ZWANZIG
Als Enna gegen vierzehn Uhr zurück ins Büro kam, fand sie Pia Sims in der gleichen Stellung hinter ihrem Laptop vor, wie sie sie Stunden zuvor verlassen hatte.
»Haben Sie schon etwas gegessen?«, fragte Enna und merkte im gleichen Moment, dass sie wie ihre Mutter klang.
»Keinen Hunger«, murmelte die junge Kollegin.
»Kaffee? Tee? Wasser?«
Pia Sims sah mit leerem Blick auf, schien einen Moment über Ennas Fragen nachzudenken und grinste dann. »Ich weiß, manchmal bin ich wie besessen von der Arbeit. Ich sollte wohl zwischendurch mal eine Pause machen. Und ja, wenn Sie sowieso Kaffee machen, nehme ich auch einen.«
Fünf Minuten später servierte Enna ihrer Kollegin den Kaffee. Sie selbst hatte sich ein Glas Wasser eingeschenkt.
»Sind Sie weitergekommen?«
»Die Visum-Anfrage läuft. Vermutlich dauert das ein bis zwei Tage. Die Fluggesellschaften habe ich angeschrieben. Ich fürchte, wir brauchen da einen Beschluss.«
»Versuchen wir es erst mal so. Ansonsten kümmere ich mich darum.«
»Das wäre gut.« Pia Sims sah auf ihren Notizblock. »Der Vater von Marco Müller ist bei einem Autounfall tödlich
verunglückt. Ich habe die Kollegen vor Ort angerufen. Der Bremsschlauch war gerissen oder hatte ein Loch und Hans Müller ist quasi ungebremst von der Straße abgekommen und auf einen Baum aufgefahren.«
»Kein Verdacht auf Manipulation?«
»Das habe ich den Kollegen auch gefragt, er wusste darüber allerdings nichts, weil er nicht selbst ermittelt hat. Er informiert seinen Kollegen, der mich dann hoffentlich morgen anruft.«
»Bleibt noch der Stellenwechsel von Holger Martens. Jetzt sagen Sie nicht, dass Sie da auch schon dran waren.«
Pia Sims nickte leicht verlegen. »Allerdings bin ich nicht sehr weit gekommen. Datenschutz. An die Personalakte, wenn dort überhaupt etwas hinterlegt ist, kommen wir nicht so einfach ran. Allerdings …« Pia Sims schmunzelte. »Ich habe in Hannover eine freundliche Schulsekretärin am Telefon gehabt. Wir haben über das eine und andere geplaudert, und wenn mich nicht alles täuscht, hatte Martens eine Affäre mit einer Mutter. Es könnte auch sein, dass es nicht nur eine war. Wie gesagt, Datenschutz. Die Schulsekretärin hat Andeutungen gemacht.«
»Interessant. Waren auf der Schulfreizeit nicht auch Mütter dabei?«
»Ja, zwei. Wir haben sie aber noch nicht befragt. Soll ich das nachholen? Wir hatten das ja als nicht so relevant …« Sie hielt inne. »Ach, Sie meinen, das war kein Einzelfall?«
»Haben wir die drei Lehrerinnen, die bei der Schulfreizeit dabei waren, schon befragt?«
»Nein«, antwortete Pia Sims. »Die eine lebt auf Mallorca. Ihre Adresse und Telefonnummer habe ich heute herausgefunden, die anderen beiden arbeiten ja noch in der Schule.«
»Und was hat Holger Martens zu der Nacht, als Marie verschwand, gesagt? Wo war die Aufsicht für die Nacht?«
»Ich habe die Frage gestellt und er ist ausgewichen. Man könne auf solch einer Reise die Kinder nicht permanent im
Blick haben. Damit hat er natürlich recht. Die Kinder durften auch zu zweit ins Dorf, da war auch kein Erwachsener dabei.«
»Geben Sie mir doch die Telefonnummer von der pensionierten Lehrerin. Ich versuche, sie zu erreichen.«
Annette Fischbach meldete sich mit freundlicher Stimme auf Spanisch. Enna stellte sich vor und erklärte ihr Anliegen.
»Woher weiß ich, dass Sie nicht Journalistin sind und für irgendein Schmierblatt arbeiten?«
Enna bat sie, bei der Oldenburger Polizeiinspektion anzurufen und sich von Kriminaldirektor Heinzen bestätigen zu lassen, dass sie LKA-Kommissarin war.
Zehn Minuten später versuchte Enna zum zweiten Mal ihr Glück.
