ZWEIUNDZWANZIG
Als Pia Sims und Jan Paulsen sich pünktlich zurückmeldeten, hatte Enna sich eine Strategie zurechtgelegt.
»Ich will ehrlich sein«, sagte sie. »Mir fällt keine Lösung ein, wie sich die Situation entspannen ließe. Haben Sie Vorschläge?«
Jan Paulsen räusperte sich. »Kollegin Sims und ich haben uns eben zusammengesetzt und die … Meinungsverschiedenheiten geklärt. Ich will nicht ausschließen, dass es vielleicht hin und wieder noch zu kleinen Reibereien kommen könnte, aber die große Linie scheint mir geklärt.« Er warf einen Blick zu Pia Sims. »Habe ich unser Gespräch so richtig zusammengefasst?«
Pia Sims nickte schweigend.
»Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, möchte ich noch kurz etwas zu unserem Team sagen«, fuhr Enna fort. »Hier sitzen drei hochkompetente Kriminalisten an einem Tisch. Und ja, wir haben alle eine unterschiedliche Laufbahn hinter uns und genauso unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Wie immer in einem Team gibt es Eigenarten und Macken. Wenn ich nicht daran glauben würde, dass wir zu einem schlagkräftigen Team zusammenwachsen können, säße ich nicht mehr hier am Tisch. So, und jetzt lösen wir diesen Fall, an dem sich schon hundert Kollegen die Zähne ausgebissen haben.«
Pia Sims wagte ein zurückhaltendes Lächeln, Jan Paulsen nickte ohne erkennbare Gesichtsregung.
Enna nahm den Faden aus der vorangegangenen Berichterstattung wieder auf und fasste noch einmal kurz die Fakten von Paulsens Osnabrück-Einsatz zusammen. Anschließend berichtete sie von ihren und Pia Sims’ Ermittlungsergebnissen. Als sie von dem Spähprogramm auf Anne Wagners Laptop sprach, bemerkte sie, wie Paulsen seiner jungen Kollegin einen anerkennenden Blick zuwarf und kurz den Daumen hob.
»So, das wäre erst mal der Stand«, beendete Enna ihren Bericht. Sie stand auf und stellte sich an die Tafel. »Bisher haben sich bei folgenden Personen Verdachtsmomente aufgetan. Marco Müller, Holger Martens, Enrik Hansen und Anne Wagner. Noch nicht befragt und durchleuchtet haben wir die Familie Ottinga, bei denen die Hansens auf Wangerooge untergekommen sind, und den Herbergsvater des Landschulheims.« Enna schrieb Holger Martens und Enrik Hansen an die Tafel und ergänzte weiter unten die noch zu befragenden Personen auf Wangerooge.
Pia Sims hob ihre Hand. »Wir sind davon ausgegangen, dass Marie Hansen kein Zufallsopfer war, sondern sie bewusst ausgesucht wurde. Was mir bei diesem Ermittlungsansatz fehlt, ist das Motiv. Ich sehe weit und breit keins, das ausschließlich mit Marie zu tun hat und nicht allgemein auf jedes der Mädchen bei der Schulfreizeit zugetroffen hätte.«
Enna schrieb Motiv an die Tafel und unterstrich das Wort.
»Wir sollten die Freundin herholen und sie gründlich befragen«, schlug Jan Paulsen vor. Als Enna zu einer Antwort ansetzte, hob er die Hand und fügte hinzu: »Ja, mir ist klar, dass wir diesen Chat zwischen ihr und der ominösen Person nicht benutzen dürfen, aber ich denke, die Wagner wird uns bei etwas Druck mehr verraten als bisher.«
Enna unterstrich Anne Wagners Namen.
»Müller können wir erst mal aus den bekannten Gründen vergessen«, fuhr Paulsen fort. »Der Lehrer ist mein heißer Kandidat und der Bruder weiß auch irgendwas. Außerdem sollten wir uns dringend auf dieser Insel umsehen.« Er zeigte auf die Tafel. »Befragungen haben wir dort auch noch vorzunehmen.«
»Da bin ich ganz Ihrer Meinung«, sagte Pia Sims.
