ZEHN
Enna öffnete das Fenster ihres Büros. Pia Sims hatte sich aus dem Auto gemeldet, die beiden Kommissare befanden sich auf der Rückfahrt und standen bei Bremen im Stau.
Für Anfang Juni war das Wetter ausgesprochen mild. Seit den frühen Morgenstunden schien die Sonne und hatte die Temperaturen inzwischen auf weit über zwanzig Grad hochgetrieben. Enna musste an Elias denken, der vermutlich gerade mit seinen Freunden Fußball spielte. Seit einigen Wochen begeisterten sich Jungs wie Mädchen aus seiner Gruppe für dieses Spiel. Als Simon noch gelebt hatte, hatte er fast jeden Tag im Garten mit seinem Sohn Ball gespielt. Erinnerte Elias sich jetzt daran? Enna nahm sich vor, mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Ihr Anruf bei Dr. Franzen, Elias’ Kinderpsychologen, hatte ergeben, dass dieser im Urlaub war und erst in über zwei Wochen wiederkam. Enna würde sich gedulden müssen.
Vielleicht konnte sie Elias heute etwas früher aus dem Kindergarten abholen und mit ihm einen Spaziergang im Botanischen Garten machen. Elias liebte die vielen verschiedenen Pflanzen und Bäume, die hier ihren Platz gefunden hatten. Zwar lag der Garten direkt neben der Stadtautobahn, aber der Lärmschutzwall hielt einen Großteil der Fahrzeuggeräusche fern, zumindest wenn der Wind günstig stand.
Als ihr Tischtelefon klingelte, griff sie danach, ohne nach der eingehenden Nummer zu schauen.
»Andersen!«
»Albrecht hier.«
»Moin, Albrecht«, begrüßte Enna wenig enthusiastisch ihren ehemaligen Chef.
»Hast du kurz Zeit für mich?«
»Klar, was kann ich für dich tun?«
»Nein, nein, du musst gar nichts für mich tun.« Er legte eine kurze Pause ein. Enna hörte, wie er tief durchatmete. »Es gibt Nachrichten von Grothe.«
Enna stockte der Atem. Wenn Albrecht Heinzen sie auf diesen Mann ansprach, ging es garantiert nicht um irgendeine Kleinigkeit.
»Ja?«
»Ich habe mit einem befreundeten Oberstaatsanwalt in Hannover gesprochen. Die Chance, dass Grothe mit seiner Klage durchkommt, ist nicht so gering, wie wir beide es eingeschätzt haben.«
Enna schwieg. Der Mörder ihrer Eltern war nach seiner fünfzehnjährigen Haftzeit in die Sicherheitsverwahrung überführt worden, wo er seit nunmehr sieben Jahren einsaß.
»Die Richter scheinen damals nicht ganz so gründlich vorgegangen zu sein, wie es notwendig gewesen wäre.«
»Wann?«
»Das konnte mir mein Freund nicht mit Bestimmtheit sagen. Er rechnet damit, dass der Prozess in den nächsten zwei Monaten beginnt. Es könnte auch schneller gehen.«
»Verdammter Mist!«
»Es kommt noch schlimmer«, sagte Albrecht Heinzen zögerlich.
»Doch nicht …« Enna verstummte.
»Leider ja. Sein Anwalt hat verlauten lassen, dass sie die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen werden.«
»Warum?«, fragte Enna nach einer langen Pause. »Wenn dieses Monster freikommt, hat er doch, was er wollte.«
»Grothe hat nie gestanden und immer behauptet, er sei reingelegt worden. Auch wegen des fehlenden Geständnisses hat das Gericht damals so ein hartes Urteil gefällt.«
»Willst du den Kerl auch noch in Schutz nehmen?«
»Nein, natürlich nicht, Enna. Damit wollte ich sagen, dass mit dem Schritt zu rechnen war. Allerdings weißt du auch, wie schwierig eine solche Wiederaufnahme ist. Es müsste wirklich gravierende Gründe geben. Ich glaube nicht, dass er eine realistische Chance hat.«
»Es reicht schon, wenn er es nur versucht«, sagte Enna. »Sei mir nicht böse, Albrecht, ich muss das erst mal verdauen. Wir sprechen später noch mal, okay?«
»Natürlich! Du kannst mich jederzeit auf dem Handy erreichen.«
»Ich weiß. Danke.« Enna legte auf.
Zweiundzwanzig Jahre. Sie war dreizehn gewesen, als ihre Eltern ermordet wurden. Sie hatte in der Nacht bei einer Freundin geschlafen und war erst nach der Schule nach Hause gegangen. Schon von Weitem hatte sie die Absperrung gesehen, zunächst an einen Brand gedacht, bis eine Polizistin auf sie zukam und sie nach ihrem Namen fragte. Zweiundzwanzig Jahre, und sie spürte immer noch den stechenden Schmerz in ihrer Brust, als die Polizistin sie zur Seite nahm und in einen Wagen setzte.
