie schloss die Augen und schwieg für eine Weile. »Dieses schreckliche Ereignis hat unsere Familie zerstört. Unser Leben, alles, was wir einmal hatten. Diese Ungewissheit, ob Marie nicht doch noch …«, sie schluckte, ihre Augen wurden feucht, »… lebt. Wir alle sind verdächtigt worden. Ich, mein Ex-Mann, sein Bruder. Die Lehrer. Wir sind unzählige Male verhört worden. Dabei waren wir doch die Leidtragenden. Ich schaffe das nicht noch einmal. Verstehen Sie das?«
»Sehr gut sogar. Sie können aber beruhigt sein. Wir haben in den Akten nicht den leisesten Verdacht gegen Ihre Familie gefunden. Das ist ganz sicher nicht unser Ansatz.« Enna war sich bewusst, dass sie hier etwas zusicherte, das sie unter Umständen nicht halten konnte.
Andrea Hansen sah aus dem Fenster und schwieg eine Weile, bevor sie in die entstandene Stille hinein sagte: »Fragen Sie. Wenn ich nicht antworte, wissen Sie, warum.«
»Okay.« Enna stellte das Aufnahmegerät auf den Tisch. »Seit Maries Verschwinden sind jetzt ja neun Jahre vergangen. Ist Ihnen in der ganzen Zeit etwas aufgefallen, was Ihnen damals nicht so präsent war?«
»Was genau meinen Sie?«
»Es kommt häufig vor, dass einem erst nach Jahren etwas ins Auge sticht, das eigentlich sehr naheliegend war. Sie haben damals zu Protokoll gegeben, dass Marie sich in den Wochen vor der Fahrt nach Wangerooge ganz normal verhalten hat. Sehen Sie das immer noch so?«
Frau Hansen zuckte leicht mit den Schultern. »Marie war für ihr Alter schon sehr reif. Zumindest wirkte sie so auf andere. Eine Mutter weiß das natürlich besser, spürt, wann das Kind wütend, ängstlich oder unsicher ist, es aber nicht zeigen will. Sie haben auch Kinder?«
»Ja, einen Sohn, der gerade fünf geworden ist.«
Pia Sims schüttelte den Kopf.
Andrea Hansen lächelte. »Einen Sohn. Wie schön. Dann wissen Sie ja, was ich meine.«
»Marie wirkte also sehr erwachsen«, nahm Enna den Gesprächsfaden wieder auf. »Sie war nicht aufgeregt, dass sie an einen Ort fuhr, den sie nicht kannte?«
»Warum nicht kannte?«, fragte Andrea Hansen erstaunt. »Sie war doch schon einige Male auf Wangerooge gewesen. Selbst bei diesem Landschulheim sind wir schon spazieren gegangen. Das war in dem Sommer vor der Fahrt. Wir wussten ja schon, dass sie im nächsten Jahr mit der Klasse dort hinfahren würde.«
Enna gab sich Mühe, ihre Unruhe zu verbergen. Diese Information stand nicht in den Akten – zumindest hatte sie sie nicht gefunden.
»Wie oft waren Sie mit der Familie auf der Insel?«
»Drei Mal, würde ich sagen, seit Marie …« Sie schien zu überlegen. »Also, seit Marie vier war. Nicht jeden Sommer, aber wenn wir es uns leisten konnten.« Sie hielt kurz inne. »Später waren wir nie wieder dort. Nein, das ging nicht.«
»Waren Sie immer im selben Haus oder in derselben Wohnung?«
Andrea Hansen nickte. »Ja, bei der Familie Ottinga. Die hatte eine separate Ferienwohnung in ihrem Haus. Mit eigenem Eingang und Küche. Einfach, aber schön.«
»Erinnern Sie sich noch an den Straßennamen?«
»Ja, natürlich. Der war gut zu merken. Leuchtturmstraße 22. Warum fragen Sie?«
»In den Akten haben wir nichts darüber gefunden, dass Marie die Insel schon kannte.«
»Tatsächlich nicht?« Andrea Hansen schien nachzudenken. »Vielleicht hat das niemand gefragt. Ich war damals so durcheinander, wir alle waren wie betäubt.« Sie runzelte die Stirn. »Doch, ich glaube, ich habe es einmal gesagt. Das war aber schon später. Zwei Kommissare waren da bei mir. Es ging aber um etwas anderes, was, weiß ich nicht mehr. Die hatten so viele Fragen und je länger Marie …« Sie atmete schwer. »Wie ich schon gesagt habe, wir sind ja auch in Verdacht gekommen. Vielleicht war es zu der Zeit.«
»Ich werde das in den Akten überprüfen. Vielleicht ist es wirklich untergegangen. Können wir noch einmal zu diesen Inselurlauben zurückkommen?«
Frau Hansen nickte.