Enna unterdrückte ein Schmunzeln. »Dann sind wir uns ja einig. Ich habe bereits nach den Fährverbindungen geschaut. Die sind tideabhängig und wechseln täglich. Übermorgen legt die Fähre um acht Uhr dreißig ab. Und die letzte Möglichkeit zurückzukommen wäre um siebzehn Uhr dreißig.«
»Klingt doch gut«, sagte Jan Paulsen und warf einen Blick zu Pia Sims. »Oder, Frau Kollegin?«
»Definitiv«, antwortete Pia Sims. »Ich kann Kontakt zum Kollegen auf der Insel aufnehmen und uns ankündigen. Der Herbergsvater muss informiert werden und die Familie Ottinga ebenfalls.«
»Machen Sie das«, sagte Enna. Sie stand immer noch an der Tafel. »Doch vorher sollten wir Anne Wagner hier befragen. Heute oder morgen?«
»Vielleicht nimmt sie ja heute noch einmal Kontakt zu 12200 auf«, sagte Pia Sims. »Eventuell sehen wir dann klarer, um wen es sich da handelt.«
»Gibt es denn keine Möglichkeit herauszubekommen, wer dahintersteckt?«, fragte Paulsen zu seiner jungen Kollegin gewandt.
Pia Sims schüttelte den Kopf. »Nein, selbst mit richterlichem Beschluss würde es Wochen oder Monate dauern, bis wir den Klarnamen haben beziehungsweise den angegebenen Namen. Und ich komme so auch nicht auf den Server von Skype. Keine Chance.«
»Klasse«, murmelte Paulsen.
»Ich würde auch sagen, dass wir Anne Wagner morgen zu uns holen. Am besten gleich früh. Können Sie …« Enna sah Paulsen an. »… schon ab sieben vor ihrer Wohnung Stellung beziehen, damit sie uns nicht entwischt? Ich komme dann, gleich nachdem ich meinen Sohn in den Kindergarten gebracht habe, auch dorthin. Mit Glück bin ich gegen halb acht da. Falls sich Anne Wagner vorher auf den Weg machen sollte, bringen Sie sie alleine her.«
Paulsen nickte. »Alles klar! Haben wir eigentlich schon die Infos zu Kambodscha und Thailand?«
Pia Sims öffnete ihren Laptop. »Augenblick.« Nach wenigen Sekunden nickte sie. »Gerade gekommen. Es hat sogar eine Fluggesellschaft geantwortet.« Sie klickte mehrfach auf das Touchpad und schien dann die Nachrichten zu lesen. »Treffer!«
»Der Lehrer?«, fragte Jan Paulsen.
»Nein, Enrik Hansen, der Onkel von Marie. Sechsmal Thailand, zweimal Kambodscha. Innerhalb der letzten fünf Jahre. Die anderen Kandidaten haben keine Einträge.« Pia Sims raufte sich die Haare. »Die Kollegen haben ihn allerdings seinerzeit von vorne bis hinten durchleuchtet.« Sie fuhr mit dem Finger über das Touchpad und klickte zweimal. »Er hat für den Abend ein bestätigtes Alibi. Eine Sauftour durch die Auricher Kneipen. Von zwanzig Uhr bis gegen zwei Uhr nachts. Seine Freunde wurden befragt und ein Zeuge, Wirt in einer der Gaststätten, soweit ich das hier sehe.«
»Das kann alles geplant gewesen sein«, wandte Paulsen ein. »Er wusste, dass seine Nichte entführt werden sollte, und hat sich ein Alibi verschafft.«
Enna stand auf. »Wir fahren jetzt nach Aurich«, sagte sie. »Ich spreche alleine mit Enrik Hansen, Sie beide suchen die Mütter auf, die die Fahrt begleitet haben. Wenn anschließend Zeit ist, können Sie noch den Lehrerinnen einen Besuch abstatten. Ich würde gerne wissen, was an dem Abend passiert ist. Wer hat an der Feier teilgenommen? Sind alle Betreuer im Haus geblieben? Wenn nicht, wer hatte zwischen zehn Uhr abends und sechs Uhr morgens die Verantwortung?«
Die Werkstatt lag am Rande eines Gewerbegebiets. Das Gebäude war einfach gehalten, neben der Halle mit zwei Hebebühnen befand sich ein kleiner Büroanbau. Enna betrat die Werkstatt und fragte einen der Mechaniker, wo sie Enrik Hansen finden konnte.
Die Tür des Büros stand offen, der Raum war klein, an zwei Wänden standen Regale, auf denen beschriftete Ordner vor sich hin staubten. Am Fenster stand ein einfacher Schreibtisch, der mit Dokumenten und Schriftstücken überhäuft war. Nur ein kleiner Teil war für die Tastatur des Computers freigeräumt. Als Enna an den Türrahmen klopfte, schaute der Mann hinter dem Bildschirm hervor.
