ACHTZEHN
»Dann eröffne ich mal die neue Woche«, sagte Enna am Montagmorgen zu ihren beiden Kollegen. Jan Paulsen war gerade eingetroffen und hatte sich, mit einer Tasse Kaffee in der Hand, zu Enna und Pia Sims gesellt. »Kollegin Sims weiß bereits über die Vorkommnisse in Osnabrück Bescheid, über die Ermittlungsergebnisse vom Freitag habe ich Kollege Paulsen ebenfalls informiert.«
»Dann können wir ja loslegen«, sagte Jan Paulsen und schickte gleich ein bemühtes Lächeln hinterher.
»Wie geht es Ihrem Kopf?«, fragte Enna.
»Alles gut«, murmelte Paulsen. »Unkraut vergeht nicht.«
Enna nickte und trat an die Tafel. Sie schrieb den Namen
Marco Müller
darauf und kreiste ihn mit einem Rotstift mehrmals ein. »Der Osnabrücker Staatsanwalt scheint nun doch kooperativer, als vorgestern Abend zu vermuten war«, begann Enna und bemerkte Paulsens erstaunte Miene. »Dr. Padberg rief mich gestern am frühen Nachmittag an und hat mir mitgeteilt, dass Müller so weit stabil ist, aber ins künstliche Koma versetzt wurde. Er hat sich eine Hirnprellung zugezogen. Bevor die Ärzte ihn wieder aufwecken können, muss sie erst abklingen. Auf jeden Fall scheint die Chance groß zu sein, dass Müller überlebt und mit Glück auch ansprechbar ist. Dass er offiziell
als tot gilt, war meine Idee, die der Staatsanwalt dankenswerterweise aufgegriffen hat.«
Jan Paulsen hatte seine rechte Hand in die Luft gestreckt. »Eine Frage hätte ich schon dazu. Wie kommt es, dass dieser Schnösel von Staatsanwalt plötzlich seine Meinung geändert hat?«
»Gute Argumente, mein einnehmendes Wesen?«, sagte Enna. »Wer weiß das schon. Wichtig ist doch, dass er mit uns kooperiert.«
Paulsen ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen. »War nur eine Frage. Machen wir einfach weiter.«
»Okay«, nahm Pia Sims den Faden auf. »Sehe ich das richtig, dass wir Müller, auch wenn er wieder aufwachen sollte, nicht befragen dürfen?«
»Nicht ganz. Aktuell ist er offiziell tot. Wenn die Duisburger Killer das schlucken, müssen wir nur noch dafür sorgen, dass es im kriminellen Pädophilen-Sumpf keine Probleme gibt. Voraussetzung wäre sicher, dass sich Müller bereit erklärt, in der Pädophilen-Sache voll und ganz zu kooperieren. Dann könnte er als Kronzeuge fungieren und ins Zeugenschutzprogramm übernommen werden.«
Enna hatte am Sonntagnachmittag ein langes Telefongespräch mit Frieder Schmidt geführt und dabei mit ihm über eine gemeinsame Strategie gegenüber der Staatsanwaltschaft gesprochen. Schmidts Groll auf Enna hatte sich zu dem Zeitpunkt bereits gelegt und er hatte ebenso wie Enna Überlegungen angestellt, wie der Mordanschlag auf Müller zum Vorteil der internationalen Ermittlungen genutzt werden konnte.
»Was ist mit der Mutter?«, fragte Pia Sims.
»Die ist darüber informiert, dass ihr Sohn im Koma liegt und warum die Nachricht über seinen Tod verbreitet wird. Weitere nahe Verwandte hat er nicht.«
»Verdammt, das mit dem Zeugenschutz kann ewig dauern«, fluchte Jan Paulsen. »Diesen Mist kenne ich zur Genüge.«
»Nicht unter diesen Bedingungen«, sagte Pia Sims. »Laut Staatsanwalt ist Müller nicht mehr am Leben. Spätestens wenn er aufwacht, muss es eine schnelle Entscheidung geben.«
»Darauf hoffe ich auch«, fügte Enna hinzu. »Also können wir im Moment nur abwarten und hoffen, dass Müller bald wieder aufwacht.« Sie tippte noch einmal auf Müllers Namen an die Tafel. »Die Frage ist jetzt: Was hat er mit der Entführung von Marie Hansen zu tun?«
»Er war siebzehn damals«, dachte Pia Sims laut nach und blätterte in ihren Unterlagen. »Hier, Hauptschulabschluss, angefangene Lehre als Elektriker. Er hat Anfang Juni Geburtstag, war also fast achtzehn, als Marie verschwunden ist.«
»Arbeitslos?«, fragte Jan Paulsen.