Enna sprang auf und lief in die Küche, wo sie ihr Gesicht mit eiskaltem Wasser wusch. Ohne sich abzutrocknen, stellte sie sich an das geöffnete Fenster und starrte hinaus auf die Straße. Ronald Grothe, achtundfünfzig, verurteilter Doppelmörder und Psychopath. Enna war fest davon ausgegangen, dass er nie wieder freikommen würde. Schon vor zehn Jahren hatte er ihr einen Brief geschickt, in dem er beteuerte, nicht für den Mord an ihren Eltern verantwortlich zu sein. Enna hatte noch am gleichen Tag über ihren Anwalt eine Verfügung erwirkt, die Grothe untersagte, Kontakt, in welcher Form auch immer, mit ihr aufzunehmen.
Sie schloss das Fenster und trocknete sich mit dem Handtuch das Gesicht ab. Schließlich sank sie auf einen der Stühle und blieb gedankenverloren dort sitzen. Erst das Klingeln ihres Handys ließ sie aufschrecken. Sie brauchte eine Weile, um sich zu orientieren, bevor sie das Gespräch annahm.
»Enna, Gott sei Dank«, hörte sie Frieder Schmidts Stimme. »Kannst du vorbeikommen?« Er klang gehetzt. »Jetzt gleich?«
»Du hast etwas gefunden?«
»Komm einfach vorbei. Ich muss mit dir sprechen.«
»Ich bin in zehn Minuten bei dir«, sagte Enna und legte auf.
»Jetzt mach es nicht so spannend. Was hast du gefunden?« Enna stand vor Frieder Schmidts Schreibtisch und sah ihn fragend an.
»Setz dich doch erst mal«, sagte der Hauptkommissar ruhig. »Es ist etwas knifflig.« Er wartete, bis Enna auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz genommen hatte. »Ich habe vor einer Woche eine streng geheime Liste mit vier Namen aus meinem Einzugsbereich bekommen. Sie ist Teil einer internationalen Ermittlungsarbeit zwischen zehn Ländern. Darunter die USA, Großbritannien, Frankreich und Schweden. Meine Aufgabe ist die, die Männer vorsichtig unter die Lupe zu nehmen und nach Möglichkeit zu verhindern, dass von Kollegen vor Ort gegen sie ermittelt wird. Jede Verhaftung oder auch nur eine Befragung oder ein Verhör könnte die gesamte Aktion gefährden. Die Leute sind extrem gut vernetzt und tauchen sofort unter, wenn der Verdacht besteht, dass sie auffliegen könnten.«
»Wer ist es?«
»Gleich, Enna. Vor zwei Jahren waren wir einer richtig großen Sache auf der Spur, bis Kollegen in London durch Zufall auf einen der Organisatoren des Pädophilen-Netzwerks gestoßen sind. Es folgte eine Hausdurchsuchung aufgrund eines anonymen Tipps, woraufhin einen Tag später alle Aktivitäten der Gruppe eingestellt wurden. Komplett. Die ganze Arbeit für die Katz. Ich erzähle dir das deshalb, weil wir jetzt vermuten, dass genau diese Gruppe unter anderem Label wieder aktiv ist.«
»Lange Rede, kurzer Sinn: Du kannst mir den Namen nicht geben.«
»Im Gegenteil. Ich muss ihn sogar nennen, wenn ich von Ermittlungen gegen die Person erfahre. Aber die Konsequenz ist, dass ihr, also du und dein Ermittlungsteam, diesen Mann außen vor lassen müsst.«
»Bis auf einen haben wir schon alle befragt.«
»Ich weiß.«
»Marco Müller!«
Frieder Schmidt nickte. »Ich muss die Staatsanwaltschaft darüber informieren. Von denen wirst du dann die entsprechenden Anweisungen bekommen.«
»Muss das unbedingt sein, Frieder?«
Frieder Schmidt schwieg.
»Ich garantiere dir, dass wir Marco Müller nicht befragen werden oder etwas anderes machen, das ihn aufschrecken könnte.«
»Aber?«
»Wir ermitteln doch schon im Umfeld. Wenn du auf einen ängstlichen Staatsanwalt stößt, wird er uns die gesamten Ermittlungen untersagen. Schließlich liegt der Fall schon seit über acht Jahren auf Eis.«
»Eben!«
Enna stand auf und war kurz davor, grußlos aus dem Zimmer zu laufen. Schließlich sank sie zurück auf den Stuhl. »Habe ich jemals mein Wort gebrochen, Frieder?«
»Wenn das rauskommt, fliege ich nicht nur aus der Ermittlungsgruppe, sondern habe auch noch ein Verfahren am Hals. Von dir einmal ganz abgesehen.«
»Ich war niemals hier. Lösch meine E-Mail von vorhin und vergiss mich einfach. Ich garantiere dir, dass wir Marco Müller nicht zu nahe kommen.«
Frieder Schmidt überlegte lange, bevor er zur Tastatur griff und etwas eintippte. »Die Mail ist gelöscht. Mach bitte das Gleiche. Du warst selbstverständlich heute hier. Warum auch nicht? Wir sind alte Freunde und du bist gerade nach einem Jahr wieder zurück in den Dienst gekommen. Wo ist da das Problem?«
»Überhaupt keins.« Enna stand auf. »Danke, Frieder. Du kannst dich auf mich verlassen.«
»Wie bitte?«, fragte Jan Paulsen, als Enna ihm und Pia Sims erklärte, dass sie Marco Müller nicht befragen konnten.
