SIEBZEHN
Der Notarzt versorgte den Verletzten und stellte anschließend den Tod von Müllers Begleiter fest. Währenddessen trafen zwei Beamte der örtlichen Kriminalpolizei vor Ort ein, informierten sich zunächst kurz bei Jan Paulsen, bevor sie Enna ansprachen. Sie wies sich als LKA-Ermittlerin aus und bat darum, auf den Staatsanwalt zu warten.
»Ach, den haben Sie auch schon herzitiert?«, fragte der ältere der Osnabrücker Ermittler, ein großer kräftiger Mann in Paulsens Alter, der sich als Roland Moos vorgestellt hatte.
»Kollege Moos, wir hatten wirklich nicht vor, in Ihrem Revier zu wildern. Marco Müller ist in den Fokus unserer Ermittlungen geraten, und als wir ihn befragen wollten, haben sich die Ereignisse überschlagen. Wie ich soeben von einem Oldenburger Kollegen erfahren habe, ist Müller in andere, internationale kriminelle Aktivitäten verwickelt.«
Roland Moos warf ihr einen spöttischen Blick zu. »Kleiner geht’s gerade nicht?«
In diesem Augenblick hielt eine schwarze Limousine vor der Halle. Der Fahrer stieg aus und kam direkt auf sie zu. Noch bevor er sie erreicht hatte, wurde Marco Müller auf einer Trage zum Krankenwagen gebracht. Der Notarzt lief nebenher und hielt einen Infusionsbeutel hoch. Er nickte Enna zu.
Der Mann aus der Limousine trat auf sie zu, nickte einmal in die Runde und wies Roland Moos an, den Notarzt zu befragen.
»Schicken Sie zwei Beamte in das Krankenhaus. Sie sollen den Herrn auf der Trage im Auge behalten«, fügte er hinzu, bevor er sich an Enna wandte und ihr die Hand reichte. »Frau Hauptkommissarin Andersen?«
»Herr Dr. Padberg?«, antwortete Enna. »Können wir uns kurz unter vier Augen unterhalten?«
Staatsanwalt Padberg, ein Mann Mitte vierzig, Maßanzug und glänzende Lederschuhe, zurückgekämmtes dunkles Haar und markante männliche Gesichtszüge, nickte und trat ein paar Schritte zur Seite. Enna folgte ihm.
»Ich habe mit Hauptkommissar Schmidt in Oldenburg gesprochen und bin so weit informiert. Was schlagen Sie vor?«
»Kollege Paulsen hat das Fahrzeug der Täter bereits in die Fahndung gegeben«, begann Enna und ignorierte Padbergs abfälligen Blick, als der Name Paulsen fiel. »Wir sollten die Duisburger Kollegen informieren, auch wenn ich nicht glaube, dass das Auto dort auftauchen wird.«
»Weiter.«
»Solange nicht klar ist, ob Müller durchkommt, sollten wir ihn offiziell sterben lassen. Sie könnten verlautbaren lassen, dass bei einer Auseinandersetzung im Schutzgeldmilieu zwei Männer getötet wurden und nach den Tätern gefahndet wird.«
»Sehr gewagt, Frau Hauptkommissarin«, kommentierte Padberg ihren Vorschlag. »Warten wir ab, was die Ärzte sagen. Ich werde gleich eine Informationssperre verhängen, morgen sehen wir weiter.«
Enna reichte ihm ihre Visitenkarte. »Hier können Sie mich Tag und Nacht erreichen.«
Staatsanwalt Padberg setzte ein professionelles Lächeln auf. »Ich melde mich, falls es notwendig sein sollte.«
»Ich vermute, dass Marco Müller in unseren aktuellen Ermittlungen eine entscheidende Rolle spielt. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich informieren, sobald die Ärzte seinen Gesundheitszustand beurteilen können.«
»Schau’n wir mal«, antwortete er und wandte sich ab.
»Wird er überleben?«, fragte Jan Paulsen, als Enna zu ihm in den Wagen stieg. Der Staatsanwalt hatte sich nach einem kurzen Gespräch mit Roland Moos wieder auf den Weg gemacht und die Kriminaltechniker waren gekommen. Nachdem Jan Paulsens Streifschuss von einem Sanitäter verarztet worden war, waren Enna und er den Ablauf der Ereignisse mehrmals mit Roland Moos durchgegangen, hatten, soweit möglich, die beiden Täter beschrieben und vom Verlauf der Observation berichtet.
»Ich bin keine Ärztin. Kopfverletzungen können manchmal ziemlich gravierende Folgen haben. Ich habe noch kurz mit dem Notarzt sprechen können. Er konnte natürlich noch nicht viel sagen, aber es schien mir, dass er Müller nicht als hoffnungslosen Fall einstuft.«
»Und jetzt?«
»Sie fahren mich zu meinem Auto, ich fahre nach Oldenburg und dann warten wir ab. Der Staatsanwalt schien nicht sehr geneigt zu sein, auf meine Argumente einzugehen.«
»Ich kenne ihn«, murmelte Jan Paulsen und startete den Motor.
Sie schwiegen, bis der Mercedes hinter Ennas Passat hielt.
»Was ich noch sagen wollte«, begann Enna. »Dass Sie geschossen haben, war vollkommen korrekt, und falls Müller überleben sollte, ist es Ihr Verdienst.«
»Das ist doch nicht etwa ein Lob?« Paulsens Stimme hatte wieder einmal den typisch spöttischen Unterton angenommen.