»Haben Sie mit Herrn Heinzen gesprochen?«
»Ja, das habe ich. Entschuldigen Sie mein Misstrauen, aber damals, als die kleine Marie verschwand, haben uns die Journalisten über Monate verfolgt. Was kann ich für Sie tun?«
»Im Grunde genommen habe ich nur zwei Fragen. Die erste betrifft Ihren ehemaligen Kollegen Herrn Martens. Können Sie mir etwas über ihn erzählen?«
»Sie haben ihn in Verdacht?« Als Enna schwieg, fuhr Frau Fischbach fort: »Das dürfen Sie natürlich nicht erzählen. Also gut, Kollege Martens ist oder war damals ein unglaublich engagierter Lehrer. Das war die eine Seite. Menschlich war ich nicht so bei ihm. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Hatte er Affären mit Müttern und Kolleginnen?«, kam Enna direkt auf das Thema zu sprechen, weshalb sie Annette Fischbach angerufen hatte.
Die alte Lehrerin schwieg und Enna war kurz davor nachzufragen, ob sie noch in der Leitung sei, als sie sich leise räusperte. »Wenn Sie es schon wissen … Was soll ich da noch sagen?«
»Wissen Sie, welche Mütter …
betroffen
waren?«
»Das ist lange her und ehrlich gesagt haben mich die Details nicht so interessiert.«
»Wie ist es mit Frau Hansen, der Mutter von Marie?«
»Möglich. Wenn ich mich recht erinnere, war sie eine attraktive Frau. Aber fragen Sie doch lieber meine ehemaligen Kolleginnen. Ich habe mich aus diesem Thema so weit wie nur irgend möglich rausgehalten.«
»Die zweite Frage betrifft die Nacht, in der Marie verschwand. Wir haben natürlich die alten Akten gelesen, aber vielleicht können Sie mir doch etwas dazu sagen. Immerhin waren fünf Erwachsene als Betreuer im Haus und niemandem ist etwas aufgefallen.«
»Wenn Sie die Akten gelesen haben, wissen Sie ja auch, dass ich in dieser Nacht nicht auf der Insel war. Mein Mann musste akut ins Krankenhaus und ich war am Nachmittag, bevor Marie verschwand, zurückgeflogen.«
»Das ist mir bekannt, Frau Fischbach. Ebenso, dass Herr Martens sein Zimmer am Ende von einem der Flure mit den Schülerzimmern hatte.«
Wieder schwieg Annette Fischbach eine Weile, bevor sie zögernd antwortete: »Es gab wohl … Sie wissen ja, dass es die letzte Nacht auf der Insel war, und traditionell gab es da eine, wie soll ich das jetzt nennen, Feier. Etwas Sekt, leise Musik. Natürlich erst, wenn alle Kinder am Schlafen waren.«
»Haben Sie im Nachhinein etwas von dieser Feier gehört?«
»Nein. Das Entsetzen über Maries Verschwinden hat alles überlagert. Die ganze Schule stand unter Schock, und dazu kamen noch die vielen Fragen der Polizei.«
»In den Akten haben wir nichts über eine Feier gefunden. Anscheinend hat niemand gegenüber unseren Kollegen etwas erwähnt.«
»Dazu kann ich nichts sagen. Ich wurde nach dem Abend und der Nacht nicht befragt, weil ich ja Wangerooge schon wieder verlassen hatte.«
Enna wartete bewusst mit der nächsten Frage, in der Hoffnung, dass Annette Fischbach mehr zu der von ihr erwähnten Tradition sagen würde.
»Feier ist eigentlich übertrieben. Man sitzt zusammen und trinkt das eine oder andere Glas. Niemand konnte ahnen, dass ein Kind entführt wird.«
»Ist es auch schon vorgekommen, dass die Betreuer anschließend noch kurz ins Dorf gingen?«
Zum dritten Mal schien Annette Fischbach um eine Antwort zu ringen. »Ich weiß nicht, ob das je vorgekommen ist. Ich hätte da nicht mitgemacht. Aber wenn das mal passieren sollte, würden sicherlich zwei Betreuer im Haus bleiben.«
»Danke, Frau Fischbach. Sie haben mir sehr geholfen.«
Die alte Lehrerin räusperte sich. »Ich wollte aber auf keinen Fall eine meiner ehemaligen Kolleginnen und auch nicht die Mütter, die mitgefahren sind, in irgendeiner Weise … also, belasten.«
»Keine Angst, Frau Fischbach. Das ist nicht der Fall.«
Enna verabschiedete sich von Annette Fischbach und griff nach dem Wasserglas. War es wirklich möglich, dass alle Betreuer das Landschulheim verlassen hatten? Alleine für den Weg bis ins Dorf hätten sie mindestens eine Viertelstunde gebraucht. Und woher hätten die Entführer wissen können, dass kein Betreuer vor Ort war? Nein, der Gedanke war absurd.
Ihr Handy vibrierte. Enna hatte sich den Timer auf fünfzehn Uhr gestellt, um an Elias’ Abholzeit erinnert zu werden. Seufzend stand sie auf, verabschiedete sich von Pia Sims und machte sich auf den Weg zum Kindergarten.
Als Enna über den Parkplatz des Kindergartens lief, sah sie, dass Sarah gerade in denselben einbog. Enna wartete und gemeinsam gingen sie in den Kindergarten.