»Er war ein halbes Jahr zuvor aus der Ausbildung geflogen«, bestätigte Pia Sims mit Blick auf ihre Notizen.
»Lassen Sie mich raten: Er hat seine Firma bestohlen«, sagte Jan Paulsen.
»Darüber konnte ich nichts finden, aber sicher wird sich jemand in der Firma erinnern, wenn ich dort anrufe.« Pia Sims richtete sich auf. »Dann fange ich mal an. Mein Internetdurchlauf hat extrem wenig gebracht. Seit fünf Jahren hält sich Marco Müller komplett von sozialen Medien fern. Das ist ungewöhnlich für einen jungen Mann. Ich habe alte Facebook-Einträge von ihm gefunden, die vor dieser Zeit liegen, und ich vermute, dass er sein Profil 2014 gelöscht hat.«
»Und woher wissen wir von den Einträgen?«, fragte Jan Paulsen misstrauisch.
»Das habe ich in den Tiefen des Netzes gefunden. Soll ich das im Detail erklären?«, fragte Pia Sims offen in die Runde.
»Die Ergebnisse reichen uns«, schritt Enna ein, bevor Jan Paulsen antworten konnte. »Was gab es weiter?«
Pia Sims nickte und fuhr fort: »Wie gesagt, ab Anfang 2014 habe ich nichts mehr gefunden. Zuvor nur Facebook. Die üblichen Postings von testosterongesteuerten jungen Männern. Wenig bis gar nicht bekleidete Frauen, übermotorisierte Autos, Verschwörungstheorien und dumme Sprüche.«
»Hochinteressant«, murmelte Jan Paulsen.
»Eigentlich nicht«, entgegnete Pia Sims. »Interessant sind die Personen, mit denen er verbunden war oder von denen ich zumindest vermute, dass er etwas mit ihnen zu tun hatte. Da sein Profil gelöscht ist, kann ich das nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen. Marco Müller hat im Januar 2014 seinen Wohnsitz nach Osnabrück verlegt. Zumindest offiziell. Die Personen, mit denen er in NRW über Social-Media-Kanäle befreundet war, waren Kleinkriminelle. Ich habe viele von ihnen in unserer Datenbank gefunden. Einbruch, Drogen, Körperverletzung.«
»Was bringt uns das jetzt?«, fragte Jan Paulsen, der sich um einen moderaten Ton zu bemühen schien.
»Geduld! Müller war nicht einer der Mitläufer. Wenn ich alle gefundenen Einträge bewerte, komme ich zu dem Schluss, dass er eine Art Anführer war. Als er nach Osnabrück umgezogen ist, fiel die Gruppe auseinander. Bis dahin scheint er sozusagen für Ruhe gesorgt zu haben, ohne ihn haben sich seine ehemaligen Freunde nicht mehr lange gut verstanden.«
»In diese Zeit fallen die Morde in Düsseldorf«, warf Enna ein. »Er sollte als Informant angeworben werden, hat sich aber letztendlich aus der Affäre gezogen. Mein Kollege in Krefeld meinte, er sei ein Laufbursche der Mafia gewesen. Er hielt ihn für erheblich intelligenter, als er sich gab.«
»Laufbursche«, wiederholte Pia Sims. »Dann hat er sich sozusagen ein zweites Standbein aufbauen wollen. Die Ermittlungen kamen ihm vermutlich dazwischen. Das passt in
meine Recherchen zu dem plötzlichen Verschwinden aus dem ursprünglichen Wirkungskreis.«
»Bleibt die Frage, wie er so schnell in Osnabrück Fuß fassen konnte«, sagte Enna und sah Jan Paulsen an. »Ist Ihnen Marco Müller nie aufgefallen?«
»Schutzgeld war nicht mein Bereich. Allerdings scheint er ziemlich unter dem Radar geblieben zu sein. Ich habe am Freitag auch einige Zeit gebraucht, bis ich halbwegs taugliche Informationen über ihn bekommen habe. Letztlich wusste niemand so richtig, für wen der Typ arbeitet, wo er herkommt und so weiter.«
»Er ist aufgestiegen«, sagte Enna mehr zu sich selbst.
»Sie meinen, er hat noch Kontakt zur Mafia?«, fragte Pia Sims.