»Wollen Sie ein Lob von mir? Wohl kaum. Sie haben in einer brenzligen Situation schnell und effektiv reagiert. Das ist gut zu wissen. Ich wollte nicht mehr, aber auch nicht weniger sagen.«
Paulsen brummte etwas Unverständliches. Als Enna ihn fragend ansah, murmelte er: »Dann noch einen schönen Sonntag für Sie.«
Enna öffnete die Tür. »Wünsche ich Ihnen auch.«
Kurz nach Mitternacht fuhr Enna auf der A1 Richtung Norden. Nach kurzem Zögern wählte sie die Nummer von Pia Sims. Sie meldete sich nach dem ersten Klingelton.
»Kann ich noch stören?«, fragte Enna.
»Kein Problem! Was ist passiert?«
Enna gab ihr eine Kurzfassung der Ereignisse.
»Und jetzt liegt Marco Müller in einer Osnabrücker Klinik?«
»Ja, aber das ist unser geringstes Problem. Ich fürchte, der Staatsanwalt ist nicht sehr kooperativ in Bezug auf unseren Fall.«
»Ein Dr. Padberg, sagten Sie?«
»Ja.«
»Ich meine, den Namen schon mal gehört zu haben.«
»Über Ihren Onkel?«, fragte Enna vorsichtig nach.
»Vermutlich ja. Vielleicht sollte ich ihn morgen anrufen? Was meinen Sie? Unter Umständen kann er ja Dr. Padberg …« Pia Sims ließ den Gedanken unausgesprochen.
»Das könnte durchaus nützlich sein, Kollegin Sims.«
»Warum auch nicht.« Sie lachte. »Irgendeinen Nutzen muss doch diese lästige Verwandtschaft haben.«
»Dann bleibt mir nur noch, eine gute Nacht zu wünschen. Bis Montag!«
Enna spürte die Müdigkeit in sich aufsteigen. Sie fuhr bei der Raststätte
Dammer Berge
ab und suchte sich einen Parkplatz
in der Nähe des Restaurants, das als Brücke über die Autobahn gebaut war. Mit einem doppelten Espresso setzte sie sich über der Mitte der Fahrbahn ans Fenster. Unter ihr donnerten die Fahrzeuge in beide Richtungen über die A1 und Enna wunderte sich, dass mitten in der Nacht noch so viele Menschen unterwegs waren. Unwillkürlich musste sie an Simon denken und ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Dann stellte sie sich Elias vor, wie er friedlich unten in Lukas’ Stockbett schlief, ahnungslos, welcher Gefahr sie sich heute ausgesetzt hatte. Die Kriminaltechnik hatte acht Kugeln in der Hallenwand hinter ihnen gefunden, fünf davon waren für Paulsen bestimmt gewesen, drei für sie. Dieses Mal hatte sie Glück gehabt und war unverletzt geblieben, aber eine Garantie dafür gab es nicht. Was würde aus Elias werden, wenn sie für längere Zeit im Krankenhaus lag? Und was, wenn …
Enna stand auf und ging schnellen Schrittes zu ihrem Auto. Erst als sie am Steuer saß, atmete sie tief durch. In einer halben Stunde würde sie in ihrem Bett liegen und morgen früh Elias wiedersehen.
»Hat sich mein Großer anständig benommen?«, fragte Enna, nachdem Elias, der ihr gleich entgegengerannt war und ihre Beine lange fest umschlungen hatte, mit Lukas wieder in dessen Zimmer verschwunden war.
»Überhaupt kein Problem«, sagte Sarah lachend. »Die beiden waren um neun Uhr so müde, dass sie freiwillig ins Bett gegangen sind.«
Sarah umarmte Enna. »Alles gut bei dir gelaufen? Du siehst völlig geschafft aus. Komm erst mal rein und trink einen Kaffee.«
Enna fand den Frühstückstisch gedeckt vor, ließ sich seufzend auf einem der Stühle nieder und nahm dankbar die große Tasse Milchkaffee entgegen.
»Wahrscheinlich darfst du mir nicht erzählen, was passiert ist, oder?«
»Sei froh drum«, antwortete Enna. »Ich war außerhalb von Oldenburg in einem nicht so schönen Einsatz.«
»War es gefährlich?«, fragte Sarah entsetzt.
Glücklicherweise stürmten in diesem Augenblick die beiden Jungen in die Küche und fragten lautstark nach einem Kakao mit Sahne. Als sie Sarahs skeptischen Blick bemerkten, fügten sie schnell im Chor ein
bitte
hinzu.
Nach dem ausgiebigen Frühstück half Enna ihrer Freundin beim Aufräumen.
»Du hast mir vorhin nicht mehr geantwortet«, kam Sarah auf ihre Frage zurück. »War es gefährlich?«
»Es ist doch nichts passiert«, wich Enna ihr aus.
Sarah legte das Küchenhandtuch zur Seite. »Also ja.« Sie schüttelte mit entsetzter Miene den Kopf. »Wie hältst du das nur aus? Ich würde wahnsinnig werden vor Angst.«
»Ich bin nun mal Polizistin, Sarah. Was anderes habe ich nicht gelernt.«
»Gibt es denn keinen anderen Job bei der Polizei? Nicht in der Kleiderkammer oder so, aber …«
Enna lachte. »Eine Kleiderkammer. So etwas gibt es bei uns nicht.« Sie wurde ernst. »Eigentlich habe ich in der Abteilung einen recht ruhigen Job, sozusagen rund um die Uhr Akten lesen. Aber in diesem Fall ließ es sich nicht verhindern – wir mussten eingreifen.«
»Und es ist richtig brenzlig geworden?«
»Sarah, das darf ich dir nicht erzählen. Ich bin wieder da und alles ist gut.« Sie umarmte ihre Freundin. »Das ist doch das, was zählt.« In Gedanken fügte sie hinzu:
Zumindest jetzt und heute
.