»Danke noch mal, dass du Elias am Samstag so spontan aufgenommen hast.«
»Lass doch, Enna. Das war und ist selbstverständlich. Ich weiß doch, wie schwer es uns Alleinerziehenden manchmal gemacht wird.«
Enna musste unwillkürlich an die nächsten Tage denken. Der Aufenthalt auf Wangerooge stand an und sie musste dringend Greta anrufen. Elias’ Großmutter hatte schon vor einiger Zeit angeboten, auf ihren Enkel aufzupassen, falls Enna einen Einsatz außerhalb von Oldenburg haben sollte.
»Hast du noch einmal über den Test nachgedacht?«, fragte Enna.
Sarah blieb stehen. »Die ganze Zeit, seitdem ich es weiß. Du hast ja recht, es geht auch um Lukas. Für ihn ist André der Vater und einen anderen werde ich ihm nicht schnitzen können.«
»Sprich doch noch mal mit Christine. Vielleicht ist ja ein Gespräch zwischen André und dir, zusammen mit den Anwälten, der richtige Weg. Er muss doch einsehen, dass er alles verliert, wenn du die Vaterschaft überprüfen lässt.«
»Er wird mir nicht glauben. Niemals. Bevor er das nicht schwarz auf weiß sieht, hält er mich garantiert für eine Lügnerin.«
Enna nickte nachdenklich. Offensichtlich hatte sie keine Vorstellung davon, wie schmutzig Auseinandersetzungen um Kinder werden konnten. »Ich bin wohl die Falsche für dieses Thema. Ich wünsche mir einfach immer nur Frieden, wenn es um Kinder geht.«
Sarah umarmte sie. »Du bist genau die Richtige für mich. Sag mir weiter deine ehrliche Meinung. Das hilft mehr als nach dem Mund reden.«
Um neun Uhr abends sank Enna erschöpft aufs Sofa. Am Nachmittag war sie zusammen mit Elias durch die Geschäfte der Innenstadt gezogen, um für ihn, nachdem er in den letzten Wochen zwei Zentimeter gewachsen war, neue Hosen zu kaufen. Die Suche gestaltete sich wie üblich schwierig, weil Elias so schmal war, dass die meisten Hosen ihm sofort herunterrutschten. Hosenträger lehnte er kategorisch ab und Gürtel waren ihm auch unangenehm. Übrig blieben Hosen, die extrem eng geschnitten waren und nach Möglichkeit noch einen Gummizug im Bund hatten. Mit Mühe hatte sie schließlich drei Hosen gefunden, die halbwegs den Anforderungen entsprachen. Anschließend hatten sie noch nach einem bestimmten Buch von Astrid Lindgren gesucht – »Michel bringt die Welt in Ordnung« – und waren in der zweiten Buchhandlung fündig geworden.
Von Jan Paulsen hatte sie den ganzen Tag nichts gehört. Enna hoffte, dass das ein gutes Zeichen war und Paulsen sich am nächsten Morgen wieder zum Dienst melden würde.
Die neuen Informationen, die sie von Frieder Schmidt bekommen hatte, beschäftigten sie den ganzen Nachmittag und Abend. Marco Müller war vor allem wegen des Verdachts, dass er mit Kinderpornografie handelte, in den Fokus ihrer Ermittlungen gelangt. Wenn Frieder Schmidts Vermutung zutraf, dass Müller erst seit Kurzem in der Szene mitmischte und seine Motivation darüber hinaus ausschließlich geschäftlicher Natur war, wurde es nicht wahrscheinlicher, dass er etwas mit Marie Hansens Verschwinden zu tun hatte. War ihr Ermittlungsansatz, sich auf Marco Müller zu konzentrieren, voreilig gewesen? Für Enna kam erschwerend hinzu, dass sie Müller nicht befragen konnten und sie sich von daher keinen persönlichen Eindruck von dem jungen Mann hatte machen können.
Enna stand auf, um sich ein Glas Weißwein aus der Küche zu holen. Mit dem Glas in der Hand trat sie auf die Terrasse. Die Temperaturen waren inzwischen auf zwölf Grad gesunken, der Wind hatte etwas zugenommen. Enna zog den Reißverschluss ihrer Wolljacke hoch und setzte sich auf einen der Gartenstühle. Der zweite Sommer ohne Simon stand vor der Tür. Ihr Blick wanderte über den Garten, der immer Simons Leidenschaft gewesen war. Alles hier erinnerte Enna an ihren Mann. Er hatte zusammen mit einem befreundeten Gärtner die Bepflanzung geplant und den Garten vor vier Jahren in mühsamer Wochenendarbeit umgestaltet. Am Schluss hatten sie zusammen neue Gartenmöbel ausgesucht und sich einen großen, aber transportablen Grill gekauft. Seit Simons Tod stand er ungenutzt in der Garage.
Enna spürte die Tränen über ihre Wangen laufen. »Ich vermiss dich so, Simon. Wir vermissen dich«, flüsterte sie. »Warum nur? Warum du?«