VIERZEHN
Enna horchte, ob die CD, die Elias in seinem Zimmer hörte, noch lief, und rief dann Sarah an.
»Ich habe das Ergebnis gerade bekommen. Du bist dir sicher, dass du es wissen willst?«
»Auf jeden Fall! Sag schon.«
»Lukas ist nicht bei dir?«
»Nein, der spielt gerade in seinem Zimmer mit Lego.«
»André ist nicht der Vater von Lukas.«
Am anderen Ende der Leitung schien Sarah die Luft anzuhalten. Kurz darauf hörte Enna, wie ihre Freundin laut ausatmete. »Also doch! Okay. Jetzt bin ich …« Wieder entstand eine Pause. »… leicht geschockt, auch wenn ich auf genau das Ergebnis gehofft hatte.«
»Du solltest nichts überstürzen, Sarah. Für Lukas ist André der Vater und es würde für ihn eine Welt zusammenbrechen, wenn plötzlich …«
»Verdammt, Enna. Was soll ich denn machen? André zwingt mich doch zu solchen Schritten. Wenn es hart auf hart kommt, bleibt mir nichts anderes übrig.«
»Ja, das verstehe ich doch. Und ich würde es in einer absoluten Zwangslage genauso machen. Trotzdem … lass dir etwas
Zeit, um darüber nachzudenken, und sprich mit Christine darüber.«
»Keine Angst, ich überstürze nichts. Versprochen.«
Enna hörte ihren Sohn rufen. »Sarah, ich muss mal zu Elias. Wir sprechen später noch, ja?«
»Ja, natürlich. Und danke, dass du mir geholfen hast.«
»Sarah, das Thema hatten wir doch schon. Bis später dann.«
Enna lief ins Kinderzimmer, wo Elias verzweifelt vor seinem CD-Player stand und auf den Tasten herumdrückte. »Mama, die CD ist plötzlich ausgegangen und geht nicht wieder an!«
Enna kniete sich vor das Bord, auf dem das Gerät stand, und zog den Netzstecker. Nachdem sie es wieder eingesteckt hatte, probierte sie die verschiedenen Tasten durch. »Sieht nicht gut aus«, sagte sie nach dem dritten Testlauf. »Da müssen wir wohl einen neuen kaufen.«
Elias’ Miene verdunkelte sich. »Haben wir denn so viel Geld, Mama?«
Enna lächelte. »Da bin ich mir ganz sicher. Am besten, wir fahren gleich mal los und versuchen unser Glück. Was meinst du?«
Mit einem Glas Wein setzte sich Enna gegen neun Uhr abends vor den Laptop und lud sich die Tonaufnahme des Gesprächs mit Anne Wagner herunter. Pia Sims hatte weit über eineinhalb Stunden mit ihr gesprochen und sich am Anfang sehr vorsichtig vorgetastet.
»Wieso bist du Polizistin geworden?«, fragte Anne Wagner.
Pia Sims schien zu zögern und sagte schließlich: »Das hat was mit einem Freund zu tun. Kein so richtiger Freund, sondern einer aus meiner damaligen Clique. Sein Vater wurde verhaftet, als wir in der Oberstufe waren. Nur ein paar Tage, dann hatte sich wohl aufgeklärt, dass er versehentlich verdächtigt wurde. Eine Namensverwechselung, wenn ich mich richtig erinnere.
Na ja, auf jeden Fall hat das das Leben der Familie von Grund auf geändert. Natürlich hatten die Nachbarn die Verhaftung mitbekommen und die Freunde und Arbeitskollegen irgendwann auch. Dann passierte wohl das Übliche. Misstrauen, man ging ihnen aus dem Weg, es gab Gerüchte und Andeutungen. Ich will das jetzt hier alles nicht erzählen, aber am Schluss ist die Familie weggezogen und der Freund musste auf eine andere Schule.«
»Kann passieren«, sagte Anne Wagner und klang unbeteiligt.