»Herein, wenn’s kein Schneider ist«, sagte er und musterte Enna kurz, bevor er ihr einen Platz vor seinem Schreibtisch anbot. »Oldenburger Nummer? Sie sind sicher nicht wegen Ihrem Auto hier, oder?«
Enna zeigte ihm ihren Ausweis und stellte sich vor.
»Die Chefin höchstpersönlich. Wie komme ich zu der Ehre?«
Enna lächelte und schwieg. Ihr Smartphone hatte sie auf Aufnahme gestellt und hielt es in der Hand, als erwarte sie noch einen Anruf.
»Alles klar. Ich eigne mich immer noch als der böse Mann, der seiner Nichte etwas angetan hat. Habe ich da irgendwas nicht mitbekommen? Wurden die Ermittlungen nicht schon vor über acht Jahren eingestellt?«
»Der Fall ist nicht abgeschlossen. Oder können Sie mir sagen, wo ich Ihre Nichte finden kann?«
Er stöhnte genervt. »Sie sind ja noch spaßiger drauf als Ihre Hiwis.« Er schob die Tastatur zur Seite und sah die Hauptkommissarin herablassend an. »Sie erwarten jetzt aber nicht, dass ich Ihnen auf die Frage antworte?«
»Sonst hätte ich sie sicher nicht gestellt.«
»Dann will ich mal nicht so sein und mich der Staatsmacht beugen. Ich habe keinen Kontakt zu Marie.« Er seufzte theatralisch. »Wie auch? Sie wird ja wohl kaum noch am Leben sein.«
»Sie verreisen gerne?«
Enrik Hansen schien kurz irritiert zu sein, fasste sich aber schnell wieder und setzte ein überhebliches Grinsen auf. »Ja, zumindest in der Beziehung bin ich so richtig deutsch.«
»Ansonsten nicht?«
»Ach, möchten Sie jetzt mit mir plauschen?« Er hob die Arme. »Gern, warum nicht. Die meisten Menschen in diesem schönen Land sind durch und durch spießig. Ist Ihnen das noch nicht aufgefallen?«
»Sie sehen die Dinge also eher locker?«
»So könnte man es ausdrücken. Leben und leben lassen. Ich bin da durchaus tolerant, solange meine Mitmenschen sich mir gegenüber korrekt verhalten.«
»Was nicht immer der Fall ist?«
Er grinste. »Tut mir leid, Frau Kommissarin, Sie müssen sich schon eine andere Strategie ausdenken, um mich zum Reden zu bringen.«
»Kein Problem, Herr Hansen. Ich bin immer für klare Worte zu haben. Dass Sie bereits vor neun Jahren in den Fokus der Ermittlungen geraten sind, haben Sie ja bereits erwähnt.«
»War das eine Frage?«
»Herr Hansen, das war jetzt aber unter Ihrem Niveau. Etwas Geduld wäre angebracht.« Enna legte eine kurze Pause ein und fixierte ihn. »Woher hatten Sie das Kapital, um vor acht Jahren diese Werkstatt aufzumachen? Nach meinen Unterlagen haben Sie das Gebäude mit allen Maschinen und allem sonstigen Inventar vom Vorbesitzer gekauft.«
Enrik Hansen erstarrte für einen Moment, was Enna als geschulter Beobachterin nicht entging. Sein rechtes Augenlid zuckte kurz, bevor er wieder die übliche herablassende Mimik annahm. »Ich habe meine Nichte verkauft. Wollen Sie das hören?«
»Wenn es der Wahrheit entspricht, nehme ich das natürlich so auf.«
»Ich habe das Geld beim Pokern gewonnen. Was halten Sie von dieser Variante?«
Enna schwieg und wartete unbeeindruckt.
»Nein, so war es doch nicht. Und der Lottogewinn war auch schon ein paar Jahre früher. Was bleibt denn da noch? Ein Banküberfall? Nein, zu gefährlich. Drogenkurier? Auch nicht mein Ding. Dann muss ich das Geld wohl gespart haben.« Er nickte mit erhobenem Zeigefinger. »Ja, ich denke, wir kommen der Wahrheit langsam näher. Sie müssen wissen, wir Ostfriesen sind ein sparsames Völkchen. Und Banken gibt es ja nicht nur zum Ausrauben. Wenn man nett mit ihnen spricht, bekommt man das Geld sogar geliehen.«
»Kredit, ja oder nein?«, fragte Enna wie beiläufig.