»Genau. Er hat sich bei seinen Befragungen im Zusammenhang mit den Pizzeria-Morden elegant aus der Affäre gezogen. Vielleicht war er gar kein Laufbursche mehr und schon auf dem Absprung nach oben.«
»Die haben ihn nach Osnabrück versetzt«, sagte Jan Paulsen. »Mit einem klaren Auftrag.«
»Und warum sollte er jetzt getötet werden?«, fragte Pia Sims. »Hat er die Mafia betrogen?«
Jan Paulsen schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Die hätten ihn einfach zu sich herzitiert und dann exekutiert. Bestenfalls in Italien. Das wäre erheblich unauffälliger gewesen als die Aktion in Osnabrück. Die sieht mir eher nach einer persönlichen Abrechnung aus.«
»Gut, gehen wir also davon aus, dass Marco Müller weiter für die ’Ndrangheta gearbeitet hat«, fasste Enna zusammen. »Die Frage ist, warum er trotzdem in den Fokus der internationalen Ermittlungen geraten ist. Ich habe mich noch einmal umgehört, die Mafia agiert normalerweise immer noch nicht im kriminellen Pädophilen-Milieu. Wie passt das zusammen?«
»Vielleicht hat er nach einem Zuverdienst gesucht«, schlug Jan Paulsen vor. »Und die Mafia ist ihm auf die Schliche gekommen …« Er brach ab. »Nein, so weit waren wir ja schon. Sie hätten ihren eigenen Mann niemals vor Ort liquidiert. Es muss einen anderen Grund geben.«
»Können Sie noch einmal Ihre Osnabrücker Quellen anzapfen?«, sprach Enna Jan Paulsen an. »Jetzt, mit den neuen Informationen.«
Jan Paulsen wiegte skeptisch den Kopf. »Der Mann ist tot und das wird sich schnell rumsprechen. Ich fürchte, die Angst geht um. Aber ich versuche es.«
»Gut. Und wir …«, Enna wandte sich an Pia Sims, »… sollten noch einmal mit Imke Hansen sprechen. Wir brauchen mehr Informationen über die Familie Müller, und vor allem über Marco. Hatte er Kontakt zu den Schwestern, wie hat Marie ihn gesehen, was hat sie von ihm gedacht?«
»Ich werde sie gleich anschreiben. In Sydney ist es jetzt früher Abend, vielleicht hat sie ja gleich noch Zeit für uns.«
Jan Paulsen stand auf. »Und ich verabschiede mich nach Osnabrück. Morgen früh um neun?«
Enna nickte. »Wie immer bitte vorsichtig. Ich möchte nicht, dass der Staatsanwalt einen Grund findet, uns doch noch außen vor zu lassen.«
Gegen zehn Uhr kam Pia Sims zu Enna ins Büro. »Imke Hansen hat mir geantwortet. In zehn Minuten können wir sie über Skype erreichen.«
»Klasse. Ich bin gleich bei Ihnen.«
Enna, die dabei war, den Rest der Befragung von Holger Martens anzuhören, stoppte die Aufnahme und machte sich ein paar Notizen. Sie war sich inzwischen sicher, dass Maries ehemaliger Lehrer etwas zu verbergen hatte oder sich in den neun
Jahren so sehr in seine Abwehrhaltung hineingesteigert hatte, dass der Eindruck entstehen musste, er verheimliche etwas.
Enna kam gerade rechtzeitig, als Pia Sims Skype startete und Imke Hansen anrief.
»Guten Abend, Frau Hansen«, begrüßte Pia Sims sie mit einem freundlichen Lächeln. »Vielen Dank, dass Sie ein weiteres Mal mit uns sprechen.«
»Das hatte ich ja angeboten. Haben Sie noch weitere Fragen?«
»Frau Hauptkommissarin Andersen kennen Sie bereits«, sagte Pia Sims und wandte sich zu Enna, um ihr das Gespräch zu übergeben.
»Guten Abend. Wir hatten Sie beim letzten Kontakt schon nach der Familie Müller gefragt. Erinnern Sie sich?«
Imke Hansen nickte. »Ja, natürlich.«
»Wir interessieren uns besonders für Marco Müller. Sie haben ihn uns als schüchtern und zurückhaltend beschrieben.«
»Ja, das ist zumindest meine Erinnerung.«
»Können Sie sich an noch andere Einzelheiten erinnern? Hatte er Kontakt zu Ihnen und Marie, wie wirkte er auf Sie, wie hat er sich Ihnen beiden gegenüber verhalten?«
»Sie haben ihn in Verdacht?«, fragte Imke Hansen erstaunt.