»Ja, klar. Aber dann hat sich mein Freund …« Pia Sims machte wieder eine kurze Pause. »Ja, er hat sich umgebracht. Ist vom Hochhaus gesprungen. Er hatte keine Chance.«
»Oh Gott! Der Arme. Er hatte doch mit der ganzen Sache nichts zu tun. Und dann macht er …« Nach den Geräuschen zu urteilen atmete Anne Wagner mehrmals schwer ein und aus. »Und das hat dich jetzt dazu gebracht, zur Polizei zu gehen?«
»Ja, klingt komisch, oder?«
»Nein, finde ich nicht.« Nach einer kurzen Pause fuhr Anne Wagner fort: »Kommt es nicht wie überall darauf an, was für Leute den Job machen? Du wirkst nicht auf mich, als ob du eine knallharte Polizistin wärst. Ich meine so eine, der alles egal ist.«
»Danke! Nein, das bin ich wohl nicht und möchte ich auch nicht werden.«
Enna war sich sicher, dass es diesen Freund in Pia Sims’ Leben nie gegeben hatte, dass sie ihn erfunden hatte, um Anne Wagner zum Sprechen zu bringen.
»Ist es nicht schwer, mit so einer Einstellung bei der Polizei zu arbeiten?«, fragte Anne Wagner weiter.
»Ich bin noch ganz am Anfang, frag mich in zehn Jahren noch einmal.« Nach einer kurzen Pause fügte Pia Sims hinzu: »Wenn ich dann noch dabei bin.«
Anne Wagner lachte. »Deine Einstellung gefällt mir.«
Sie unterhielten sich eine Viertelstunde über ihre Träume als Teenager und was daraus geworden war. Schließlich fragte Pia Sims wie beiläufig: »Denkst du oft an Marie?«
Eine Pause entstand. Enna hörte es rascheln, als würde eine Tasse auf dem Tisch hin und her geschoben.
»Nicht mehr so viel wie früher«, sagte Anne Wagner leise.
»Ja, irgendwann muss man mit solchen Sachen abschließen, sonst wird man verrückt«, entgegnete Pia Sims ebenso leise.
»Marie ist … war meine allerbeste Freundin. Wir haben uns geschworen, dass wir immer zusammenbleiben. Es war unfassbar, dass sie so einfach verschwunden ist. Es hat wehgetan. Sehr weh. Eine Zeit lang wusste ich nicht, ob ich ihr das jemals verzeihen würde.«
Enna hielt die Aufnahme an. War es diese Aussage gewesen, die Pia Sims zu ihrer Vermutung gebracht hatte? Mit sehr viel Fantasie konnte man tatsächlich heraushören, dass Anne Wagner davon ausging, dass ihre Freundin noch lebte. Sie machte nicht nur Marie indirekt verantwortlich für ihr Verschwinden, sondern hatte Schwierigkeiten gehabt, ihr zu verzeihen. Für so eindeutig wie Pia Sims hielt Enna die Aussage aber nicht.
Enna ließ die Aufnahme weiterlaufen. Anne Wagner schien nicht aufgefallen zu sein, dass sie womöglich zu viel gesagt hatte. Sie plauderte weiter über ihr Leben, schien aber jeder Frage nach Marie auszuweichen. Erst eine knappe halbe Stunde später, als Enna schon fast die Hoffnung auf weitere interessante Stellen aufgegeben hatte, horchte sie auf. Pia Sims hatte wieder einmal geschickt das Thema auf die verschwundene Freundin gebracht und das mit einer Frage verbunden.
»Marie war immer schon etwas eigen, ein Sturkopf, würde meine Mutter sagen. Wenn es sein musste, hat sie keine Freunde mehr gekannt. Sie hat einfach ihre Sachen durchgezogen. Und wenn sie einmal eine Entscheidung getroffen hatte, konnte man sie nicht davon abbringen. Verrückt, oder?«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, jeder von uns hört doch auf andere Menschen, die ihm wichtig sind. Ist das bei dir nicht auch so?«
»Natürlich. Wenn ich da an meine Mutter und meine Berufswahl denke …«
Enna musste unwillkürlich schmunzeln. Pia Sims war weit geschickter im Umgang mit Menschen, als Enna es ihr zugetraut hatte. Sie ging Risiken ein und hatte auch keine Probleme damit, einer Zeugin nach dem Mund zu reden.