Er seufzte. »Das ist so lange her, Frau Kommissarin. Jetzt erinnere ich mich. Ich habe mir von einem Kumpel etwas geliehen. Den größten Teil hatte ich allerdings gespart.«
»Name, Adresse.«
»Ich bitte Sie. Das war ein Privatgeschäft. Nichts Offizielles, von wegen Finanzamt und so weiter. Tut mir leid, ich kann Ihnen den Namen nicht geben. Dürfen Sie das überhaupt verlangen?«
»Sie haben sicher noch Belege aus der Zeit, in der Sie das Kapital angespart haben?«
»Das ist über acht Jahre her, Frau Kommissarin. Nein, es gibt keine Belege oder was auch immer.« Er klang inzwischen deutlich genervter als zu Beginn des Gesprächs.
»Vierhundertzwanzigtausend sind keine Summe, die man im Sparstrumpf mit sich herumträgt.«
Pia Sims hatte in den letzten Tagen für die zweite Befragung vorgearbeitet und in mühsamer Kleinarbeit die Fakten gesammelt.
»Was wollen Sie genau von mir? Sind Sie bei der Steuerfahndung oder klären Sie den Mord an meiner Nichte auf?« Enrik Hansen hatte sich leicht nach vorne gebeugt und starrte Enna wütend an. Im nächsten Augenblick schien er zu bemerken, dass er dabei war, die Beherrschung zu verlieren. Er sank wieder in seinen Schreibtischstuhl zurück und lächelte. »Es ist alles mit rechten Dingen zugegangen. Glauben Sie mir, wir sind hier in Deutschland, in dem Land, in dem nichts vor der übermächtigen Staatsmacht verborgen bleibt. Ich habe damals alle Tests bestanden. Niemand hatte etwas zu beanstanden.«
»Zeiten ändern sich«, kommentierte Enna seinen kleinen Vortrag.
»Wollen Sie mir drohen? Ernsthaft? Sie?«
»Herr Hansen, niemand droht hier mit irgendwas.« Enna lächelte und ließ bewusst eine Pause entstehen, bevor sie fortfuhr: »Dann halte ich einmal fest: Die Herkunft des Geldes, das Sie für den Kauf der Werkstatt benötigten, ist ungeklärt. Sie erinnern sich im Moment nicht genau, woher Sie das Geld hatten. Lassen wir das erst mal so stehen. Wie ist es mit Ihren Urlauben in Thailand und Kambodscha? Erinnern Sie sich daran?«
»Was soll diese unverschämte Frage?«
»Ich werte Ihre Antwort einmal als Ja. Können Sie mir noch ein wenig darüber erzählen? Wo Sie waren, was Sie so gemacht haben? Sie haben doch sicherlich eine Reihe von Fotos, die Sie mir zeigen könnten.«
»Werden Sie nicht dreist, Frau Kommissarin. Sie überschreiten gerade …«
»Hauptkommissarin, bitte, Herr Hansen«, unterbrach Enna ihn barsch. »Die Zeit werden Sie ja wohl noch aufbringen können. Also keine Fotos. Schade. Das hätte die Ermittlungen in diese Richtung sicher verkürzen können.«
Enrik Hansen erhob sich. »Meine Zeit ist leider begrenzt. Wir müssen unser nettes Gespräch ein anderes Mal weiterführen.«
Enna blieb ruhig sitzen. »Ein nächstes Mal in dieser netten Runde wird es nicht geben. Sie werden eine offizielle Vorladung nach Oldenburg bekommen. Selbstverständlich vom zuständigen Staatsanwalt.«
Er sank zurück auf seinen Stuhl. »Was wollen Sie jetzt noch von mir? Ich hatte nichts mit dem Verschwinden meiner Nichte zu tun. Nicht das Geringste. Würde ich die Leute, die dafür verantwortlich sind, in die Finger bekommen, gäbe es ein paar Verbrecher weniger auf dieser Welt.«
»Kambodscha ist ein ungewöhnliches Reiseziel«, sagte Enna, ohne auf seine Worte einzugehen.
»Ich stehe weder auf kleine Jungs noch auf kleine Mädchen, falls Sie auf so etwas anspielen. Ich finde das widerlich. Reicht das?«
»Nein, das reicht mir nicht.«
Ärgerlich zog Enrik Hansen die Tastatur und die Maus zu sich her und fing an zu tippen. Mit einem kräftigen Ruck richtete er den Bildschirm so aus, dass Enna sehen konnte, was er aufrief.
Die Fotos waren eindeutig. Hansen posierte mit wenig bekleideten Frauen, im Hintergrund war deutlich das Lokal zu erkennen, in dem die Aufnahmen gemacht worden waren. Beim schnellen Durchklicken sah Enna Selfies, auf denen Hansen nicht immer mit nur einer nackten Frau im Bett posierte.