»Warum?«, fragte jetzt auch Pia Sims.
Enna stöhnte leise. Sie hatte geahnt, dass sich die beiden Ermittler nicht mit einer einfachen Anweisung abspeisen lassen würden.
»Er ist Teil einer internationalen Ermittlung, die wir mit unseren Aktivitäten schnell sprengen könnten.«
»Internationale Ermittlungen?« Jan Paulsen starrte sie an. »Der Kerl ist ein elender Kinderficker. Und das passt hundertprozentig ins Bild. Und wir sollen ihn links liegen lassen?«
»Stimmt das?«, fragte Pia Sims.
»Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Wir halten uns an diese Vorgabe und machen ansonsten weiter oder der Kollege, von dem ich die Information habe, wird ganz offiziell die Staatsanwaltschaft informieren. Wir wissen alle, was das bedeutet. Der Fall würde auf Eis gelegt. Erst nur vorläufig, aber vermutlich für immer.«
»Was ist das für ein Bullshit?!«, donnerte Jan Paulsen.
»Wir müssen dann eben andere Wege finden«, gab Pia Sims nach. »Und wir wissen auch gar nicht, ob Marco Müller etwas mit dem Verschwinden von Marie Hansen zu tun hat.«
»Klar! Alles ein großer Zufall. Träum weiter. Natürlich hat der Typ etwas damit zu tun. Vielleicht war das sein Eintrittsgeschenk.«
Enna klopfte mit ihrem Kaffeelöffel auf den Tisch. »Stopp, Kollegen! Wenn wir weiter ermitteln, muss eins klar sein: Ich muss mich voll und ganz auf euch verlassen können. Wenn von diesem Gespräch etwas nach außen dringt, haben nicht nur wir riesengroße Probleme, sondern auch der Kollege, der den Vorgang nicht an die Staatsanwaltschaft gemeldet hat, kriegt gewaltigen Ärger. Sind wir uns da einig?«
Pia Sims nickte, während Jan Paulsen etwas Unverständliches brummte.
»Ja oder nein?«, beharrte Enna energisch.
»Ja, verflucht, ich bin doch nicht bescheuert«, sagte Paulsen. »Aber bitte, wie kommen wir an den Kerl heran, ohne uns ihm zu nähern? Hat jemand hier in der Runde einen Vorschlag?«
»Marco Müller kann das nicht alleine gemacht haben«, sagte Enna, die mit der Frage gerechnet hatte. »Zunächst einmal hat Kollegin Sims berechtigterweise angemerkt, dass er nicht automatisch der Täter oder auch Tippgeber gewesen sein muss. Natürlich wäre es ein großer Zufall, wenn Marie Hansens Entführung und die eventuelle Veranlagung von Müller nicht zusammenhängen. Aber es gibt noch mehr Möglichkeiten als die scheinbar naheliegende Erklärung.«
»Und das wären welche?«, brummte Jan Paulsen.
»Als Marie Hansen entführt wurde, war Müller siebzehn und nach den bisherigen Aussagen ein schüchterner und introvertierter junger Mann. Vielleicht war die Tat, die er vermutlich über die Presse verfolgt hat, ein Auslöser dafür, dass Müller angefangen hat, seine sexuellen Vorlieben auszuleben. Es muss für ihn aufregend gewesen sein, das Mädchen, das entführt wurde, zu kennen. Zumal kurz zuvor der Fall von Natascha Kampusch in allen Medien war.«
»Ich bekomme gleich Mitleid mit dem Milchbuben«, murmelte Jan Paulsen.
Enna schüttelte genervt den Kopf. »Paulsen, es reicht! Sie gehen mir so was von auf den Wecker mit Ihrer permanent schlechten Laune. Wenn Ihnen die Arbeit nicht schmeckt, melden Sie sich einfach krank. Was halten Sie von dem Vorschlag?«
Jan Paulsen schluckte und schien vollkommen überrascht von Ennas Ausbruch zu sein. Schließlich atmete er tief durch. »Ich bin vielleicht nicht in der besten Stimmung, seit ich hier in Oldenburg bin, das mag sein, aber das heißt noch lange nicht, dass ich keinen Biss mehr habe. Lasst uns einfach weitermachen. Okay?«
Jan Paulsen schaute von Enna zu Pia Sims, aber keine von ihnen verzog eine Miene.
»Verflucht, ja, ich reiß mich zusammen. Reicht das?«