»Sag ich doch. Aber Marie … Keine Chance. Auf die konnte man einreden, wie man wollte. Ein absoluter ostfriesischer Sturkopf. Dabei sollte man denken, dass in dem …« Anne Wagner brach ab und zum ersten Mal hatte Enna das Gefühl, dass die junge Frau meinte, zu weit gegangen zu sein. »Na ja, so war das auf jeden Fall. Aber wir waren ja alle mal Kinder.«
Die nächsten Minuten vergingen wieder mit unverfänglichem Geplauder. Ein Außenstehender hätte das Gefühl haben können, dass die beiden Frauen schon eine Ewigkeit befreundet waren. Kurz vor Ende der Aufnahme kam Anne Wagner doch noch einmal von sich aus auf das für die Ermittlungen wichtige Thema.
»Ich würde Marie … ich meine, dir so gerne helfen. Das Ganze muss doch mal ein Ende haben, oder? Aber man weiß nie so richtig, was man tun und sagen soll. Hast du das schon mal gehabt, diese Zweifel und Sorge um einen Menschen, den man so lieb hatte? Ja, das war eine kindliche Liebe, aber wir beide, Marie und ich, waren wie Schwestern, ach, fast wie eineiige Zwillinge. Ich war erst zehn Jahre alt, als das passierte. Was versteht man schon mit zehn Jahren? Nichts und gar nichts. Das war so verwirrend für mich, so belastend, so schmerzhaft. Und Marie? Ich war so verzweifelt. Kannst du dir das vorstellen?«
Pia Sims antwortete nicht und schien darauf zu warten, dass Anne Wagner weitersprach.
»Mein ganzes Leben war auf den Kopf gestellt. Ich war total leer. Alles wegen Marie, als könnte ich nicht alleine leben, ohne sie. Dabei konnte ich das gut. Ich sitze jetzt ja auch hier und wir reden. Nach so vielen Jahren.« Anne Wagner hielt kurz inne. »Klar, ohne diese Sache wäre mein Leben vielleicht anders verlaufen. Das habe ich mich schon häufig gefragt, wie sonst alles gekommen wäre. In dem Jahr vor dem Abitur, da war es besonders schlimm. Wir, Marie und ich, wollten doch zusammen studieren, das hatten wir uns vorgenommen, zumindest an der gleichen Uni, und zusammen in eine Wohnung ziehen. Daraus ist nichts geworden. Warum das nicht möglich war, habe ich nie verstanden. Nie!«
Anne Wagner verstummte. Nach einer kurzen Pause versuchte Pia Sims wieder, mit ihr ins Gespräch zu kommen, aber ihre Antworten wirkten, als sei sie plötzlich in einer anderen Welt, weit weg und nicht in der Lage, sich zu erinnern.
Enna hörte weiter, bis die Aufnahme abbrach, machte sich weitere Notizen zu den schon geschriebenen und ließ sich zurück ins Sofa fallen. Sie konnte sich weiter vorstellen, dass Anne Wagner mehr über Marie Hansen wusste, als sie ausgesagt hatte. Unter Umständen hatte Marie sie in Geheimnisse eingeweiht, die mit der Entführung zu tun hatten und die bei der zehnjährigen Anne Wagner Schuldgefühle ausgelöst hatten. Diese Schuldgefühle konnten die Ursache dafür sein, dass Anne Wagner sich ihre eigene Welt erschaffen hatte, in der Marie noch am Leben war und es ihr gut ging.
Enna warf einen Blick auf die große Uhr, die auf der Kommode stand. Es war kurz vor elf. Enna entschied sich, die Befragung von Holger Martens am nächsten Abend zu Ende zu hören.