»Hatten Ihre beiden Töchter auch Freunde auf der Insel?«
»Freunde? So richtig, meinen Sie? Nein, das nicht. Es gab schon Familien, die traf man immer mal wieder, am Strand oder beim Einkaufen. Da hat man auch mal ein paar Worte gewechselt. Die beiden Mädchen hatten ja sich als Spielgefährten. So weit sind sie altersmäßig nicht auseinander.«
»Sie haben aber zu keiner der anderen Familien einen wirklich engen Kontakt gehabt?«, fragte Enna noch einmal nach.
»Wir haben schon mal andere Urlauber eingeladen. Im Garten des Hauses durften wir einen Grill benutzen. Das war sehr praktisch. Mit zwei Kindern essen zu gehen, da kommt schon was zusammen.«
»Erinnern Sie sich an die Bekannten oder Freunde, die Sie im Sommer vor der Schulfahrt eingeladen hatten?«, fragte Enna weiter und versuchte dabei, ihre wachsende Ungeduld zu verbergen.
Andrea Hansen schien inzwischen klar geworden zu sein, worauf Ennas Fragen hinausliefen. »Aber das war doch nicht im Mai, als Marie … Ich meine, was soll das damit zu tun haben?«
»Erinnern Sie sich an Namen?«
Andrea Hansen nickte nachdenklich. »Ja, Müller. Die Familie Müller. Sie kamen irgendwo aus dem Ruhrgebiet. Ein Ehepaar mit einem Jungen.«
»Wie alt war der Junge?«
»Das weiß ich nicht. Auf jeden Fall ein paar Jahre älter als unsere Töchter. Sie haben nicht miteinander gespielt, falls Sie das meinen.«
»Können Sie sich an die Vornamen der Müllers erinnern?«
Andrea Hansen schloss die Augen. Nach einer Weile sah sie auf. »Ganz sicher kann ich es nicht sagen, aber so aus der Erinnerung waren die Namen Hans und Arianna. Aber wie der Junge hieß …«
»Und mit den Müllers hatten Sie und Ihr Mann häufiger Kontakt?«
»Ich weiß nicht mehr, wie es kam. Vielleicht haben wir uns am Strand getroffen oder im Restaurant. Die beiden Männer haben sich gut verstanden. Und mit dem Jungen hat mein Ex auch Fußball gespielt. Das weiß ich noch. Aber wie häufig wir uns dann während der drei Wochen gesehen haben … Vielleicht zwei- oder dreimal, würde ich aus der Erinnerung sagen. Vielleicht haben wir uns auch noch am Strand getroffen. Mag sein. Das war wirklich nur eine lose Urlaubsbekanntschaft. Wir haben auch danach nie wieder Kontakt gehabt.«
»Gut. Kommen wir noch einmal zu Marie. Sie sagten, dass sie nicht aufgeregt war vor der Fahrt. Gab es sonst etwas Besonderes, das damals möglicherweise nicht zur Sprache gekommen ist?«
Andrea Hansen ließ sich Zeit. Enna konnte ihr ansehen, wie schwer ihr das Gespräch fiel. Ihre Augenlider öffneten und
schlossen sich in schneller Folge, ihr Hals und die rechte Wange hatten hellrote Flecken bekommen und sie atmete zunehmend flacher.
»Ich glaube nicht. Marie hat nur einmal bei uns angerufen. Vor neun Jahren hatten die Kinder in diesem Alter ja noch keine Handys und da konnten sie nur von dem Haustelefon anrufen oder vielleicht aus einer Telefonzelle.«
»Erinnern Sie sich an das Gespräch?«
»Das hat mich damals der Polizist auch gefragt. Es war alles ganz normal. Was Kinder so reden. Dass sie sich mit der Freundin gestritten haben, dass das Essen nicht schmeckt oder was sie mit der Klasse unternommen haben.«
»Hatte Marie sich mit ihrer besten Freundin Anne gestritten?«, stellte Pia Sims ihre erste Frage.
»Das weiß ich nicht mehr. Mag sein, Marie und Anne …« Frau Hansen zitterte leicht und schien vor ihrem geistigen Auge die beiden kleinen Mädchen zu sehen. »Sie waren wie Geschwister, und die streiten sich manchmal. Ja, die beiden konnten sich ziemlich in die Haare kriegen. Aber gleich darauf waren sie wieder ein Herz und eine Seele.«