»Nein, dazu wissen wir noch zu wenig über ihn.«
Imke Hansen nickte nachdenklich. »Ja, Marco. Ehrlich gesagt habe ich nach unserem Gespräch immer mal wieder über ihn nachgedacht. Und ja, wir haben doch hin und wieder mit ihm gesprochen. Ich glaube sogar, er hat mit uns Fußball gespielt.« Sie hielt einen Augenblick inne. »Da fällt mir ein, dass Marie zu der Zeit darüber nachgedacht hat, in einem Verein zu spielen. Fußball, meine ich.«
»Und Marco Müller hatte da Erfahrung?«
»Ich meine schon. Er lief auch immer in einem dieser Trikots herum. Irgendein Bundesligaverein in der Nähe von dem Ort, wo er wohnte.«
»Mönchengladbach?«, warf Pia Sims ein.
»Ja, vielleicht. Also, es könnte tatsächlich sein, dass Marie mehr mit ihm zusammen war als ich. Aber dabei ging es garantiert nur um Fußball. Und irgendjemand von uns war immer in der Nähe. Wir durften auch nur zu zweit über die Insel laufen. Marie und ich. Oder halt mit unseren …« Sie zögerte kurz. »… Eltern. Also, da war nichts. Und er war ja auch viele Jahre älter als wir.« Sie stutzte. »Sie vermuten jetzt aber nicht, dass Marco Müller …«
»Wie gesagt, Frau Hansen. Wir sind ganz am Anfang der Ermittlungen. Noch einmal die Frage: Was machte Marco auf Sie für einen Eindruck? Nicht nur damals, sondern vor allem aus heutiger Sicht.«
»Verloren. Er wirkte verloren. Als suche er die ganze Zeit nach etwas. Und, aber das habe ich damals natürlich nicht begriffen, es lag eine unterschwellige Aggressivität in allem, was er machte und sagte.«
Enna horchte auf. »Können Sie das mit der Aggressivität noch etwas ausführlicher schildern?«
»Schwer. Das ist mehr ein Eindruck und natürlich auch aus meiner Erwachsenenperspektive. Als Kind habe ich nicht verstanden, was da in der Familie Müller für ein Klima herrschte.« Sie sog tief Luft ein und atmete langsam wieder aus. »Ich glaube, es war kein Zufall, dass sich Marcos Vater und mein Erzeuger so gut verstanden haben. Beide sind oder waren autoritäre Arschlöcher, die von ihrem Umfeld verlangt haben, dass man ihnen widerspruchslos gehorchte. Der Unterschied zwischen den beiden war, dass Marcos Vater das brutal durchgesetzt hat, während mein Erzeuger uns totgequatscht hat. Der konnte nur bei uns den großen Macker markieren und sich alles erlauben.
Eigentlich ist er eine Memme und zieht beim ersten Gegenwind den Schwanz ein.«
»Brutal durchgesetzt?«, versuchte Enna, das Gespräch wieder auf die Familie Müller zu lenken.
»Er hat ihn geschlagen. Das habe ich selbst gesehen. Ich erinnere mich an mindestens zwei Mal. Das eine Mal war es nur eine kräftige Ohrfeige. Wir haben alle zusammen gegrillt und Marcos Vater hat es überhaupt nicht gekümmert, dass er bei uns zu Gast war. Ich weiß nicht mehr, um was es zwischen Vater und Sohn ging, aber an die Ohrfeige erinnere ich mich. Und das zweite Mal habe ich sie heimlich beobachtet. Da hat er Marco regelrecht zusammengeschlagen.«
»War Marie auch dabei?«
Imke Hansen nickte. »Ja, beide Male. Beim zweiten Mal waren wir alleine im Ort unterwegs und wollten nur kurz bei den Müllers vorbeischauen, als wir Vater und Sohn im Garten beobachtet haben. Wir sind dann aber schnell weggelaufen und haben darüber auch mit niemandem gesprochen.«
»Marco hat sich nicht gewehrt?«, fragte Pia Sims. »Er war immerhin siebzehn.«
»Das weiß ich nicht. Wir waren ja nur am Anfang dabei. Da hat er die Schläge so hingenommen.«
»Wie hat Marie damals darauf reagiert?«, fragte Enna weiter.
»Sie hat geweint, das weiß ich noch. Ich habe sie getröstet, und dann ging es schnell wieder. Aber Marie war immer sehr sensibel. Da war es nichts Besonderes, dass schnell Tränen kamen.«
Enna und Pia Sims versuchten, noch mehr über die Familie Müller und ihren Kontakt zu Hansens zu erfragen, doch Imke Hansen fielen kaum mehr Details ein. Schließlich bedankte sich Enna bei ihr und beendete die Befragung.